Skip to main content

Full text of "Studien zur deutschen Philologie : Festgabe der germanistischen Abteilung der 47. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Halle"

See other formats


STUDIEN ZUR 
DEUTSCHEN 
PHILOLOGIE: 
FESTGABE DER... 




9 

Digitized by Google 



Return this book on or before thc 
Lotest Date stampcd below. 

Th.ft, mutilation, and underlining of book. 
IM * d.im..,al from rii* Unlv.r.ity 

University of Illi nois Library 




STUDIEN 



ZUR 



DEUTSCHEN PHILOLOGIE 






JBRARY Gr T.Tt" 

FEB 10 1940 

ÜNIVERSITY OF ILLINOIS 

FESTGABE 

DER 

GElttLVNISTISCHEN ABTEI LI T NG 

DBB 

47. VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN UND SCHULMÄNNER 

IN HALLE 

ZUR BEGRÜSSUNG DARGEBRACHT 
VON 

PHILIPP STRAUCH, AK NOLL) K. HERGER 

FRANZ SAR AN 



mm 



a 



Digitized by Google 



» 



* «4. _ " / 



-V 



Digitized by Google 



STUDIEN 

ZI Ii 

DEUTSCHEN PHILOLOGIE 

TUE L-'.'^r TT 

FEB 10 lb4C 

ÜNIVERSiTV OF ILLINOIS 

FESTGABE 

■ 

HER 

GRRMANISTISC 11 EN ABTEILUNG 

DBB 

47. VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN UND SCHULMÄNNER 

IN HALLE 

zur begrCssung DARGEBRACHT 

VON 

PHILIPP STRAUCH, ARNOLD F, BERGER 

FRANZ SARAN 



HALLE a. d. S. 
VERLAG VON MAX NIEMEYER 
190!} 



/ 



/ 

J 

t 

4 

t 



Digitized by Google 



i 



Inhalt. 

Seite 

Strauch, Philipp, Schürebrand, ein Traktat aus dem Kreise der 

Stral'aburger Gottesfreuude 1 

Berger, Arnold E., Der junge Herder und Winckeltnann .... 83 

Saran, Franz, Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes . . i£2 




I 20 I 029 



Diaitized k 



Digitized by Google 



• * 



Schürebrand. 

« 

Ein Traktat aus dem Kreise der Strafsburger Gottesfreunde 

herausgegeben 



Philipp Strauch. 



Digitized by Google 



Digitized by Googl< 



[A 56 a] Dis ist des heiigen geist.es minneglünsenden 
ganeisterlins schfirebrant. wart geschriben zweien got minnenden 
erbem jungen jungfrouwen under ahzehen joren, die von götte- 
licheme tribende die weit und alle sorgliche stricke der weite 
fluhent und uz eigener minnenricher begirde von gnoden in 5 
sancte Oloren orden furent uz solicheme vürsatze, obe in von 
menschlicher unstetekeit wegen ir erste minnenriche gütwillige 
begirde und gegenwertiger ernst von innan iemer erlöschende 
und abefallende wurde, daz sü doch von ussan müstent gebunden 
bliben zü geistlicher zuht und ordenunge und zu behütsamkeit 10 
irre fünf sinne in Sicherheit irre megetlichen luterkeit, wanne sü 
vorhtent ir selbes krangheit und der bösen geiste valscheit und 
irre üblichen fründe grobheit, die sü gerne zü der weite und 
zü elidier gemahelschaft gezogen hettent, dem sü gar wisliche 
und verwegenliche widerstundent und versprochent die weit und 15 
alle man friliche und fröliche mit der helfe gottes, dar umbe sü 
vil grosser widerwertikeit liden müstent, ebe sü gesigetent und 
in ire begirde erfüllet wurde, das sü nu in steter luterkeit zü 
gotte ewecliche vertruwet und gemehelt sint und ir trurikeit 
verwandelt ist in fröude, das allen gottes fründen gar sicherliche 20 
volget noch irme gesige. das sol billiche sin eine regele und 
forme in nochvolgender bischaft aller menschen, die des heiigen 
geistes minneglünsende ganeisterlin in iren begirden bevindent, 
daz sü die ere gottes minnent und meinent und irre seien selikeit 
uf daz aller sicherste und verdienlicheste gerne erfolgen woltent 25 



1 die ganze Einleitung zeigt in A rote Schrift 2 gnaistlin 2 f. g. 
m. jungf. jungen erbern tochtern 4 und — weite fehlt G sbllieher guter 
mainung und fürsatz 11 lutterikait durch die gewarsamen tugend der 
hailigen gehorsame, wonn 18 f. zu gotte ewccl. nach 19 sint 19 ver- 
machtet 21 nach dem gesig aines ietlichen anstürme« und durchbriiches. di« 
23 gnaiütlin usw. 25 sicherlichest 

1* 



Digitized by Google 



4 



Philipp Strauch 



in steter behütsamkeit durch alles ir leben, die werdent in diser 
gegenwertigen materien vermanet an etteliche mittel, die abe- 
znlegende sint und an ettelielie sorgliche züvelle und schedeliche 
anhange, dar umb die weit und alles zitlich gewerbe billich zu 

5 versmohende ist, und an etteliche gegenwürfe wider alle swer- 
mütikeit, und werdent ouch in diser materiell gemanet an vil 
gnodenricher goben gottes, lipliche und geistliche, dar umbe sü 
got zu lobende hant in rehter dangberkeit und durch sinen willen 
deste gerner lident alle widerwertikeit, trug und getrenge von 

10 innan und von ussan uf die künftige fruht der iemer werenden 
ewigen fröuden, dar an sü ouch manigvaltecliche vermanet 
werdent in diser gegenwertigen materien des Schürebrandes. 

1. [5(3 b] Dis ist ein nochschüreu des minnebrandes, den der 
heiige geist in uwerre seien het angestossen und glünsende ge- 

15 mäht mit dem gnodenrichen inbrünstigen minnenfüre eins heiigen 
guten beginnes und anevanges, in dem ich üch begere zu 
sterckende von rehter gütlicher minnen mit diser vermanungen, 
die ir von uwerme gern inten brütegoume Jhesu Christo nemen 
söllent, das ir deste fruhtberlicher die regele und den orden des 

20 lieben herren sante Franciscus und der heiligen frouwen sanete 
Kloren gehalten kiinnent mit andehtigeme minnenricheme er- 
volgende durch alles uwer leben in demütiger gehorsame, in 
gewilliger armüt und in steter luterkeit libes und gemütes, das 
ouch die obersten drie puncten und artickele sint, die ir und alle 

25 geistliche lüte gelobet hant und schuldig sint zu haltende bi 
dötlicheu sünden und bi ewiger pine und bi Verlust des ewigen 
lebendes und der fröuden des himelriches. wie wol ir nu götte- 
liches wises rotes und tröstliches underscheides gnug hant von 
uwern erwii'digen geistlichen vettern und mütern. so tribet mich 

30 doch minne dar zu, das ich uwer armer unwirdiger schürebrant 
sin müs alse ein armes küchinbübelin, des man underwilent ouch 
wol bedarf in der großen herren höfe, wenne die kröne des 
gesiges wurt niemanne geben umbe einen guten anevang, er 
werde denne ervolget und vollehertet untze an das ende in 

35 rehter stetikeit. 



2 e. schedliche mittel 9 trück Ii) der unusaprechenlicheu wunsamen 
imer w. 12 Sch. also hie nach geschriben stot sprechend also 17 liebe 
32 lies hüfeu? 



d b'y CiTJOgle 



SchNrebrand. 



5 



2. Dis selbe minneglünsende ganeisterlin uwere ersten begir- 
lichen vermessenheit sol nu vürbas enzünden und inbrünstig 
machen der oberster minner Christus Jhesus in dem minne- 
bürnenden füre, do durch er von dem obersten trone der himele 
in menschliche nature her abe getriben wart, die selbe minne 5 
in ouch bant an die sule und in negelte an das crütze. mit dem 
selben minnenfüre er ouch enzunte und hitzecliche bürnende 
mähte die lieben zarten jungen jungfröwelin und minnebrende 
sante Katherine, sante Agnese, sante Agathe, sante Cecilie, sante 
Margrede, sante Barbare, sante Appollonie, sante Dorethe und 10 
die liebe sante Ursele mit irre erlichen gespilschaft und herlichen 
grossen schar der eilf tusent megede und die andern jungfrouwen 
alle, die so gar künliche gestritten haut mit wisen Worten, mit 
vesteme gemüte in manigvaltiger lidender wise, durch daz sü 
die erwirdige kröne der megetlichen luterkeit in keiner wise 15 
übergeben woltent, wenne sü in dem gnodenrichen liehte des 
heiigen geistes wol gesehen hettent, daz sü übertriffet alle wirde- 
keit, lust und ere diser zit. 

3. Megetliche luterkeit ist ein solich gros erwirdig kleinöter, 
daz es billich sol kosten marg und blut und alles das dise zit 20 
geleisten mag, und so vil die anestürme manigvaltiger und grösser 
sint innerliches oder uszer[57 a]liches truekes und anevehtunge 
von unserre eigenen naturen. von dem bösen geiste oder von der 
weite, do durch megetliche luterkeit erstritten mus werden: so 
vil wurt ouch die kröne des gesiges edeler und verdieul icher, 25 
iemer ewicliche vor allem himelschen her glentzende und erliche 
schinende über alle planeten und demente, und dar umbe ver- 
spuwetent ouch und versprocheilt die lieben jungen jungfrouwelin 
kunliche in kraft des heiigen geistes alle smeichelehten süssen 
wort und gelübede der kiinige und der keisere mit großeme 30 
unwerde und versmohende und erschrockent ouch mit in keiner 
abelessigen vorhten oder verzagende abe dem vientlichen gruwe- 
lichen trouwende und scheltende der strengen grimmen zorn- 
mutigen Wüteriche und tyrannen, die sü do gar swere pinigetent 
und marteltent. das sü alles gar gewillecliche und fröliche littent 35 
in vesteme glouben uz großer hitziger inbrünstiger minnen und 



2 nu vürbas] uwer für 17 wol bekannten und g. sü] dis 18 zit 
weit 19 klainet 23 von unserm aiguen flaiscb 27 erechinen und 
lachten, elamente A 28 junckfrowen 33 f. zornigen 36 liebe 



Digitized by Google 



Philipp Strauch 



in gantzer guter volkomener Zuversicht, in dem sü ir geminter 
genialiele Christus Jhesus sterckete und in tröstlichen zu helfe 
kam in allen irme lidende, das so balde vergangen ist, und die 
fruht nu ewecliche weret in allen fröuden, die sich stetekliche 
5 ernuwent iemer ewekliche one ende. 

4. Diese lieben hitzigen inbrünstigen minnebrende und lutern 
megde süllent ir zu gespilen erwelen und zü exempel vür üch 
nemen tegeliche in stetem gegemvurfe und bi in leren veste zü 
blibende in dem rufte uwers geminneten und mit minnesamer 

10 langmütikeit vil frühte samein in dem durchgange diser zer- 
genglichen kurtzen zit, die ir ewicliche mit in nießen söllent, 
und flissent üch der tilgende, dar uf uwer orden gestiftet ist und 
üch uwere regele wiset und ir ouch hie noch geschriben vindent, 
daz ouch uwer meinunge was, do ir des ordens begertent, welre 

15 leige widerwertikeit, drug oder getrenge von innan oder von 
ussan dar durch uf üch vellet: des süllent ir in zit und in ewikeit 
wol ergetzet werden von uwerme geminten. wenne er sine Mut 
nüt enlot, er kummet in zü helfe, so sü in nöten sint, als ir wol 
befundent in uwerme ersten anesturme und st rite, den ir haben 

20 müstent mit uwem fründen, daz ir üch der weite erwertent und 
den hohen edeln schätz, das wirdige kleinöter, megetliche luter- 
keit, erstrittent und beschirmetent, dar umbe es üch billiche 
deste werder sin sol und mit herzen ewicliche dar zü geneiget 
sin, das ir es in eren haltent mit behütsamkeit uw T erre fünf sinne 

25 noch uwers ordens regele und Statuten. 

5. Also ir vil lyhte nu wol wissen mügent und dicke von 
Matth, c. 25 den lerem gehört hant , wie das heiige ewangelium seit ein 

glichniße von zehen jungfrowen, der worent fünf wise, und 
hieltent ire ampellen geziert vol oleyes, und do der brütegoum 
30 kam, do vant er sü wachende und fürte sü mit ime in zü der 
frolichen wurtschaft, und die andern fünfe worent dorehte und 
worent der ampellen und des oleies unahtsam und wurdent vor 
der türen besloßen, [57 b] daz sü nit hin in kummen möhtent 



4 in 5 ende] in zü nemender stetter fröd imer me un alles ungevell 

4 die — 5 ende von anderer Hand (Nicolaus von Laufen?) nachgetragen A 

5 eruuwet .4 9 mit mit beginnt C 15 trück 16 vallent 21 megtlich' 
24 mit grosser b. 25 noch — Statuten von anderer Hand (Nicolaus von 
Laufen?) nachgetragen A Statuten] gesetz 2(> mügent — 8, 9 (hinder)sten 
fehlen C durch Blattverlust 



Digitized by Google 



Schüre brand. 



7 



mit dem brütegoume. dise selben fünf dorehten megede bezeichent 
alle die witsweiffigen jungfrouwen, die ires eigenen willen sint 
und in der weite iren niderlos und he wonuuge halten welleut 
und doch meinent luter und kusche zu blibende. die sint in eime 
gar sorglicheme unsicherme State und gehörent in der dorehteu 
niegede zale, und so in got sine bevintliche gnode underzühet 
und die gruwelichen bekorungen sü anestiirment, so stont sü in 
irme eigenen willen on alle meisterschaft, die sü zu behutsainkeit 
twingen soltent, und verfallent ir vil gar swerliehe und werdent 
verruchte gnodelose menschen, und darumbe so fröwent üch mit 
friiuden und sint fiölich und fro und lobent got mit großer 
dangberkeit, daz er üch zu solicher fruhtberer behutsamkeit 
gerüflet het und verbunden sint zu ewigeme lebende in die zale 
der uzerwelten fiünde gottes. 

6. Ach, geminnete gemahele und brut gottes. sider ir durch 
uwers geminten willen mit siner helfe meinent der weite und 
allem weltlicheme züvalle einen frien urlop zu gebende und üch 
ouch gentzliche verzigen habent alles lustes und trostes diser 
zit, so kerent uwer minne und uwer neiglicheit von allen zer- 
genglichen irdenschen creaturen, do ir kein reht zu haut noch 
uwer nüt ensint und üch zu liebe niemer niügent werden in 
friden uwer conciencien: wenne sante Franciscus, sante Dominicus, 
sante Augustinus und die heiigen vettere alle hant ire samenungen 
und brüderschaft uz dem heiigen geiste gefundiert und gestiftet 
uf gemeinsame und uffe einmütekeit und uffe luter armüt on alle 
sunderheit und eigenschaft zu lebende und soltent haben der 
apposteln leben, einen gemeinen seckel, einen gemeinen koche- 



2 wittswaiffen 3 u. ire wonunge fehlt 5 State] wessen 6 und] 
won 7 in] uf 9 vallen 10 und danimbe — 14 gottes] hie by sigcn 
gewarnet alle erbere got mynende menschen, die da gern ain lutter kunsch 
leben haben wöUen got und siner wirdigen matter zu eren, wonn menschliche 
nattur ist also gar grosslich genaigt zu allen gebresten, das niement im selbs 
getruwen tarf noch ensol dekaines vermugens in aller gattwilliger vermessen- 
hait usserthalb des ge waren schirmes und verdienlichen sichern bandes der 
hailigen gehorsame, die da ist ain veste starcke mur wider all anstiirm des 
Wasen gaistes, der da dick angesiget und sigloss machet die aigenwilligen 
besitzer irs beheblichen grundes mit sinen manigfaltigen tusentl istigen für- 
wurfen und anstürmen, also och da vor [5,21/7*.] geschriben stat in dissem 
gegenwärtigen cappitell 15 ach lieben gemächlinen u. brutt 17 allen 
weltlichen züvellen 23/*. s. u. br.] samlungen u. die örden 26 halten 



Philipp Strauch 



hafen, einen gemeinen tisch und eine gemeine kleidunge zu irre 
liplichen notdurft one alle iiberflüssikeit. 

7. Und der altvattere meinunge ist nüt gewesen, das einer 
sol riebe sin und vil jcrlieher gülte und barschaft haben in siner 

5 gewalt und der andere nüt, und daz einer solle wol gessen und 
der andere übele gefien und einer sölle vil guter trabten haben 
und der ander nüt sölle haben, und doch in einer brüdersehaft 
und under ebne dache und obe eime tische initenander wandeln, 
daz leider in disen hindersten ziten gar gewönlich worden ist. 

10 got erbarme es, das man also gar vil sehilhender blinden in den 
witen kutten und under den swartzen wilen vindet, die man 
ouch leider in dem strengen vegefüre und eitel iche in der iemer- \ 
werenden hellescben pine sehende wurt, also zu vörhtende ist. 
got welle es mit sinre erbermede wenden und f ür[58 ajkummen 

15 und gebe allen geordenten ergebenen personen mit den aposteln 
den heiigen geist, der sü lere die worheit bekennen und das 
sicherste erwelen in lutere armut on alle eigenschaft! 

8. Xu ist sante Kloren orden sunderliche vür andere örden 
uzgenomenlicher gestiftet uf ein ernsthaft behutsam leben und 

20 uf ein gruntliches abegon und verzihen allen Misten diser zit und 
ergetzenlicheit der weite in gebruchende der fünf sinne in 
rehter innikeit und einikeit und lidiger abegescheidenheit. also 
toten, die in gölte begraben sint und irre naturen nüt nie leben 
söllent, wolte sich under den ir keine verfleeken und bemosigen 

25 mit dem vergiftigen unkrute der eigenschaft oder annemmelicheit, 
daz sü unsicher machete ewiges lebendes, daz were in wol zu 
verbiinnende und grözliche zu erbarmende, daz sü söliche grölte 
strangheit und betwüngnitJe ires ordens vergebene one alle fruht 
liden müstent und dar zu ewiger hellescher pine sich versehende 



1 zii — 2 Iiberflüssikeit fehlt 2 one a. ii. von anderer Hand (XicoLtus 
von Laufen ?) nachgetragen A 3 Und — 4 sin] Nit daz ainer rieh »y 4 f. 
in sinera g. habe 5 nüt enhabe essen 6 der — sölle fehlt kost 1 icher tr. 
vor im h. 7 nüt 8. h.j convent epis nit genug 8 obe fehlt initenander 
wandeln | in gemeinschaft zu samen verbunden sint und by anandern wonent 
und wandten müssent und sollen 10 sch. hl.] l)odenlosspr gittaeck 13 helle 
also — ist fehlt 14 die gute gottes 15 g. erg. gaistlichen p. hailigen a. 
17 eigensch. und noweasigem gesucht Li; e. und nowessigkait und geaücht C. 
Vgl. Nr. SO am Schiufa, Lesa. 20 verziechen 21 gehruchung 22 und 1. 
abegesch. fehlt 23 vergraben 27 vergunen 28 des 29 ewiger — 
9, 1 sin] unsicher sin ewiger fröden in Zuversicht der hellischen pin 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



9 



und wartende sin. do vor ir üch mit flisse hüten süllent! das 
rote ich üch in gantzen truwen. und ouch were es, das uwere 
frünt üch zu uwere liplichen notdurft versehende wurdent mit 
ettewaz jerlicher gülte, die selbe gülte süllent ir lidecliche u£ 
geben uwerre eptischin oder einre andern frouwen uwerre 5 
swestern mit rote der eptissin, das üch die uwere notdurft do 
von gebe, und süllent ir keine eigenschaft dar ane haben, das 
gelt noch uwerme willen in zu nemende und us zu gebende oder 
es in uwerre gewalt zu behaltende mit besitzunge uwers herzen, 
ouch sol üch begnügen mit der gemeinen spise uwers reventores 10 
und conventes one alle sundere trahte, die wile ir gesaut sint. 
unser herre, der Daniel spisete under den louwen zu Babelone 
und sant Anthonie und andere sine frünt in der wüste durch die 
wilden tier und durch die vogele, der kan es üch ouch gar wol 
lüstlich gemachen, so aber ir siech werdent, so süllent ir üch 15 
loUen uwerre eptissin und uwerre pllegerin, der üch die eptissin 
bevilhet, in rehter gehorsame, so wurt üch alles uwer leben 
fruhtber und nütze in dem strengen lidende uwers geminneten 
herren Jhesu Christi, der durch uwern willen arm und eilende 
was und nackent und blos an dem heiigen crütze hing und so o 0 
vil eigenschaft nüt haben wolte, do er sin verwundetes houbet 
in siner sterbenden not ane geneigen mühte. 

9. Ach liebe min clorerin, als üch got gerüü'et het zu der 
aller abegescheidensten lidigesten armiit und gehorsame, do durch 
ir ewig leben und das riche gottes ervolgen mügent, und ir us 95 
rote des heiligen geistes mit Marien Magdalenen den aller besten 
teil hant erwelet, der üch niemer sol benommen werden, so 
blibent ouch mit ir vor uwers geminneten füssen sitzende in 
rehter lidikeit und in minnenricher gelossenheit in allem dem, 
daz von innan oder von ussen iemer uf üch gevallen mag, und ;J0 
wartent siner [58 b| gnoden mit eime verlüuckende uwers eigenen 
willen, den ir ime ouch uf gegeben hant, und lont üch nienran 
zü keiner sundern wisen ziehen, daz uwere oberste Meisterschaft 
nüt minnet noch meinet, die sol üch ouch an gottes stat ver- 



9 haben 10 nch] uns begnügen reventers 1 1 des conventes sunder- 
hait der trachten 12 unser herre — 15 gemachen unten am Rande nach- 
getragen von der bekannten bessernden Hand A 12 unser her Jhesus Christus 
13 Anthonius 20 was und vil mangels und gebresten laid und heiigen 
fehlt 22 gelannen 23 Ach hertz lieben klarerin 24 aller fmchtperesten 
ledigesten abgeschaidenhait und armüt 25 ewiges 29 minnenr.J innerlicher 



Digitized by Google 



10 



Philipp Strauch 



entwürfen alse Maria Magdalena von gotte gegen Marthen ver- 
cntwurtet wart, do sü Martha ouch wolte zu sorgveltekeit und 
bekiimberuLsse gezogen haben von irnie inbrünstigen ininnenden 
ernste, lident üch ouch senttmütecliche in allen misse velligen 
5 wisen und arg wonigen suchen, das ir Iiieinannes ampar oder 
gelesse verrihtent oder andent in verdriessender wise, so blibent 
ir in steteme friden, daz got in üch wonet und ir in ime 
ewecliche. 

10. Ach liebe junge gottes eliche gemahele, so ir anesehent 
10 mit uwerre minnenrichen bescheidenheit alle löufl'e diser sorg- 
lichen zit, wie kindesch ir noch danne sint, so mögent ir doch 
wol von insprechende des heiigen geistes mercken und verston: 
alles, das die weit und die weltlichen hertzen süchent und be- 
gerent, minnent und meinent, das ist also gar eine verblendete 

15 affenheit und eine große dorheit , vermüschet mit vil großes 
unfruhtberes lidendes und widerwertikeit, do noch sü verzereut 
zit, kraft und sinne in allen irme ungeriiwigeme vehtende und 
ringende, do durch in ire begirde gar selten erfüllet wurt oder 
von hertzen fro mögent werden, das sol mich und üch und alle 

20 geistliche personell, die sich zu gotte verbunden hant, billiche 
trösten und gestercken in gantzer guter fröudenricher Zuversicht, 
das wir uns von minnen deste frölicher künnent geliden und 
gelassen in alleme trucke und getrenge und ellendeme senende, 
do durch uns volget daz riche gottes und große iemer werende 

25 ewige fruht und hie in zit vil friden und fröuden, so der geminte 
siner eilenden senenden brüte dicke innerliche und verborgenliche 
scheucket, daz sü alles lidendes vergiftet und sü duncket, das 
großer fröude uf ertliche mit ensige oder ie wurde in keinem 
menschen alse die gottes brüte dicke befindent in geiste und in 

30 naturen. 

11. Uwer geminneter eman und gemahele Jhesus, der liep- 
liche lüstliche jüngeling und kripfeknabe, sin ewiger himelscher 
vatter, der heiige geist sin wiser rotgebe, die almehtige drivalti- 
keit. gewaltiger ewiger got, aller creaturen schöpf er, und sine 



3 und minnendeu 5 ampt ü Acli lieben jungerin gottes gemachlin 
10 uwcrn iuderalichen b. 11 doch] nochtcnn H verblinte 15 abnemende 
kurtze thorheit v. und versteckt IG noch] durch 17 f. vehtenden ringen 
20 g. gotmyneude p. 21 fröudenr. fehlt 23 allen trücken 29 brat en- 
pfindet 32 krippenknab 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



11 



wirdige liebe müter Maria, der liebe herre sante Franciscus und 
die liebe heiige frouwe saute Klore, den ir üch geopfert und 
gegeben haut und zu in verbunden sint, das sü an uwernie ende 
und an dem jüngesten tage uwer schirm und helfe .sin söllent 
vor allen widersachen der bösen geiste und irnie gespenste, das 5 
ir us diseme eilende in das ewige leben von in mit genosseme 
gefürt söllent werden — : [59 a] dar umbe süllent sü ouch hie 
in zit uwer gewönlicher steter gegen wui*f sin in allen uwern 
Übungen und zukeren in sunderlicher minne und ineinungen sü 
zu erende und ane zu rüffende, do noch alle die heiigen und 10 
hochgezit, die tegeliche durch daz jor gefallent, die süllent ir 
ouch eren noch uwers ordens gewonheit, alse üch der briefer 
wiset. 

12. Tribet üch nu uwer minne vürbas zu keime andern 
heiigen, den ir mit sunderme dienst e gerne wellent eren, daz 15 
mügent ir ouch tuon one bilige beseßenheit und eigenschaft in 
partigen, do mitte man die heiigen groslicher smehet, denne man 
sü eret; also in etlichen klöstern sich die nunnen partigent und 
gegen enander sich teilent und die eine parte heissent baptisterin, 
so heissent die ander parte ewangelisterin, und ieweder parte 20 
wil die andere mit irme heiigen überkiben in vil ungeordenter 
zornmütiger biliger geberde und ampar one alle gütliche minne 
und meinunge. ach got der verkerten unkristenen heidenschen 
wisen, do mitte der tüfel etliche geistliche lüte verblendet und 
verstricket, daz sü die große fruht der betwüngniße und gehör- 20 
same ires ordens so gar schedeliche verlierent und doch wenent 
die heiigen so grosliche eren und ir ewecliche gemessen mit 
sölicher vientlicher bilikeit! got durch sine erbermde behüte uwer 
lieben erberen andehtigen swestern ewecliche dar vor! Amen. 



1 liebe fehlt Maria die gnadenrich hailig junckfrow 4 helfer 5 
geiste — 7 werden] gaisteu mit aim gnädigen urtail in sicherhait ewig» lebens 
uud binielLscber friklen 7 /". sülleu oeb ir hie iu z. sy zu uwerem gewon- 
lichen g. haben in 10 f. und alle die liochzit 11 [tegeliche] durch d. 
gantz jor 14 myn und naiglichait 15 mit andern sundren diensten 
16 bilige fehlt 19 wider an andern ainen partigen 20 andern parteu 
und des gelich und iew. partty 22 biliger— ampar] kibilcber (B; kyblicher 
C) blegriger (ß; biegiger C) ungelawtenheit 23 verhertetten unkristeulichen 
24 tufel] Dow geist geistliche fehlt 24 /. und verstricket fehlt 27 so gar 
gr- zu e. 28 kipikait B; kybikait C 29 Amen fehlt 



Digitized by Google 



12 



Philipp Strauch 



13. Ach liebe junge klorerin. der tusentlistige ist gar ver- 
flissen allen guten somen zu verhonende und die fruht zu ver- 
derbende, wo er weis ein ernsthaft erber behutsam leben, alse 
uwer rloster von ussan schinet, do seget der tüfel gar gerne sin 

5 unkrut in mit solicher unfridelicher zweigunge und Widerparten, 
beschehe daz under üch iemer, do vor got sige, so tunt es lüter- 
liche durch got und durch alle die grosse früntliche truwe und 
minne, die ich in gotte zu üch habe, und henckent üch an keine 
parte, wanne der tüfel ist ir banerherre und houbetman und 

10 füret sü under siner rassebaner von einer Sünden zu der anderen 
alse blindelingen in die ewige helle, wanne in allen widerparten 
ist rassen und kriegen, vigentschaft, nid und has, hochfart und 
zorn, daz alles dotsünde ist und in die ewige helle gehört, des 
die lieben heiigen mit sache sin wellent noch sin kein ere habent, 

15 also süliche dorehte verblendete widerparten wenent, die menge- 
lichen zu irre neiglicheit twingen wellent und mit niemanne in 
keiner brüderlicher glicheit ston, und scheiden! alsus der heiigen 
minnenriche geselleschaft hie uf ertriche mit ungünstiger ein- 
rihtikeit von enander, die doch in himelriche in alleme friden 

20 ewecliche vereinbert sint, wenne ir gröste wirdikeit und ere ist 
einmütiger fride und fröude in dem heiigen geiste und gemein- 
same einmütekeit in brüderlicher truwen und grundelose demüte- 
keit, daz keinre [59 b] begert ob dem andern zu sinde. in solicher 
minnesamer demütiger einmütiger glicheit ouch alle münche und 

25 nunnen gegenenauder ston soltent, do mitte ouch die heiigen 
grosliche geeret wurdent, daz sü in ire zale der iemer werenden 
ewigen fröudeii komen möhtent, 

14. Ach liebe klarerin, sider üch got zu solicher verdien- 
licher wirdikeit gerüffet het, daz ir üch durch sineu willen der 

1 lieben jungen 1 f. geflissen 3 erber leben und ain b. 1. 4- orden 
der boss gaist ustc. 5 zwaiung widerparttyen G gescheh inier in uwerm 
kloster das 7 und — 8 habe fehlt 10 sineui raissbaner von — anderen 
von der bekannten bessernden Hand eingefügt A zu der] in die 15 menge- 
liehen — 17 ston von der bekannten bessernden Hand nachgetragen über ur- 
sprünglicheni , aber ausgestrichenem nuweut wellen daz man iren heiigen er- 
höbe und des andern wellent sü keine guode haben .4 16 zu — 17 stonj zu 
iren (irer C) torheiten (torecht C) zu (fehlt C) ziechen (znchent C) und mit 
niement in k. brüderlichen gl. wellent frid haben 18 ungünstigen (so!) ein- 
rihtikeit von der bekannten Hand ans ungunste geändert A; hie uf ertlich 
von au andern mit nidbiestigem Ungunst und mit ungelossner aintrechtigkait 
22 grundlosser 27 k. m.J küment 28 lieben 



Digitized by Google 



Selnirel>r;ui<l. 



13 



weite und alles natürlichen lnstes und trostes verzigen liant mit 
vürsihtiger minnenricher vermessenheit sin gevangener zu sinde, 
also lange ir lebent, gewillecliche und gern zii lidende alle 
strangheit und betwüngnisse des ordens und maniger leige willen 
brechen und töden der naturen: ach! so verlierent die groMe 5 
fruhtbere arbeit nüt mit so gar dorehter unred elidier bilicher 
kibekeit umbe der heilgen wirdikeit zu zanckende und zu 
kriegende, daz in kein ere nüt enist. befelhent die sache und 
alle Sachen gotte und uwern obern in rehter lidiger zu gründe 
gelossenheit. daz rote ich üch in allen truwen und bitte es üch 10 
mit gantzeme ernste, wenne unser herre het alle heiligen über 
menschliche sinne und verston geordent und ieglicheme sunder- 
liche gerüffet zu dem grote, als er in haben wil und es iu dem 
beginne mit siner ewigen gütlichen wisheit ane gesehen het, und 
sü hant alle dem rufte gottes gefolget, daz ieglicher in sime 15 
rufte vor gotte ewicliche gewirdiget und geeret ist in volle- 
komeneme niessen aller friiuden in rehter getruwer minnesanier 
einmütikeit, daz sü ouch von uns begerent und unserre Zukunft 
mit fröuden wartent, daz wir ouch in ire zale mit in vereiniget 
siillent werden in volleme niessende aller fröuden. des süllent ir 20 
üch billiche fröwen in gantzer guter wolgetruwender fröuden- 
richer ziiversiht. 

15. Ach liebe min fründin, wissent, uwer orden ist in allen 
landen alse verlümuntet und verrümet, daz die frouwen iewelten 
von meuglicheme ein also gar gilt erber wort hant und alle ire 25 
wisen in singende und in lesende und in alleme ußewendigenie 
schine der menige also gar wol gevellet, daz in groslich zu ver- 
bannende were, daz sü mit solichen unfruhtberen schedelichen 
bilden sich liessent den tüfel bekümbern und irren der gnoden- 
richen influsse des heilgen geistes und aller guter göttelicher 30 



5 brechen» todc A 6 bilicher fehlt 10 a. gottlichen tr. 10 und 

— 11 ernste fehlt 12 veretouj Vernunft ieglicheme fehlt 13 und ab er 
es 15 sü fehlt 17 mynsamkeit und e. 21 fröudenr.j fröllicber. 23 

— 29 bekümbernj Ach lieben myne fründin, wissent uwer orden sant Ciaren 
ist in allen landen also vernimt mit ain Hüllichen glitten landen, das den 
frowen grusslich zii vergünen were, das ir kaine sich Hess mit süllichen schäd- 
lichen unfmehtperen bilden den bösen gaist bekümeru 23 f uwer— ver- 
minet von der bekannten Hand nachträglich eingeschaltet A 24 v'liuuutet 
oder v'lümütet A nach frouwen : uwers conventea ausgestrichen A 25 hant 
ausgestrichen und dann wieder von der bekannten Hand nachgetragen A 



Digitized by Google 



u 



Philipp Stranch 



gegenwürfe, do zu sü also gar vil guter geschicketheit hant dar 
umbe mögent ir gerne in ir zale und geselleschaft sin! haltent 
üch früntliche und frideliche in minnesamer einmütikeit und sint 
gutig und frolich und nit surheilig und gent keinre uwer hertze 
ö sunderliche zu vil, die uwers grundes nüt enist. 

10. Uwerre eptissin und uwerre priorin und wele üch 
meistern und re[60 ajgieren sol, den süllent ir gehorsam sin 
gcwillecliche und froliche in allen sachen underwörfenliche und 
dienstberliche also uwene liplichen müter, und also lange ir ein 

10 novicie sint und lerendes bedörfent, so künnent ir keine bessere 
übunge tun, die gotte löbelicher sige und üch fruhtberer, denne 
das ir üch mit ernste zu der lere kerent, und obe es üch ettewaz 
sure wurt an der erste, daz sol üch uwer geminneter w T ol er- 
getzen, wenne er sinen novicien lieimeliche gar vil gutes tut mit 

15 innerlicheme bevintlicheme tröste hertzen und seien, geistes und 
naturen in vil übernatürlicher fröudenricher fröuden alse den 
altvettern vil beschiht und besehenen ist, daz ire büchere sagent. 

17. Ach versmoherin der weite, wie hant ir so gar wisliche 
und kündecliche gewehsselt mit rote des heiigen geistes, daz ir 

20 die irdenschen zergenglichen creaturen hant übergeben umbe den 
ewigen schöpf er himelriches und ertriches, mit dem üch ouch 
billiche wol sol begnügen, daz ir keinen jomer noch senen niemer 
sollen t gewinnen noch dem frömden gute der zitlichen dinge, die 
uwer nüt ensint noch kein reht dar zu hant! der Schöpfer aller 

25 creaturen ist uwer eigen, zu dem süllent ir uwer hertze mit 
gantzer begirden lidecliche keren one alles ufsehen der weltlichen 
hertzen gewerbe, 6be joch ir keins bi üch were in geistlicheme 
schine. uwers eigenen gutes, des minneclichen jüngelinges und 
kripfeknaben, unsers lieben herren .Tliesu Christi söllent ir üch 

90 rehte wol genieten und üch dicke mit ime ergetzen und in er- 
wirdecliche enpfohen und früntliche zu üch laden in dem heiigen 
sacramente, also dicke er üch mit ordenunge werden mag und 
es gewönlich ist under den erberesten swestern uwers conventes, 
alse üch uwer pflegeriu und der bihter rötet, und haltent daz 



1 also] all 2 gespilschaft 8 f. u. n. d.J unverdrossenlich 9 m. 
und der gegenwürtigkait gott^a 12 mit flisa und ernst ettewaz fehlt 
17 geschiht u. geschehen die b. an vil enden von inen 8. 19 wol kunen- 
lich mit] us 22 kain belangen noch 29 krippenknaben hertzlieben 
31 und — laden fehlt 34 bicht vatter 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



15 



mittel on alle angenomene sundere wisen, die nüt gewönlich sint 
under den erberesten uwern swestern, den ir alle wegen t volgen 
söllent in rehter geloßenheit und in demütiger gehorsame. 

18. In dem chore söllent ir under uwern lieben andehtigen 
erbern swestern in gegenwertikeit gottes und der heiigen engele 5 
daz götliche ampt und uwer siben zit begon noch gewonheit und 
Statuten uwers ordens und mit fröuden die engele verwesen in 
gantzer guter fröudenricher znversiht, das sü uwera gesang und 
uwer gebet gar fruhtberliche uf tragent vür den göttelichen an- 
blig und ersetzent und erfüllent mit irre engelschen wirdikeit, 10 
waz an üch gebristet an andacht, an minnen, an ernste oder an 
nüt könnende, wenne singen und lesen iu gehorsame daz ist gar 
ein gros heilig fruhtber werg, das uz dem heiigen geiste geordent 
und gefundiert ist zu eime himelschen psalterien- und seitenspile, 
das gotte und alleme himelschen here gar löbelich und geneme 15 
ist von lutern reinen hertzen, und obe ir die wort nüt verstont, 
so verstet es aber got und die heiligen engele, die do gegen- 
wertig sint. haltent alleine uwer hertze lidig mit uf gerihteter 
begirde zü gotte in luterre einfaltiger guter meinunge noch 
uwerme vermögende. 20 

19. [60 b] Noch einre ieglichen zit oder sus in dem tage, so 
ir müssig sint und nüt dörfent dem convente warten und gehor- 
sam sin, so söllent ir haben ein stetes minnekosen und heimelich 
gespreche us züvallenden eigenen Worten uwers innerlichen 
grundes one alle gemähte erdihtete gebet und züsamene geleite 25 
wort mit uwerme gemahele und gespuntzen Jhesu Christo, also 
üch der heiige geist gar vü bas ge wisen und geleren kan denne 
ich und alle creaturen. bereitent ime alleine stat in üch mit 
rehter lidikeit und verstelent üch nuwent dicke heimeliche mit 
ime zu kammern und zü winckele von der menige und von aller 30 
manigvaltikeit, wenne üch zit und stunde werden mag, und irrent 



3 gehorsamikait alle zit i lieben a. e. fehlt 6 daz g. a. und fehlt 
6 f. und st. fehlt 8 guter] steter 10 verdienlichait 13 von 14 ist nach 
der andächtigen figur Davides psaltieren 20 hier schliefst in A Iii. 60 a, 
in BC (in A nur ausgefallen, weil der Raum versagte? es ist schon am Schlufs 
der Seite engere Schrift zu konstatieren) folgt noch: als David vor der arck 
des himelbrotes mit siner harpfen jubeliert und sprang, das allain ain figur 
was des lebendigen himelbrotes, das wir teglichen nutzen und niessen in dem 
hailigen sacrament, vgl 2 Reg. 6,5.16 23 ir mit versamletten gemftt h. 
25 gedieht gemachete 28 die stat 81 m. und verbildung uwer fünf sinn 



Digitized by Google 



16 



Philipp Strauch 



got nüt sines werckes an ücli mit uwern eigenen angenomenen 
wisen und ufsetzen, die ir von ordens wegen nüt schuldig sint. 

20. Noch dem innerlichen minnekosende und güttelicheme 
gespreche mügent ir üch ermundern mit gemeineme ussewendigeme 

5 gebet te: ein vigilie oder die siben psalmen penitenciales oder 
etliche andere gebet do üch got zu vermant und üch merren 
andaht bringet, doch alles one besitzunge und eigenschaft; so 
got ein anders von üch haben wil, daz denne die gewonheit nüt 
uwer conciencie verirre und entfride! dar nach lesent etteliche 

10 lerliche materiell, die üch manent zu merre begirde und zu 
neherme inkere, und wenne ir des alles urdrützig und müde 
werdent, so würckent ettewaz usserliches werckes mit den henden 
zu einem behelfe und ergetzunge uwerre naturen, und wenne 
üch alle gegenwürfe underzogen werdent, so blibent bi üch selben 

15 stille und swigende noch der wisen lüte gewonheit und hörent 
ouch uwern geminneten reden und nement sines insprechendes 
war, also uns der prophete leret. 

21. Die wort und das insprechen gottes kan kein mensche 
niemer rehte verston, der zu manigvaltig ist in sinen wisen und 

20 zu vil sehendes het uf die creaturen, wie er sich den lüten in 
getrage und geliebe mit sinnelicher behagenheit und anehange, 
daz gar gewönlich ist under vil geistlicher lüte. do vor ir üch 
mit flisse hüten siillent, sider üch got die grosse gnode geton 
het, daz ir von rninnen sin gevangener sin wellent mit dem libe 

25 und der weite dot sint und ouch nüt irresoles noch anhanges 
haut noch haben dörfent mit uwern liplichen fründen, wenne sü 
üch mit gesessen sint vil zu überlouft'ende. dar umbe so machent 
üch selber ouch keinen anhang mit den frömeden und haltent 
uwer hertze bi üch in dem eloster und hant kein sehen har us 

30 mit keinre leige uzwirglicher unlidikeit oder bekümbernisse. mit 
grosseme flisse siillent ir üch halten abegescheiden, lidig, innig 
und einig, do zu ir verbunden sint und uwer orden dar uf 
fundieret ist, so werdent ir kürtzliche vil grosser früudenricher 
wunder von gotte bevindende, wenne er milte, riche und barm- 



1 in uch 5 ein v.] au vigilinen 6 /. üch — bringet] uwer myu und ernst 
zu nimet und gerailtet wirt 9 uwerre A concieucien, n getilgt A] convent! 
11 ink. und grösserni andacht 25 noch anh. fehlt 26 dörfent — 28 frömeden] 
bedürfen , wann ir uch alles anhanges uwer lipl. fründ vertröst und verzigen 
hand. dar uinb entechlohen och uch aller ander frümder personen 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



17 



hertzig ist allen sinen gefangenen, die sich der weite verzigen 
hant. er wil alle creaturen gegen im verwesen mit tusentvaltigeme 
bezalende alles darbendes. 

22. [61 a] Eine minnenriche getruwe gehorsame brnt des 
geminneten müs haben langmütekeit, das sü ires geminneten 5 
getulteclicke und fröliehe beite und warte on alle swermutikeit, 
so der geminnete under wilen enweg get und der brüte, siner 
minnerin, underzühet allen trost und sussikeit, das alle ir hitzige 
inbrünstige begirde und minne erlöschet und erkaltet, daz sü 
alles daz verdrüßet waz sü gesiht oder gehört und ir alle inflüße 10 
und gegenwürfe enpfallent und ir alle ire lüstlichen andehtigen 
minnenrichen zükere und gewönlichen gebet unsmeglich und 
urdrützig werdent: so müs sü vesteclich striten und vehten mit 
rehter demütiger geloßenheit wider alle ungeordente swermutikeit, 
wenne es dem gnodenrichen edeln aller obersten himelischen 15 
künige gar ungemesse und unerlich ist, das er ein swermütig 
ungeloßen muleht bluntzenkar und einen unwurschen zerblegeten 
bloterkopf haben sölle zü einer gemaheln und efrouwen in sime 
ewigen himelschen künigriche. 

23. Ach liebe vermessene minnerin des gemiuten und lieber 20 
nuwegeborner westerbar und novicie, nement uwers grundes war, 
so ir swermütig sint in der naturen, waz die sache sige, und 
werent üch ir mit allen den gegenwürfen, die üch do wider 
gehelfen mögen t. daz ist eine sunderliche grosse verdienliche 
tugent und erliche ritterschaft vor alleme himelschen here, die 25 
uwer geminneter grösliche priset und lobet in eime fröuden- 
richen glorierende, des ir mit ime und mit allen uzerwelten 
ewecliche gebruchen söllent, do von ouch uwer nature hie in zit 
grösliche gestercket wurt und üch enpfenglich machent des 
heiigen geistes inflüsse und aller liehtrichen göttelichen gnoden 30 
und sussikeit, so ir wolgemüt und fröliehe sint von innan in 
rehter stiller gesohstkeit von ussan. 



2 in A, lies ir der Welt ? 3 darbens und torens und mangels der 
zitlichen gelüsten 5 gem. an erster Stelle] hcren 6 get. und lang- 
mutigklich und fr. Hf ir h. i. beg ] ir hitz und inbrunstigkait 12 f. un- 
schmackend und unlustig w. und urdr. 17 einen nachgetragen A 19 küngk- 
lichen tron mit himclischer gezierd durchglentzet 20 lieben vermessnen m. 
20 und — 21 novicie fehlt 24 grosse fehlt 27 glorierend bertzen uch 
mit im u. allen 29 uch] och machent (sc. wurt); machet BC 31 sössi- 
keit] enpfintliches trostes in] mit 32 gesatzheit 

2 



Digitized by Google 



18 



Philipp Strauch 



24. So üch uwere versumete zit und aller uwer gebreste 
wurt vürgehebt in gruwelicher grosser swermütikeit eins ver- 
zwifelndes und verzagendes, so werent üch ir kreftecliche mit 
der erbermde gottes und gedenckent, daz sin heiiges wirdiges 

5 verdienen hundert tusent weite sünde alse lihtecliche zu ver- 
zihende het und bezalen mag alse eine einigeste sünde, und 
bildent in üch den Schocher an dem crütze, die ebrecherin und 
andere grosse sündere, die er gar richliche begobet und bcgnodet 
het, und habent ein gut getruwen zu gotte und nieinent alleine 

10 sin lop und sin ere unbetrogenliche und worhaftecliche vür alles 
des uwem in zit und in ewikeit. so werdent ir sunder zwifel in 
uwerre naturen gr6sliche getröstet und erfrouwet in gantzer 
guter Zuversicht, daz ir billiche aller swermutikeit vergessen!. 

25. So uwere begirde in swermütigeme senende stot noch 
15 der gnoden, die ir versumet hant und noch gerne ervolgen 

woltent, und üch bejomert, daz ir nüt erlühtet sint alse andere 
grosse gottesfründe und begnodete menschen, dem [61 b] wider- 
stont in uwerme gründe ernstliche und sehetzent üch sin alzü 
mole unwirdig alsus sprechende mit hertzen und mit munde: 

20 1 herre Jhesu Christe, min lieber geminneter, were ich aller diner 
gnoden alse wirdig also dine liebe müter und alles himelsches 
her, nochdeune wolte ich sin gerne darben dinem eilenden tode 
zü eren. sus darbe ich sin gar billiche von mines manigv altigen 
grossen gebresten wegen, din lop und din ere begere ich vür 

25 alles des minen in zit und in ewikeit'. hie mitte überwindent ir 
ouch uwer swermütekeit, dar zü üch volget grosse verdienliche 
gnode durch die demütikeit. 

26. So ir müssent uwern eigenen willen brechen und uwern 
lüsten abegon und ettewaz werckes wider uwere nature üben, 

30 uwere alte gewonheit lossen und nuwer wisen beginnen, daz üch 
Sachet zü swermütikeit, do gent üch verwegenliche in uwerme 
geminten zü eren, der üch es wol sol ergetzen, und gedenckent, 
daz alles liden und widerwertekeit diser zit gar kurtz ist und 
die fruht ewecliche weret, so wurt uwer nature billiche fro und 

35 frölich und frouwet sich mit fröuden, daz üch keine swer- 
mütikeit geschaden mag. 



1 Nr. 24 fehlt C 9 menient A; nement B 15 erfüllen 17 dem 
— 18 und] des 20 f. d. enpfintlichen trostlichen gaben also 21 Maria 
din 1. m. 22 dinem heiligen liden und dinem e. t. 



Digitized by Google 



Schlirebrand. 



19 



27. Was ungeordentes lustes ir ie hant ingeslunden an 
kleidern, an kleinötern, an gespilschefte, an ergetzenlichem 
gonde oder stonde, an besehssenheit der creaturen, an müt- 
willigeme gebruche uwerre fünf sinne, und alle ungeordente 
neiglicheit uwers herzen, daz müs alles her wider uz sweren 5 
mit manigeme eilenden, smertzenlichen tode der naturen, daz 
ouch die fruhtberste büsse und besserunge ist. waz swermutikeit 
üch dar us entspringet, daz ist eine sunderliche heilsame salbe, 
do mitte uwer geminneter üch ertzenen und heilen wil von allen 
süntlichen mosen und gebresten. dar umbe machent es üch selber 10 
fruhtber mit getultiger langmütikeit ! 

28. So ein swermütiges eilendes senen in üch nf stot noch 
weltlicheme tröste, noch natürlicher fröuden, noch ettelicher 
creaturen, noch zitlichem gute, noch üppiger eren, noch un- 
geordenteme luste, oder war noch uwer nature einen senenden 15 
jomer gewinnet, daz nüt luter got ist, ach! so schetzent die 
unreine sorgliche vergift und die bittere galle des manigvaltigen 
lidendes, truckes und getrenges, do mitte es alles vermüschet ist, 
die betrogenheit des schines, den ungetruwen Ion der weite, die 
unstetikeit der löuffe, das unfrideliche bissen und nagen uwerre 20 
conciencien, die unsichere künftige zit, daz ir sterben müssen^ 
und alle eilende sorgliche durchgenge dis zergenglichen armen 
lebendes! das widersieht üch billiche allen ingetragenen lust 
und trost der weite in eime gantzen versmohende, daz üch keine 
ungeordente swermutikeit in solicher senunge und jomerkeit des 25 
heiigen geistes noch siner gnodenrichen inflüsse niemer ge- 
irren mag. 

29. [62 a] So uwere nature ane vellet grosser unmnt und 
swermutikeit ettelicher personen halp, die üch widerzeme und 
unlüstlich sint in allen iren wisen und gelessen und ettewaz von 30 
in getrucket und getrenget werdent von innan oder von ussan, 
ach! so machent es üch selber fruhtber und nütze in dem 
wirdigen lidende und verdienende uwers geminneten gemaheln 
Jhesu Christi, daz ir es in üch behabent on alle zornmütige 
clagebere usbrüche und bildent in üch und gedenckent, wie gar 35 
senftmütecliche und getultecliche in grosser niinnen er üch und 



2 f. ergetzlicher gnad oder Standes 17 unraineu zergangklichen 
Borgklichen 18 alles] also B 23 kurtzen leb. 26 noch s. gu. fehlt 
34 behalten. 34/! zornm. clageb. nachgetragen A 35 usbrechung 

2* 



Digitized by Google 



20 



Philipp Strauch 



alle widerspenige menschen so gar demütecliche lidet in irre 
grossen unbekanten undanckberkeit und sich ouch leit in mensch- 
licher naturen, das er durchehtet und gepiniget wolte werden 
von den valschen rihtern Pylato, Herode, Cayphe, Anne und von 
5 dem ungetruwen verreter Judas — und die andern vigentlichen 
Wüteriche und tyrannen, die in verspützetent und verspuwetent 
und ime alle unere erbuttent und ime groß manigvaltig pinlich 
liden und den bittern dot ane totent: das lidiget uwere nature 
billiche von aller swermütekeit und untroste, das ir in geiste 

10 und in naturen erfröwet werdent und gute zuversiht gewinnent 
in demütiger langmütiger getult. 

30. So üch mit grosser swermütikeit ein senender zwifel 
und eine ungeordente vorhte in vellet und üch duncket, das 
alles uwer leben in tünde und in lossende gotte ungefellich und 

15 ungeneme sige und üch sige ein sache zu ewiger verdümnisse, 
ach ! so schöpfent usser dem burnen siner grundelosen erbermede 
mit der Cananeschen heidenin ein minnenriches getruwen und 
glouben und ein fröliches ufopfern und ufgeben uwern lip und 
uwere sele und alles uwer tun und lossen gelessenliche in sinen 

20 gewalt, alsus sprechende: 'min geminter lieber herre Jhesus 
Christus, tu mir an sele und an libe hie in zit und ewecliche 
noch erbermede, waz dir aller liebest und löbelichest sige. 
hilf mir, daz dir alleine keine unere von mir niemer erbotten 
werde!': üch wart sunder zwifel von gotte gegeben bekantnisse 

25 und underscheit alles uwers lebendes in gnoden und in minnen, 
daz üch alle swermütikeit und missetrost verwandelt und ver- 
kert wurt in ein minnenriches fröudenriches hoffen in gantzer 
guter zuversiht. 



2 gr. undanckperen unb. undancknemekaiten und sweren Bünden 5 vigentl.J 
widerzemen 6 verspützetent] verspotenten B; verspotten C 7 enbnten 
10 f. gew. und aller menschen gebresten und unlustliche geberd und geless 
dester mynsamklicher und frnchtperlicher geliden knnnent in langm. swigender 
gedult und mit fridsamen hertzen 15 ungeneme] widerzem sige e. s.] 
aachet 16 us brunen 17 Cannaneischen frowen 18 geloben uwer 

19 uwere fehlt 20 g. us aim demütigen grund also spr. mit der haidinen 

20 f. Jh. Chr. ich bin nit wirdig der brot, ich begere allain mit den klainen 
hUndlin der brosmen die da niderfallen von der heren tisch (vgl. Matth. 15,27> 
und darumb tu 22 noch erbermede nachgetragen Ä 24 üch — gegeben] 
und zwifel nit der here uwer geminter tut uch gnad als och der haidinen, 
das uch geben wirt 25 liechtricher undersch. in gn. und in m. fehlt 
28 güter] wol getruwender 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



21 



81. So üch anevallent etteliche ussere liden, betrüpnisse 
von uwerme nehsten, stroffunge uwere obern, misseval aller 
uwerre wercke, siech tage und krangheit des libes, innerliche 
angestberkeit und vorhte, daz man uwern siechtagen oder andere 
uwere wise mit urdrutze lide und mit urteile und verdrieße dar 5 
uf valle, verlust oder mangel des gutes und des gunstes uwerre 
liebsten fründe, widerdries in der nature und von den creaturen, 
weierleige daz ist verschuldet oder unverschuldet, daz üch eine 
sache ist zu swermütikeit, so legent alleine abe waz üch ent- 
fridet in der conziencien und frouwent üch uwere unschulde und 10 
der künftigen ewigen selikeit und tragent alles mittel uf uwern 
geminneten, alsus sprechende: 'min aller liebester brütegoum 
herre Jhesu Christe, dis widerwertige getrenge ist des nüt wert, 
daz ich dir es opfern getörre, mache dir es löbeliche und mir 
fruhtber in dime heiigen [62 b] wirdigen verdienende, wenne ich 15 
es gerne dir zu eren liden wil und alles daz du von mir gelitten 
wilt haben' — : sunder zwifel so wurt üch alles liden ein minnen- 
richer trost und süssikeit und aller ussewendiger liplicher trost 
ein indewendig liden und verdriessen von rehter minnen. 

32. Nüt lont üch den bösen geist niemer kein kräng houbt 20 
gemachen mit keiner ungeordenten verirreten conziencien! ebe 

ir joch wol von krangheit in ettewaz sweren gebresten vallent 
und uwere gute vermessenheit übertrettent, so lont es üch zühant 
leit sin und blibent nüt dar uffe mit keime langen swermütigen 
kifelnde. getruwent uwerme geininten! er ist foul grundeloser 25 
erbermede, er lot es balde versünet sin mit grossen züvallenden 
nützen und frühten, daz ir deste demütiger und deste minnen- 
richer werdent und uwer kleinheit und unvermögenheit deste 
bas bekennent und mit uwerre besserlichen bekerde noch 
lute und sage des heiigen ewangelies alles himelsches her er- 30 
frouwent. Lu 

33. Lidigent uwer hertze von aller anklebelichen behangen- 
heit der creaturen und eigenschaft zitliches gefelles und nutzes, 



1 1. and betr. 2 u. nehsten] den lüten 2 f. 0. in missfeligem schetzen 
aller nwer werck 3 und] oder 5 wisen verdrossenbait 6 zitlichen 
gutes 11 selikeit] frncht die uch volget durch sölliche widerwertigkait und 
getreng nwenn A 12 brütegoum fehlt 14 es dir mir fehlt 17 s. 
zwifel fehlt 20 kein fehlt 21 machen ob 22 unfürsichtiger kr. 

swerer 25 kiflen 29 bekerden A; bekerd ßC 30 ewangeliü, so auch 
sonst 32 hertzen ankleblichait und behangenheit 33 nutzes] gewerbes 



Digitized by Google 



22 



Philipp Stranch 



daz der geminnete möge sine werg in üch gewircken noch sinem 
willen, alse er wol weis, waz üch zugehört, wenne wir nüt alle 
gliche gerüffet sint noch gezogen werdent. wil er üch ziehen 
durch swermutikeit, daz müssent ir uz liden in rehter gelossen- 

5 heit also lange er wil. wenne alle büchelin und minnebriefe, 
alle bredigen, alle bihter, alle lerer, alle artzote und alle crea- 
turen mügent üch des nit vor gesin mit keinem ergetzenlichen 
tröste, uwer geminter herre, der ein meister ist aller künste und 
wisheit, der kan es üch verwandeln in bittere mirre und galle, 

10 alse lange er wil, und weis, daz ir von allen mosen gelütert 
sint und der ewigen himelschen honigwaben enpfenglich werdent. 
dar umbe so gent üch frilich in sinen willen, so ist üch alles 
liden und swermutikeit deste lihter und fruhtberer und werdent 
vil deste e lidig mit grossen fröudenrichen fröuden. 

15 34. In allen uwern swermütigen lidenden trücken und ge- 
trengen söllent ir üch gesten und uwer gemüte uf erheben mit 
gemeiteme fröudenrichen gloriierende, daz der ewige himelsche 
künig, Schöpfer aller creaturen, uwer geminneter gemahele und 
vertruweter eman ist, dem ir rehte gemehelliche truwen leisten 

20 süllent, sinem armüte, sinem eilende, siner versmehte noch zä 
volgende hie in zit in aller glicheit noch uwerme vermügende, 
so werdent ir ouch glicheit mit ime habende in den iemer 
werenden ewigen fröuden. nu schetzent daz eine gegen dem 
andern, wie gar kleine und kurtz ist alles liden und arbeit diser 

25 zit und die fruht so gar unsprechenliche und übersinneliche gros 
und iemerewig: sicher das tröstet üch billiche in allen uwerme 
darbende und lidende, daz ir [G3 a] es deste gerner liden söllent 
one alle swermutikeit, alse üch der widemebrief raanet zu aller 
nehst hie noch geschriben. 

30 H5. Der aller edelste schöne jüngeling, jungher Jhesus genant 
Cristus, des ewigen himelschen vatters eingeborner sun, Marien 
der lutern reinen megede kint, gewaltiger herre himelriches und 

1 f. noch s. w. fehlt 5 f. [minnejbrief und br. 6 und fehlt 8 herre] 
gemachel Jhesus 9 alles vcrw. bitterre A 12 nach willen: und in das 
würcken sines ellenmeutes der erden, das och an vil menschen Sachet zu 
swermüttigkait. das machent uch selb fruchtper und licht in demütiger 
gelassenhait und behütsamkait vor aller zornmütiger ungedult und ergerlichen 
ussbrüchen der geswenden Worten und geeben ungestümen sitten 14 fröudenr.] 
gnadenrieben 17 fr.J frolichem 19 r. gemachelschaft und eliche trüw 
25 und übers, gr.] gros über all sinnlich Vernunft 28 alse — 29 geschriben 
fehlt 31 eingeborner fehlt 32 reinen fehlt gew. obrester h. 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



23 



ertliches, dem ir vertruwet und gemehelt sint zu" der heiligen e 
und ir ime zu widemen und zu estüre gegeben und ufgelossen 
hant uweren eigenen willen und alle fröde, trost, lust und ere 
der weite und aller creaturen in dem respons Kegnum mundi: 
der selbe aller edelste jungherre. uwer geminter brütegoum 5 
.Thesus Christus gebe üch widerumbe zu niorgengobe, zü widemen 
und zü estüre einen munt voul götteliches lobes one alle über- 
flüssige, unfruhtbere wort, ein hertze foul jubilierender fröuden 
und senender begirde sins liebesten willen on alle unfruhtbere 
bilde und behangenheit der creaturen, eine sele foul befintliches 10 
gottes one alle besessenheit und verbildunge zitliches kumbers, 
einen gesunden lip one alle böse glüste und neiglicheit zu der 
weite, einen demutigen gebesserlichen wandel one alle trege 
abelessikeit in dem gottes dienste, einen geordenten ernst on 
alle witsweiffikeit uwerre fünf sinne, ein versamelt geniüte wol 15 
geschicket zü allen inflüssen des heiligen geistes, einen geist der 
götlichen wisheit und stercke, der üch helfe alle untugende 
miden mit ervolgende aller tugende, do durch ir verdienen t die 
fruht, die der selbe uwer geminneter gemahele Jhesus Christus 
gelobet het in dem widembriefe des heiigen ewangelies üch und 20 
allen den, die durch sinen willen lont hus, brüder, swester, Ak 
vatter oder miiter, wip oder kint oder acker, die söllent dar 
umbe enpfohen hundertvaltigen Ion und besitzen ewig leben, des 
ir und alle geistliche ergebene gottes gemaheln versichert 
werdent, die iren orden begerent flissecliche zü haltende, dem 25 
sü an gottes stat verbunden sint und gelobet hant gehorsame, 
küschikeit und armüt, daz sint ouch die pfede und wege der 
apposteln, der marteler, der bihter, der jungfrouwen und aller 
gottes fründe, die sü in diser zit gewandelt und gegangen hant 
mit manigeme eilenden sterbende und uzgange ires eigenen 30 
willen und irre naturen und allen liplichen lüsten: die wellent 
ouch üch gerne helfen überwinden und anegesigen allen 
anestürmen der bekorungen, daz ii' mit in teilhaftig werdent 
ires gesiges und ewecliche in ire zale kumment mit volleme 
messende ires verdienten lones, des habent ein gantz getruwen 35 



1 yennächlet 2 zä gewidmet 2 f. geben sind nnd uf geben nnd 
gelassen uwern 4 Regnnm mnndi et omueui ornatum saecnli contcmpsi 
propter amorem Domini nostri Iesn Christi ixt der Anfang des Hesjwnsoriums 
bei der benedictio et consecratio virginum 13 besserlichen 10 geminneter 
fehlt 32 uns 35 verdienten fehlt 



Digitized by Google 



24 



Philipp Strauch 



und vollekummene Zuversicht, wenne uwer geminneter elicher 
geniahele ist milte und barmhertzig und haltet gar getruweliche 
sine e gegen allen den, die do vollehertent in irme guten beginne 
one alles übertretten irre e. der liebe sancte Franciscus und die 
5 heiige frouwe sante Clore gestercken[t] und bestetigen[t] üch 
ewicliche! Amen. 

36. [03 b] Ach liebe wol berotene bnit des obersten herren 
Jhesu Christi, uwer geminneter, der soliche grosse erliche riche 
widemen zü gebende het und üch gelobet het zu gebende in dem 

10 widemebriefe des heiigen ewangelies, der sol üch billiche alle zit 
gegenwertig sin in rehter minnender truwe und mittelidende, das 
ir anesehent und dicke betrahtent, wie türe er üch gekouft het, 
wie sure er üch erarnet het, wie friliche er üch erlöset het und 
grösliche er üch geminnet het, daz er durch uwern willen 

15 menschliche nature an sich nam und uf ertriche wandelte xxxiij 
jor in eilende, in armüt. in großer versmehede und het gelitten 
frost, hitze, hunger und turst und manigerleige mangel und 
gebresten, durchehtunge und spot, das er verroten wart, daz er 
vigentliche gefangen wart und verurteilet zü dem tode und alles 

20 sin kostbers blüt durch üch vergos in der besnidunge, uf dem 
berge Oliveti, an der süllen, von der scharpfen dürninen krönen 
und an dem heiigen crütze. ach! wie gar billiche ein gewore 
minnerin und eine getruwe efrouwe des geminneten hie von 
beweget und entzündet sol werden in rehter hitziger inbrünstiger 

25 minnen, das ir alles liden lüstlich und begirlich wurt zü lidende 
und allen liplichen trost und ergetzunge zü versuchende durch 
ires geminneten willen fröliche und minnenrichliche in noch- 
volgender wise one alle swermütikeit! 

37. Ach liebe begirliche nochvolgerin, künnent ir uwerme 
30 geminneten Uder Jhesu Christo nüt innerlicher noch neher noch 

gevolgen in dangberlicher betrahtunge sins heiigen wirdigen 
miimenrichen frubtberen lidendes, so sprechent doch dicke mit 
ernste und mit andaht dise noch geschribene gute vermanunge. 

7 liebeu w. beraiten wol geratnen (wol g. fehlt C) gemachliu des o. ge- 
waltigen 9 widen gaben zii g. 13 wie sure er — hat fehlt 21 olly vete 
23 frouwe 28 andere 29 — 32 sprechent] Ob nun ir und ander gaistlich 
gemint gottes trütinen in bewerten orden oder ander gütwillig erber personen, 
diss büchlins leser, so vil beweglicher andächtiger minn und ernst von inen 
haben nit euroügent noch enkünen in nachvolgender wis des hailigen wirdigen 
minnrichen froehtperen lidens ires genannten J. Chr. die sollen 33 verm. 
sprechen 



Digitized by Google 



Schlirebrand. 



25 



üch sol vil innerlicher goben und richeit von gotte dar durch 
gegeben werden, daz ir die ussewendige armüt deste baz geliden 
künnent mit eime fröudenrichen verzage alles liplichen trostes, 
ebe ir wurdent mangel haben an tegelichen züvellen liplicher 
besorgunge, daz vil lihte die andern frouwen gar gewon siut 5 
und in tegeliche vil lüstlicher tränten von iren fründen geschicket 
und geschencket wurt, daz sü doch zu jungest bezalen niüssent 
durch gros, bitter liden und getrenge irre conciencien, die sü 
nit lot soliche sunderheit und cigenschaft frideliehe one gros 
stroffen niessen, obe in so vil underscheides und liehtricher 10 
bekantnisse von gotte gegeben ist und ouch obe sü wellent dem 
bilde gottes und der regeln ires vatters sancti Francis« und irre 
müter sante Cloren volgen und die fruht der armüt, der gehor- 
same und der küschikeit mit in besitzen und ewecliche niessen, 
wenne welre münch oder nunne diser drier puncten und artickele 15 
eins ubertrittet und brichet, dem sint die andern zwene nüt 
fruhtber noch verdienlich, alse lange untze daz er widerkert mit 
geworeme ruwen und mit bekanter besserunge. 

Nu vohet daz gnodenriche andehtige gebet hie ane, alsus 
sprechende : 20 

38. [64 a] Ach lieber erbarmhertziger getruwer milter vatter 
und herre Jhesus Christus, ich dancke dir und ermane dich alles 
dines minnenrichen verdienendes und dines heiigen guodenrichen 
strengen bittern lidendes, daz du von minnen durch mich gelitten 
hast xxxiij jor in diseme eilende, und ich bitte dich, lieber herre, 20 
daz du gnedig und erbarmhertzig sigest mir armen unwirdigen 
gnodelosen Sünderin und mir alle mine grosse sünde, die ich 
leider alle mine tage so gar frevenliche begangen habe, gnedek- 
liche verzihest und vergebest und ouch miltecliche vür mich 
geltest und bezalest usser dem wirdigen schätze dins heiigen 30 
todes und diner guodenrichen minnefliessenden wunden und dines 
heilsamen kostbern rosevarwen blutes, daz du durch mich so gar 
miltekliche und manigvaltecliche verswendet und vergoren hast 



1 üch boI] so sol inen so 2 a. und allen mangel 3 fr. verzige] 
frölichen fr. hertzen in verztichung 4 ir ettlichc 5 die fehlt ander fr. 
ir gespillen oder geistlichen sweetern gar 7 sü doch] doch die ergeben nnd 
gaistlichen personen in den bewerten orden 12 vatters — 13 Cloren] ordens 
12 Francissi A 24 erlitten 27 guodel.] grossen grosse nachgetragen A 
27 die — 29 verzihest und nachgetragen oben am rande A 30 vergeltest 
us 33 miltekl. vergossen hast hast fehlt 



Digitized by Google 



26 



Philipp Strauch 



in der besnidunge, uf dem berge Olivety, an der sulen, von der 
scharpfen durninen krönen und an dem heiigen crütze, und ich 
bitte dich ouch durch diner ewigen ere willen und durch diner 
lieben milten müter willen und durch aller diner lieben engele 

b und heiligen willen und durch alles dines heiligen lidendes und 
verdienendes willen, daz du mir nu gebest ane zu vollende und 
ouch mit diner helfe untze in minen dot zu vollbringende ein 
nuwe luter demütig senftmütig kusch ördenlich gehorsam leben 
noch dime höhsten lobe und nach dime aller liebesten götte- 

10 lichesten willen und mich ouch ewecliche behütest und uf ent- 
haltest von allen dötlichen Sünden, daz ich mich dins verdienendes 
und dines ewigen himelschen vatters milten goben, Marien diner 
lieben müter, des lieben sante Johans Baptisten und sante Johans 
ewangelisten und aller engel und heiigen helfe, trost und gegen- 

15 wertikeit an minem ende versehen und gefrüwen müge in gantzer 
guter fröudenricher Zuversicht, also daz mir der bösen geiste 
schalkehtes ungehüres vientliches logen und anvehten in zit noch 
in ewikeit niemer geschaden noch erschrecken möge. 0 Maria, 
gnodenriche erbarmhertzige liebe milte müter und sünerin aller 

20 Sünder, und lieber min getruwer gnediger vatter sante Johans 
Baptiste, lieber herre sante Johans ewangeliste und alle lieben 
apposteln und liebe heilige gewore ruwerin und hohe götliche 
minnerin sancta Maria Magdalena und alle engele und heiigen, 
das helffent mir armen unwirdigen gnodelosen sünder bitten und 

25 erwerben umb unsern lieben herren Jhesum Christum durch 
aller der großen fröude und ere willen, do zü er üch usser siner 
grossen grundelosen erbermede ewicliche beschaffen und erweit 
hat. amen. 

39. Alle gotes gemehelte efrouwen in geistlichem schine 
30 eins bewerten ordens süllent leren türeredig sin und die menige 
vaste schuhen und ire fünf sinne in hüten haben und one rede- 
liche sache zü venster niemer kummen, dar uf ouch aller meist 



2 ich nachgetragen A 4 milten fehlt 6 willen nach verdienendes 
nachgetragen A 12 milte A 13 lieben sante — 14 ewangelisten] hailigen 
heren sant Francisci der hailigen jnnckfrowen sant Ciaren 15 erfröwen 
IG guter nachgetragen A 17 schalckhaftiges 20 f. Johans — und] Francisens 
liebe hailige muter saut Clara 21 f. 1. hailigen appostel gewore liebe heilige 
24 »ünderin 26 eren u. frödn 2(! er — 28 hat] er üch (uns C) us (fehlt C) 
erweit hat in s. g. gr. bannherzigkait geschaffen und fursechen 30 lernen 
31 fliecheu hüt 32 dem vensterlin dar um und dar uf aller meiBt fehlt 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



27 



uwer orden heilicliche fundieret ist uz grosser gnodenricher an- 
daht, also wol schinet an aller ussewendiger geschicketheit und 
ordenunge, daz keine swappelmetze noch murmeldine dar in 
gehört, die ein merentragerin ist vil Sachen uz zu rihtende [64 b] 
mit urteile und mit hinderklaffende uffe iren ebenmenschen zu 5 
slahende, und gerne vil von ussewendigen dingen und von welt- 
lichem gescheffede hörent sagen, daz uwere personen sunderliche 
nit zu gehört noch keinre leige anhang der creaturen, wenne es 
üch nüt enfrummet denne zit verlieren und herze verbilden, do 
mit ir uweren geminten von üch verjagent und uz tribent, daz 10 
üch sine götliche bevintliche gnode und alle inflüsse des heiligen 
geistes unbekant und frömde wurt und in üch getrübten nüt 
enmügent, do wider ouch denne der tüfel sine appetgotte in 
üch bildet mit vil wüsten unreinen frömden unnützen gegen- 
würfen, die üch uwern andaht und allen uwern innerlichen ernst 15 
zerstörent, daz ir eine gnodelose trege verblibene nunne werdent. 
ach, liebe rainnerin des geminten, do vor hütent üch, daz ir üt 
die grosse gnode gottes so gar unahtsamkliche under uwere fasse 
trettent und uwere fruhtbere edele zit so gar schedeliche ver- 
lierent und es iemer ewecliche bedarben müssent, wenne dis 20 
leben ist kurtz und unsicher. 

40. Eine reine lutere conciencie ist der Ursprung rehtes 
innerliches hertzen friden und fröuden, der in dem heiigen geiste 
entspringet und in ewikeit lendet, und ist eine heilsame artzenie 
wider alle swermütikeit, dar umbe süllent ir nilliche gar fröliche 25 
sin und ewicliche niemer trurig noch swermütig werden in grosser 
dangberkeit, daz üch got in uwern jungen tagen so gar vetterliche 
het vürkomen und ufenthalten und behütet vor vil sorglichen 
stricken und banden des tüfels und der weite, daz ir nu in uwere 
kintlichen luterkeit one grossen mosen und sweren gebresten sint 30 
entrunnen aller manigvaltikeit und Unsicherheit züvalles und 



1 o. Bant Ciaren gestiftet nnd gefundiert 2 erschinet ü geschicklicheit 
3 munneltin 4 mertragerin uz zu rihtende] nach ze forschen (fragen C) 
und zu verantwurten 7 hörent sc. ist (4) p. noch kainen snnderlichen 
gottes fründen nit 9 üch fehlt denne] sunder 10 v. ftch verj. nnd fehlt 
12 werden 12 f. nit gefr. mag 13 hos gaist VSf abgüt in bildet in uch 
14 uiinützen fehlt 15 an Uwcrem and. und an allem [ uwern J 16 irren 
und zerstören eine fehlt nnnnen werden 17 nit 18 kliche an 
unahtsam nachgetragen A 20 es] sin darben 23 hertzen fehlt 24 eut^ 
springet u. in e. nachgetragen A 25 billiche fehlt 29 bösen gaistes 30 gross 



Digitized by Google 



28 



Philipp Strauch 



anehanges, aller schedelicher hindernisse zu" der erberen behflt- 
samen lidigen abegescheidenheit, vor allen Ursachen der groben 
gebresten und der grossen Sünden und in uwere ersten unschulde 
ewecliche wol blibent mit großeme verdienende und züvelligen 

5 grossen frühten, die sich tegeliche merrent und zu nement durch 
die gehorsame und durch alle die Übungen und willen brechende, 
do zu uch der orden und die Meisterschaft twinget und bindet 
in tünde und in loßende, das die nature dicke gar nohe rüret 
und übele smirtzet, daz ir uwern eigenen willen nüt me ge- 

10 bruchen getörrent noch ensöllent, wenne es uch die consciencie 
und uwere bescheidenheit bi nute gestattet, ach! fröwent uch 
mit fröuden und sint frölich und fro uf die künftige ere und 
fröude, die ir iemerewicliche besitzen und gebruchen süllent mit 
allen uzerwelten gottes fründen in iemerwerenden fröudenrichen 

15 fröuden. 

41. Der aller höhste edelste gegen wurf und behelf wider 
alle swermütikeit ist, daz ir glouben müssent und billiche gerne 
glouben süllent mit der heiigen cristenheit unzwifelliche, daz 
uwer got und uwer herre, uwer Schöpfer und uwer erlöser und 

20 ewiger behalter, uwer vatter und uwer brüder und uwer getruwer 
[65 a] geminneter elicher brütegoum und gemahel gegen würtecliche 
bi uch ist und zu uch kummet mit einer grossen herlichen schar 
der engele in dem wirdigen heiigen sacramente in gantzer voller 
majestat, herschaft, wirdikeit und eren, richeit und gewalt> alse 

25 er in himele wonet vatter sun und heiliger geist, die almehtige 
heiige trivaltikeit, mit der geworen menscheit, in aller der ge- 
schöpfede und gestalt, also in Maria, sine liebe muter, in meget- 
licher luterkeit gebar, uud in aller der grösse und lenge, alse 
er uf ertl iche wandelte und an dem heiigen crütze hing, mit 

30 allen den frühten, die er uns mit sime heiigen wirdigen lideude 
verdienet het. hie von soltent wir billiche in grosser minnen 
und dangberkeit zerfliessen und gantze züversiht und getruwen 
haben, daz er uns nüt verzihen noch versagen mag. waz wir in 
redeliches iemer gebitten künnent mit gantzeme vesten glouben, 

35 daz zu unsere ewigen selikeit gehört, nüt anders sol ouch eine 
gewore minnerin gottes begeren noch bitten. 

1 verbildung und h. 2 vou aller ursach 4 großeme] manigvaltigem 
G Übungen] widerwertigen anstos 11 bi nute] nit 16 hilf 17 geloben B 
18 globen 21 geminneter fehlt 23 volkumner 31/". min sten und in 
min und d. 33 verzihen noch fMt 35 nüt -36 bitten fehlt 



Digitized by Google 



Schftrebrand 



29 



42. Ach liebe junge clorerin, alsus werent üch und behelfent 
üch mit disen vorgeschribenen gegenwürfen gegen allen ane- 
stürmen des bösen geistes und wider alle senliche Zartheit uwere 
naturen und wider alle ungeordente betrüpniße und swermütikeit, 
die üch irrent des heiigen geistes und aller siner gnodenrichen 5 
inflüsse, wenne der heiige geist eninag noch enwil mit wonen 
noch wircken denne in eime lidigen unbekümberten fridesamen 
frölichen herzen, do zu ir gar vil guter geschicketheit haut und 
noch vil nie gewinnende werden t, do ir nu uwer weichertzikeit 
gerwe überwindent und der innikeit wol gewonent und uwere 10 
fründe und aller neiglicheit gerwe vergeßent und zu gantzeme 
friden und ruwe kumment, Ach! fröwent üch mit fröuden und 
sint frölich und fro! der herre wil üch richliche bezalen und 
ewicliche ergetzen in gantzen fröuden waz ir truckes und ge- 
trenges und eilendes senens und darbens hie in zit durch sinen 15 
willen lident 

43. Uwer schätz sol sin bi uwerme geminneten in himel- Matth, o, 20 
riebe, do üch in nieman mag gescherten noch verstelen noch mit 

keiner untruwe abegeziehen. do sol ouch uwer hertze sin mit 
steter senender begirde, daz ir uwerme geminten bereitschaft 20 
und stat gebent und lont in selber wergmeister sin one alle 
angenomene eigene ufsetze, die uwer orden mit haltet, so mag 
der heiige geist nüt müssig sin, er würcke kürtzliche soliche 
große werg in üch, die alle natürliche sinne nüt begriffen mögent, 
daz ir alse gar foul bürnender hitziger inbrünstiger minnen 25 
werdent, dar us üch denne ent springet sol icher grosser über- 
treffender fride und fröude, den die blödekeit uwere naturen die 
lenge nüt wol geliden noch getragen muhte, müschete und mengete 
es üch der heiige geist nüt mit ettelicher bitterkeit und mirren. 
dar umbe süllent ir alle sine goben dangberliche und fröliche 30 
von ime nemen one alle swermütikeit, 

44. [65 b] Ach frouwent üch mit fröuden und sint frölich 
und fro mit guter hoffenunge uf die ewige künftige richeit on 
alle swermütikeit, sit daz die güte gottes daz kleine brendelin 

1 liebe j. cl. alsus fehlt 3 sinnliche 9 nu fehlt 10. 11 gerwe] 
gantz 11 zu — 12 kumment] ain stil gerüwig hertz gewinnent von aller 
senlichait der ussern bild 13 r. und erlichen (rilieb B) 15 senen und 
darben A 18 gesch. noch verst.] gesteilen. 21 gebent in unbebangner 
ledigkait 22 in haltet 23 m. sin] enlon soliche fehlt. 31 uf nemen 
von im 



Digitized by Google 



30 



Philipp Strauch 



und gl finsende ganeisterlin uwerre gut willigen vermessenheit und 
begirlichen neigungen bet gemeinsamet und vereinbert in daz 
grofie hitzige inbrünstige minneflammende für aller briidere und 
swestern sante Franeiscus orden und ir baut us wiseme rote des 
5 beilgen geist.es daz pfunt uwers eigenen willen in eine gar erliehe 
riebe gemeinschaft geleit, in der uwer grosser gewin sich tege- 
liebe meret und wuchert hundert tusentvalt, daz ücb zu uwerme 
teile zu gewinne wider umbe wurt sunder allen zwifel. sint 
alleine feste und stete in gantzeme fröudenrichenie güteme ge- 

10 truwende und erbeitent der zit und wartent der gnoden gott.es 
mit demütiger gewilliger langmütikeit on alles swermütiges 
verdriessen und belangen: welre bände trug oder getrenge von 
innan oder von ussen noch iemer uf ücb gefeilet, es sol ücb gar 
kiirtzlic.be bezalt werden riehliche und wol von der milten güte 

15 gottes hie in zit und iemer eweclicbe. 

45 [00 aj Ach! nu recbenent uwern großen gewin, der ücb 
wurt umb kleines houbetgut uwers eigenen willen! sehetzent alle 
die gnodenricben edeln meßen, die in der gantzen cristenheit ie 
gesprochen wurdent und nu und eweclichen gesprochen süllent 

20 werden von allen priestern uwers ordens und schetzent allen den 
erlichen gottes dienst und daz andehtige gebet und die inner- 
lichen zukere und alle die guten werg, die in der gantzen weite 
von allen uwern brüdern und swestern ie beschohent und nu 
und ewicliche beschehen süllent, dar in alles uwer verdienlich 

25 leben und kleiner gottes dienst vermüschet ist und ersetzet wurt, 
daz uwer lützel zukere vil schinent und uwer lewes minneloses 
kleines gebet und Übungen gros und begirlich wurt dem himel- 
schen vatter in rebter vollekumenheit von der menige wegen, 
zU der ir üch in gemeinschaft verbunden haut, daz ir die fruht 

30 alles ires verdienendes ewicliche mit in nießen süllent in der 
zale aller marteler, bihter und jungf rouwen , do ir und alle 
geistliche personen in gehörent, die sich verbunden hant zu ge- 



1 glunsendes gnaistlin 3 inbr. für in das in. 8 on a. zw. df. ver- 
trauen 10 baitent 14 k.] sicherlich r. und wol fehlt 15 e. on end. Auf 
Abschyiitt 44 folgen in A Bl. 65 b zwei Abschnitte, die mit Rubrum durchstrichen 
sind, tccil sie an späterer Stelle nochmals und zwar überwiegend wörtlich 
begegnen, siehe die Lesarten zu den Abschnitten 57. GO. 63 17 kleine A 
20 den fehlt 21 f. i. ernsthaften 24 alle 24/". verdienlich leben] Übung 
26 zukeren B schinet B 27 kleines] schnödes B; fehlt C Übungen] 
krancken werck begirlich] achtper 28 r. begirlicher v. 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



31 



horsame, zü küschekeit und zu armfit und es oueh mit lebende 
ervolgent, alse die wisen jungfrouwen, die der brütegoum wachende 
vant mit brünnenden ampellen foul oleyges. die fürte er oueh 
mit ime in zü der ewigen wurtschaft und beslos die dorehten 
megede ussewendig vor der porten, die sich des oleyes gesumet 5 
hettent und ire ampellen liessent verlöschen. 

46. Alsus hant ir und alle geistliche löte den acker fanden 
und mit dem pfeninge uwers eigenen willen gekouft, in dem der 
grosse schätz verborgen lit, alse daz ewangelium seit, den süllent Matth. J-i 1 1 
ir mit alleme flisse behalten und wogent nüt die künftige fruht 10 
und ewig leben also gar törliche und lihtecliche mit eigenwilligeme 
besitzende die creaturen und die irdenschen zergengliehen gefelle, 
es sige barschaft oder gewerde kleine oder gros, daz ir zu rede- 
licher notdurft nüt bedörfent, und haltet die heiigen alle gemein- 
liche in großen eren alse verre ir mügent mit eime gemeinen 15 
gottes dienste noch ordenunge der heiligen kirchen one alle bilige 
zeffelunge und partigen und verkiesent ir keinen in uwerme 
hertzen mit kleine schetzende und in unwertlicher zü haltende in 
dem gottes dienste uz biliger kibikeit, wenne es die ordenunge 
gottes und uwer meisterschaft vordert und gemeinet het, ir 20 
werdent andere von ime und von allen sinen genoßen verkosen 
und us irre gemeinsame ewicliche gescheiden. und darumbe lerent 
wisheit bi den erlichen riehen kouflierren: so die varent in verre 
frömede lant und grossen kosten und arbeit haben müssent, daz 
wogent sü nüt gerne one grossen nutz und lident wint und regen 25 
und grossen mangel und maniger leige ungewittere und wider- 
dries, durch daz sie erliche heim zü lande kumen mögent mit 



1 k.] lutterkait 6 erlöschen 10 wagent 11 mit aignem willen 
nnd mit 13 gewerb 14 h. nnd ir hochzit 15 in— mügent fehlt eime g.] 
dem IG 0. uwers orden und der one— 22 gescheiden] und vernichten ir 
kainen us biestiger kibikait, ir werden anders ewigklich getrucket und ge- 
blaget von got, der kain unere sinen wirdigen lieben hailigeu nimer ungerochen 
latt 22 und fehlt 22 f. lernent fürsichtige w. 23 hoffheren verre fehlt 
24 nnd gr. k.— 25 gerne] als och wir nun hie sind in dem frömden land und 
eilenden jomertall und in gelich alle unser hab anlegen und offentüren müssen 
mit grossen arbaiten und kestigung unsere marges und blutes in mänigem 
widerwertigem getreng in dem willen brechen, das Böllen wir nit lichteklich 
uns vertrösten, sunder warten der frucht (hierauf nochmal sunder B) mit 
Verfolgung und durechtung und mit emsigen* absterben der naturlichen 
naigklichait und gesücht, als och die koffheren nit gern wagen ir zitlich güt 
und ir liplich leben 25 sy liden och 



Digitized by Google 



32 



Philipp Strauch 



grosseme gewinne, und so sü kumment uf die jormerckete, do 
manigerleige volg und koufraanschatz hine kumment, so kerent 
sich die wisen zu den aller küuf [66 bjfigesten gewerden und lont 
die doren ir narrenspil triben und irre affenheit pflegen und 
5 ahtent sin nüt und vörhtent, daz in zites gebreste und in der 
jormereket unfruhtberliche one nützlichen gewin zergange, der 
Matth. 13, 9 oren habe, der höre und kere sin redeliches verston zu der be- 
tütunge. 

47. Ach liebe clorerin, sint gotte siner grossen gnoden 
10 dangber und fronwent üch mit früuden und sint frölich und fro 

uf ein solich edel sicher wartespil und lont üch den tüfel noch 
uwer nature noch keine ereature niemer keine wider wertige 
swermütikeit oder ruwen ingetragen oder abelessikeit , die üch 
unahtsameliche der grossen gewinnigen frühte und der edeln 

15 gemeinschaft hindern woltent, das ir unahtber woltent werden 
der erlichen schar, mit der ir eweeliche richsen söllent in iemer- 
werenden ewigen früuden, daz ir üch die liessent urdrützig werden 
und sü mit willen begeretent uf zu gebende und üch woltent 
Ionen her wider us jomeren(?) in williger begirde und mit bedohtem 

20 mute, daz aber ir anegevohten werdent in der selben sachen und 
in andern sachen wider uwern willen, dar inne verdienent ir 
sunderliche vil erlicher krönen, lident üch froliche in diseme 
kurtzen zit und hütent üch flißecliche, daz ir kein unwurscher 
zerbieget er blotterkopf niemer werdent, daz uwerm geminneten 

25 ein grozze unere were und uwere erbern swestern getrucket und 
getrenget wurdeut, daz sü eine soliche widerzeme bürde an üch 
haben müstent. 

48. Ach versmoherin der weite und aller irdenschen creaturen, 
in uwerre sicheren fluht des bewerten heiigen ordens ingang, in 

1 nnd so sn] söllicher Zuversicht sol och die gaistlichen ohentürer und 
die gottes mynerin trösten uud stercken in allen winden und gewitter der 
bekorung, das sy «ich nit lassen betriegen und vertoren die dorechten lust- 
8iicher in dissen zergangklichen zitlichen ingetragnen luaten der natturen in 
besitzung der irdischen creaturen der mänige nach allso och die kofflut. so die 
2 koufmanschaft 3 der a. k. gewerden A] den koffigesten gewerben und 
zu dem aller sicheresten raaisten gewin 4 die d. und narren 5 sin] 
ir in zites gebr. und fehlt 6 und one zergange und inen zites gebrest 
7 der — betütunge] ze hören der höre veruunftenklich dissen sinn 9 lieben 
clarerin 11 bösen geist 13 intragen in ablessigem verdriessen die 15 das] 
da durch woltent w.] wurden 23/". unw. mfillechter z. bl. 24 daz] wann es 
25 f. uweren erbern swestern ain beswerd und ain getreng wurden 29 üwerem 
sichern flüchteal sichere A 



Digitized by Google 



Seh&rebrand. 



33 



gütwilliger wiser vermessenheit uf ofentürliche hoffenunge des 
ewigen hiraelschen vatters künftige ergetzunge, sehent mit grosser 
vürsihtikeit gar wisliche ane und schetzent, wie die weit und 
alle minner der weite und ouch in geistlichem schine die welt- 
lichen herzen alle mitenander so gar verblendet sint in irme 5 
betrogenen vehtenden gewerbe noch zitlicheme gute, noch wollust 
des libes, noch weltlichen eren, noch natürlicher kunst und nocli 
sinnelicher wisheit, noch grosseme gewalte, noch glorierender 
herschaft hoher wirdiger ambahte: so sü des ie me hant, so sü 
ie minre begnüget und ie giriger und ie gritiger werdent ie 10 
vürbas und ie fürbas und ie höher und ie höher zü werbende 
von grote zu grote mit manigeme frömeden ufsatze, und setzent 
kein gesast zil in sich, do mitte sü iemer welle begnügen, und 
verwurrent und verflechtent sich also mit manigeme frömedem 
anhange und ladent uffe sich großen kumber und unrüwe libes 15 
und gemütes und werdent dicke und vil grösliche getrucket und 
getrenget und swerliche betrübet, daz sü von gantzeme herzen 
in duser zit niemer frölich mügent werden weder lipliche noch 
geistliche undlendent [67 a] mit allen ireme sorgveltigeme kumbere 
und gewerbe in dem langwirigeme pinlicheme strengen vegefüre 20 
und etteliche in der ewigen helleschen martele und pine mit 
irre grossen unmüsse und ungerüwigeme gescheft'ede und gevehte. 

49. Ach liebes gevangenes kint uwers getruwen erlösers 
und loners Jhesu Christi, nu lerent wisheit bi der weite grossen 
dorheit und sigent bi irre blintheit ge warnet und lerent bekennen: 25 
wele dem Schöpfer nüt dienen wellent, die müssent allen creaturen 
dienen mit grössern arbeiten und mit minre fruhtberkeit und 
nutzes, wele aber dem schöpfer alleine wartent und sich in sime 
dienste übent und sime ruffe volgent in rehter gehorsame, den 
müssent alle creaturen dienen, himelsche, irdensche und hellesche, 30 
und die bösen geiste sint in dicke aller nützest und fruhtberest 
in vil verborgener unbekanter wisen von der verhengnisse gottes, 



2 vatterlandea und die k. 9 amptcn und so 10 begiriger gittiger 
11 zü werbende] zu werden gewcrben 13/*. begn. und fridliche ruw haben 
und verwirrent 14 sich fehlt A 15 anhange und zuval 18f. niemer 
—geistliche] firod noch frid weder liplich noch gaistlich nymer mügen gewinnen 
19 allen fehlt sorgv.] sorgklichen endlosen 20 und manigfaltigem nn- 
gerübigen g. 22 ängstlichem gevehte 23 1. g. k.] nachträglich in liebe 
gevangene clorerin geändert A; lieben gevangene 24 grosse ^1 27 grossen 
28 nutz 31 fr. und merent inen iren Ion in 

3 



Digitized by Google 



34 



Philipp Strauch 



des wir urkündes und gezügniße gnüg hant in den büchern und 
legenden von den lieben heiligen und den heiigen altvattern. 

50. Ach liebe gefangene clorerin des gevangenen herren 
Jhesu Christi, der do ist ein tröster und ein löser siner gefangenen 

5 und ein Zerstörer der gefengnisse und aller siner lider ein ge- 
truwer ewiger loner: die erne ist kurtz und ist die zit iemerewig, 
in der ir die fruht nießen süllent. dar umbe snident flissecliche 
und endeliche in der schar uwer frummen endelichen ernegesellen, 
der marteler, der bihter und der jungfrouwen, die das korn und 

lü die fruht maniges willenbrechendes und abeganges iren lüsten 
liant abegesnitten uf dem velde vil lipliches darbendes und 
mangels mit der sichel einer billich dunckenden langmütigen 
gelossenheit und niessent nu die fniht in voller genügede ires 
begirlichen lust.es in allen fröuden iemer ewecliche. ach! und dar 

15 umbe, liebe gottes ernerin, nüt lont üch abe dem fruchtbern 
snitterjone triben die hitzige sunne. ane schinender glantz der 
weite, zergenglicher lust und fröude, daz so gar valsch und be- 
trogen ist, vennüschet mit gar vil unfruhtberer lidender bitterkeit. 

51. Ach nement war, liebe vertruwete brut des geminten 
20 brütegoumes Jhesu Christi, mit wiser vürsihtiger betrahtunge, daz 

der obent unsers endes gar vaste beginnet nohen, daz den ende- 
lichen snittern und getruwen arbeitern in allen fröuden gelonet 
wurt, und lont üch abe dem snitterjone nüt triben kein regen 
oder gewfllkene manigerleige trug und getrenge und widerwerti- 

25 keit, so uf die gottesfründe vellet und billiche vallen sol, wenne 
ir lonherre und ir ackermeister, unser lieber herre Jhesus Christus, 
des selben regenwetters und gewülkenes gar vil durch siner 
snitter willen erlitten het xxxiij jor und abe dem jone der arbeit 
nie kummen wolte, untze daz er uns die fruht unserre ewigen 

30 selikeit gerwe in brohte und gesammelte mit sime bittern tode, 
den [67 b] er an dem heiigen crütae leit, und der heilsame 
lebendige quelburne in sinem vetterlichen hertzen mit dem 
scharpfen spere getolben wart und waßer und blüt genuht- 

2 lieben fehlt und von den a. 3 1. g. cl. nachträglich aus liebes 
gefangenes clorerlin geändert A; [Ach] lieben gefangen de« herren fehlt 
±f. einer— Zerstörer nachgetragen A 6 ernd Senglich englichen erndeng. 
15 lieben g. ernderinen 16 schnitt joü ane] ain lies der hitzigen s. ane sch. 
glantz, der w. zergenglicher 1.? 18 nnfruhtb. fehlt 19 Ach] Nun lieben 
vertrtiweten gemachlin 23 schnit jon 24 wolcken 25 uf üch die g. 
und uf die gaistlichen schniter 26 ir nach und nachgetragen A 30 gar 
32 lebend 83 gegraben genuhta. fehlt 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



35 



sameliche dar uz flos, da mit er sine getruwen snitter und arbeiter 
labet und trencket in allen hitzigen anestürmen der weite be- 
trogenen glantz. 

52. Ach liebe junge Schülerin und novicie, wissen t, des 
heiigen geistes oberste schule aller wisheit ist abgescheidene 5 
innikeit und einikeit. do wurt man geleret die rehten geworen 
vernünftigen fröudenrichen zükere, daz ouch die grossen heiigen 
und die heiigen altvettere in dem heiigen geiste gar wisliche 
angesehen haut mit irre fluht an die einöte, in die weide und 

in die wüste von der menige. sunderliehe uwer müter die heiige 10 
frouwe sante Klore het ire geistliehen kinder und swestern aller 
behütsamelichest inbeslossen mit sunderlieher vürkummenheit aller 
Ursachen der verbildungen und der creaturen anehang, umbe daz 
got alleine ir bilder und gegenwirf si in allen iren andehtigen 
zükeren on alle hindernisse der gnodenrichen inflüsse des heiigen 15 
geistes. 

53. Ach liebe Schülerin, erwelent den heiigen geist zu eime 
Schulmeister und lerent alsus in siner schulen der lidigen abe- 
scheidenheit innikeit und einikeit, die höhest geworeste kunst, 
uz gehorsame uwere müter sante Cloren, die ouch die selbe 20 
schule allen iren kindern gestiftet het mit irre heiligen behut- 
samen ordennngen. do durch volget üch fride und fröude geistes 
und naturen in zit und in ewikeit iemer wesenliche, wenne alles 
schriben, alles sagen, alles lesen und alles hören von ussan in 
den sinnen, daz ist rehte alse ein swelme oder ein nnmerglicher 25 
troum wider dem, daz ein lidiger grünt, zu dem ir gelüftet und 
gebunden sint, wol bevinden und verston möhte, der sich in 
rehter stille sines gemütes und mit gantzeme ernste innerliche 
dar zü keren wolte. 

54. In diser selben kunst studiertent die edeln zarten jungen 30 
megde und jungfrouwelin und wurdent also gar küne und ver- 
wegen, daz sü frilich ufgobent und versmohetent alle ere, lust 



1 qual getruwen fehlt 2 und tr. fehlt 2 f. betrogener A 4 1. 
j. geh. nachträglich attt liebes junges schülerlin geändert A; Lieben jungen 
schulerin wissen t 6 n. einikeit nach 7 zukere 6 waren rechten 17 1. sch. 
nachträglich aus liebes schülerlin geändert A; Zu ainem sch. sollen ir all 
erwelen d. h. g. 18 alsus] alles 21 in allen i. kinden us dem hailigen 
gaist ordenlich gestiftet hat 21 f. b. fürsichtigen 0. 23 wesenlich und 
belibklich 25 ein sw. oder fehlt 27 verbunden 30 schul 31 j. 
die selben kunst 

3* 



Digitized by Google 



36 



Philipp Stranch 



und trost diser weite und liessent sich kerkeren, die brüste abe- 
sniden, die zene uzslohen, an hespele spannen, den lip mit kroweln 
zerzerren, die siten mit glühenden blechern zerqwirsehen und 
martern, enthoubten, bürnen und redern und vil großer fromder 

5 martel ane tuon. und hette doch ir etteliche nie keine ussewendige 
offene bredige geboret und bekertent doch vil Volkes mit iren 
bredigen und mit iren wisen gnodenrichen Worten, die sü von 
dem heiigen geiste gelert wurdent in der schulen der abge- 
scheidenen innikeit und einikeit, do bi wol zu schetzende ist, 

10 daz die weit und die weltlichen hertzen in geistlicheme schine 
gar grosliche betrogen und ver[08ajblendet sint, das sü dunckent 
lust und trostliche ergetzunge haben in irme sinnelichen glori- 
ierende dis zitlichen gefelles, gewalt, wisheit, kunst oder ere, 
das alse gar unwirig und zergenglich ist und in kurtzen ziten 

15 zu nute wurt, 

55. [70 a] Ach bekommener zwig des getruwen lieplichen 
garteners Jhesu Christi, der üch so barmhertzecliche mit sineu 
gnoden erschinen ist, alse er noch siner frölichen urstende der 
geworen ruwerin und der hitzigen inbrünstigen minnerin sante 

20 Marien Magdalenen erschein, und het üch selber gepflantzet und 
uf geimpfet von eime unahtbern kymen und wiltvange uwere 
kintlichen einvaltikeit, daz ir nu grundes und wurtzeln gnüg 
haut zu eime erlichen fruhtberen stamme zu werdende, obe ir 
selber wellent dem insprechende gottes [70 b] und uwer regeln 

25 und dem ordene volgen und gehorsam sin, do zu ir ouch ver- 
bunden und verstricket sint, daz ich uwer keine vorhte noch 
sorge me habe noch darf haben wenne alleine nuwent von der 
eigenschaft wegen, daz alse gar ein sorglich schadeber mittel 
und hindernine ist des ewigen lebendes und aller göttelicher 

30 gnoden und inflüße des heiigen geistes, und ist doch leider under 
allen geistlichen lüten also gar gemeine und gewonlich worden, 



2 f. m. krewlen zerslachen 3 blechen zerqnitzschen 4 brenen redern 
pfellen 13 weltliche ere 14 alse] alles 15 uüt me sin wirt 16 Ach 
ir lieknmenden 17 erbarmhertzenklich 20 Maria 21 uf gezwiget 
ciiue] dem 26 vorhte — 27 haben] sorg noch forcht haben darf (bedarf (7) 
27 nach haben nochmals darf nachträglich eingeschaltet A 28 schädlich 
30 geistes und siues wurckens in den ßiben gaben: gotlich wisheit, Vernunft, 
rat, stercke, kunst, miltigkait und gotliche vorcht, daz allen den gaistlichen 
ergebnen personeu billichen underzogen wirt, die in bewerten orden sunder 
gut und aygonscbnff hand und das mit hertzen willenklich besitzent 



Digitized by Google 



Schllrebrand. 



87 



daz wenig ieman me abtet, wie er sicherliche ge wandeln möge 
in brüderlicher glicheit und einmütikeit eines gemeinen gebruckes 
und kosten aller liplicher notdurft, des man ouch vil neker zu 
kerne und sckütziger werde und ouck alle gewerde natürlicker 
und friscker blibe in der gemeinde wanne in der manigvaltigen 5 
sunderkeit und eigensckaft. 

56. [70 b] In der selben sörglicben sunderkeit und eigensckaft 
zwentzig personen me kosten bedörfent und haben müßent wenne 
drißig andere personen, die in getruwer brüderlicher einmütikeit 
einen gemeinen kosten mitenander kaut uz eime seckele, ob eime io 
tiscke und us eime kafene, alse es ouck die aposteln und alle 
stiftere und patronen der ördene gemeinet und gekalten kaut 
und alle müncke und nunnen kalten müßent, die ewiges lebendes 
wellent sicker sin und nießen wellent die frukt der gekorsame, 
der armüt und aller strangkeit und betwüngniße des ordens in 15 
frier lidikeit aller engestlicker vorkte des strengen vegefüres 
und der ewigen kellen. 

57. [68 a] Keine ungeordente böse gewonheit sol ück niemer 
gewisen oder geziekeu von der großen edeln verdienlicken tugent 
der lutern gewilligen armüt, die got so grösliche minnet und sü 20 
mit leben ervolgete, do er in menscblicker naturen uf ertricke 
wandelte und sü mit lere den lieben apposteln so gar begirlicbe 

in trüg, daz ir keinre kein sunder güt nüt kette noch kaben 
getörste in eigensckaft und den gemeinen seckel, den sü zü irre 
liplicken notdurft kaben müstent, der was in also gar unwert 25 
und ungeneme, das ir keiner sick dar mitte bekümbern oder 



1 me fehlt wie — möge] der ewigkait und des oberesten wirdigen grate« 
und des aller edelesten zu erfolgen und den nechsten sichern weg ze wandeln 
2 brucb.es 3 ouch] doch 4 er schützlicher wer gewerdej spis 5 frischer] 
frohtparer C denne 7 stfrgl. fehlt 9 xl 12 us dem hailigen gaist 
gemeinet [und gehalten] 16 engestlicher fehlt 18 wegen dieses Abschnittes 
ist in A ein ursprünglich nach Abschnitt 44 aufgenommener Passus nach- 
träglich gestrichen worden. Derselbe beginnt [ß/.65b] Ach lont üch keine bose 
unördenliche gewonheit niemer gewisen oder geziehen usw. bis Z. 20 minnet und 
sü mit lebende und mit lere den lieben apposteln so gar begirliche in trug 
und der liebe sante Franciscus so große minne dar zu hette und sich grösliche 
schammete [39, 5], daz ieman anders ermer sin solte denne er selber, um dann 
mit 39, 13—16 fortzufahren. — Lieben gemyntten truttinen des gemynten 
und alle lieben sunderlichen gotes gemächlette myner und mynerin in allen 
bewertten örden. Keine usw. 19 gez. oder bewegen 20 sü] sy och 
21 ervolget hat 26 bekümmert 



Digitized by Google 



SR 



Philipp Strauch 



verbilden wolte, und befulhent den selben iren gemeinen seckel 
dem aller vermaledietesten verfluchtesten bürgere in aptgründe 
der hellen, Judas dem verreter, der one daz uzgesloßen was von 
dem ewigen lebende und keinen teil niemer me gehaben solte 
5 an dem wirdigen verdienende unsers lieben herren .Thesu Christi. 

58. [08 a] Dis selben Judas genos sint alle geistliche ergebene 
personen in bewerten ördenen, die do sunder gut und barschaft 
mit eigenschaft habent und mit hertzen besitzent oder mit willen 
begerent zu habende, und alle die prelaten, die iren undertonen 

10 in keinerleige wise sache do zü gebeut, daz sü von liplicher 
notdurft wegen eigenschaft haben müßent oder in gestattent 
eigenschaft zu habende, des sü zu rehter redelicher notdurft nüt 
bedörfent. die selben prelaten mügent billiche förhten ettewaz 
glicheit zu habende mit Judaße an ewiger pine, die den gemeinen 

15 seckel in glicheit mit ime ungetrüweliche tragent hie in zit, 
sider unser herre Christus und die lieben apposteln, der liebe 
sante Franciscus, sante Dominicus, sante Augustinus und die 
andem heiigen vettere keine eigenschaft hettent und es ouch 
iren undertonen nüt gestatteten t und sü ouch an aller irre lip- 

20 liehen notdurft miunesameliche versohent, das sü keiner eigen- 
schaft bedörf tent, die sü gehindern mühte aller göttelicher zükere 
und gegenwiirfe. 

59. [08 aj Ach liebe klorerin, ir süllent und müssent uwere 
eptissin und uwere obersten meisterschaft an gottes stat gehorsam 

25 sin. waz üch die heißent, daz mügent ir tun mit gantzeme guten 
friden, also daz ir in uwerme gründe lidig standent aller eigen- 
schaft und keinen urlop dar zü heischent oder begerent us 
uwerme eigenen willen durch der gemeinen gewonheit willen vil 
geistlicher lüte in disen hindersten ziten, die es üch glimpfen 

30 und intragen möhtent. daz doch der neuste sicherste weg nit 
enist, den unsere vordem, die lieben heiigen, und die großen 
erlühteten gottes fründe uns vor gegangen haut. 



3 J. d. v. nachgetragen A; dem ungetrüwen v. 12 zu] in r. r. 14 
an] in 17 s. D. 8. A. fehlt 0 19 f. faller irre] liplicher 20 minne*. 
fehlt 23 Ach — ir] Ir und all gaistlich nnderton 23 f. uwere ept. und 
fehlt 24 demuttigklich g. 25 die heißen m. «e tun B 2B lidig— 28 
willen] kainer aigenschaft begerent und och nit darnach stellent nach werben 
30 sicherest erst weg B 32 g. fr. und altvätter 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



39 



60. [68 a] Der lieb gnodenriche heiige vatter sante Franciscus, 
der was also gar lidig und blos aller eigenschaft und alles zit- 
lichen gevelles mit eime gantzen versmahende alles lustes und 
trostes diser weite und hette so grosse minnenriche begirde noch 
lidiger blosser armüt, daz er sich grösliche schammete und mit 5 
wol geliden möhte von rehter hitziger inbrünstiger minnen, daz 

in ieman solte vürkomen oder übertreffen an Verworfenheit des 
schines und an lidiger armüt aller eigenschaft. des [68 b] selben 
glich ouch der liebe sant Alexius ein arm verworfen lidig ab- 
gescheiden versmehet leben fürte sibenzehen jor in dem eilende 10 
under den frömden und sübenzehen jor in sins vatter hus under 
einer Stegen, unbekant sinem vattere und allen sinen fründen, 
und die liebe sante Eilsabet so gar minnenrichliche gloriierte uf 
die künftige armfit, der sü sich in irre großen herschaft vermas 
und ouch uf daz aller snödeste und verworfenlicheste ervolgete 15 
noch des hertzogen von Margburg ires mannes tode. 

61. [70 b] Anno domini MCCCLXVII in den ziten, do unser 
kloster zu dem ersten anegefangen wart zu ernuwende, do was 
ich in eime walde bi Wintertur, heißet der Berenberg, bi gar 
erbern priestern eins ordens heißent die Steiger; under den was 20 
ein gar sunderlicher grosser begnodeter gottes frünt, dem got 
vil grosser heimlicheit offenbarte, der was der selben brüdere 
Stifter und öberste prior und prelate, und wolte ir keime ge- 
statten, daz er üt besesse mit eigenschaft von kleidern oder von 
kleinötern; und in welicheme er merckete keinre leige neiglicheit 25 
oder ufsehendes zu keime sime kleide oder kleinöter, es werent 
röcke oder schapperone, gürtele oder messere, büchelin oder 
heilgelin oder des gelich von aller leige klütterotte und gewerde, 



1 gnodenr. fehlt 2 ledig u. loss aller eigensch. und fehlt 5 
vgl- 37, 18 heia. 8 blosser lediger abgeschaidenbait und arm. 13 — 16 
stehen auch BI. 65 b (».37,18 Lesa.) 13 mynneklich und mynrichlich 

15 und ouch — ervolgete nachgetragen A verworfenlichste] genoweste A 
BLGbb 16 landgraffen ires elichen m.; A BI. 65b (vgl. 37,18 Lew.) 
steht noch, den Passus abschließend: dise hohen edeln gnodenrichen bilder 
silllent üch billiche bewaren und in hüten haben vor aller eigenschaft, daz 
die mit keinem sinnelichen glosierendc niemer nieman ingetrage, wanne ir 
und alle ergebene lüte annfit gelobet hant alse ir ouch do Tor gewarnet sint 
17 — 19 waldej ^ cn wn vor ziten als man zalt nach Christus geburt MCCC und 
Ixvij jor selber gewesen in ainem wald 21 ein] ainer 24/'. und v. klaineter 
25 wellichem b rüder 26 keime sime fehlt klaider 27 schaprot B; 
schapern C 28 hailiglin klütter(glütter C)wercks und gefert 



Digitized by Google 



40 



Philipp Strauch 



daz junge lute gerne hant, daz nam er ime zü stunt und gap 
es eime andern; also gar flisseclich hüte er ir vor aller eigen- 
schaft, daz ich selber sach, wenne ich wol xvm wochen bi in 
und mit in wonete und wandelte in irme clösterlin genant Unsere 
5 [71a] frouwen zelle in dem Berberge, die wile ich noch do ein 
weltlich schüler was und wenig gedoht hette, waz usser mir 
oder uz unserme huse werden solte. 

62. [71a] Diser selbe erluhtete heiige gottesfrünt rette in 
den selben ziten gar vil mit mir in früntlicher minnesanier 

10 warnunge von der eigenschaft, wie gar ein sorglich schadeber 
mittel es were allen geistlichen personen, und wie gar unsicher 
sü sint ewiges lebendes, die in geistlichein schine und in bewerten 
ürdenen in sunderheit eigenschaft habent und mit hertzen be- 
sitzent. und under andern worten sprach er mit großeme ernste 

15 zü mir: ime were vil tröstlicher und lieber, daz siner brüdere 
einer mit einem wibe verfiele und kint mit ir mähte, wanne daz 
er keinre leige eigenschaft in sunderheit haben solte, wie doch 
unluterkeit eine sunderliche grosse swere lesterliche dotsünde ist 
lidigen weltlichen personen, und ist noch vil grösser und schent- 

20 licher gewillten geistlichen priestern; dar Uber er in sime hertzen 
schetzete, daz eigenschaft aller swerest und sörglichest were. der 
glich er tet in sinen worten, und was doch gar behüt, daz er 
nit vil enrette, er hette danne gezügnisse des heiigen geistes 
oder der heiigen geschrift, wanne er in der gnoden und in der 

25 geschrift vil liehtriches underscheides wüste und bekante und 
ein gelerter bewerter grosser gottes frünt was, dem man gar 
wol getruwen und glouben mühte und allen sime rote volgen 
in gantzer Sicherheit. 

63. [68 b] Solichen gnodenrichen erlühteten exempeln süllent 
30 ir üch nochbilden durch alles uwer leben, alse vil ir iemer mügent, 

daz ir keinen andern irrigen weg werdent umbe gefürt von den 



1 inen zü hand 3 wenne — 5 Berberge fehlt 5 in für ausge- 
strichene* bi von gleicher Hand A die wile] do noch do fehlt C 
6 junger weltlicher 10 getrüwer warnung schädlich 13 in s. fehlt 
18 swere fehlt 24 den gnaden 27 geloben 29 derselbe Passus, nur 
mit abweichendem Eingang, steht schon auf BI. 65b in A und ist nachtraglich 
dort mit Rubrum durchstrichen. Er folgt dem Passus nach Abschnitt 44. 
Statt 40,20—41,2 hei f st es A BI. G5b: Hütent üch durch got von aller 
eigenschaft und lont sü bi mite wurtzeln in uwerm hertaen in keiner be- 
sitzunge, alse üch usw. 



Digitized by Google 



Scbürebrand 



41 



unerlebeten eigenwilligen gründen, den ir nüt sicherliche noch 
gevolgen mügent, alse üch ouch in dem anevange diser materien 
mit ernste geroten ist, daz ir üch nieman lossent keine eigen- 
schaft glimpfen oder intragen ußer einer smalen unsicheren 
conciencien, ir verlierent anders alle uwer große arbeit und 5 
werdent beroubet aller frühte und der sichern gedinge und 
hoffenunge, die ir wol friliche haben mögent mit dem lieben 
sant Peter, dem armen fischer. der lies ein schiffelin und ein 
zerbrochen garn und dingete mit gotte und duhte in gar billiche, 
daz ime got gar vil großes gutes widerumb geben solte. do er 10 
sprach: 'herre, wir haut alle ding geloßen und sint dir noch Matth. 19, 27 
gevolget, waz wurt uns dar umbe?', do gelobete im unser herre 
hundertvaltigeu Ion und daz ewige leben alleine nuwent umb 
daz nochvolgen, das er sich sines frien willen und aller eigen - 
schaft verzech und ufgap, wenne daz schiffelin und daz garn 15 
und alle sine habe was kleines Schatzes wert. 

64. [71a] In solicher getruwer früntlicher minnen und mei- 
nungen ouch unsere lieben stiftere, die heiigen großen gottes 
fründe, uns vil und dicke mit großeme ernste alle eigenschaft 
widerroten und abegesprochen hant, daz unser keinre von rehter 20 
angestberkeit in siner conciencien neiglicheit dar zu haben oder 
gewinnen mag, so wir iren begirlichen minnenden ernst ansehent 
und bedenckent und die schadebere hinderniße und mittele, die 
sü gehalten hant von der eigenschaft, und ich begere in gantzen 
truwen und uz luterre göttelicher minnen üch ouch alle sunder- 20 
heit und eigenschaft zu leidende und mich und üch zu warnende 
und flissecliche zu verhütende vor allen stonden gebresten: so 
der brütegoum sine brut wurt zu huse fürende, daz denne daz 



1 un erlebten] unerlichen unerlnchten 2 d. mat.] dis buchelins A 
Bl. 65 b; vgl. oben Nrr. 7. 8, doch 8. auch Nr. 59 3 daz ir — 5 conciencien 
fehlt A BLtäb 4 Bm. u.] blinden glosierenden lichtvertigen 5 erbeit 
^1 Bl. f>5b 6 aller frühte nnd fehlt A £/.65b; fr. uwere gaistlicheu stattes 
15 und ufgab fehlt A J3J.65b 1« nnd alle sine h. fehlt A Bl.täb was 
wert gar kl. sch. 17—22 mag] In söllicher getrüwer frnntlichen warnung 
nnd och dick nnd vil mit grossem ernst alle aigenschaft widerraten nnd ab- 
gesprochen ist von unsern Stiftern den grossen übernatürlichen gottcsfründen 
und erlüchten personen, das ich noch kain min conventbrnder naigklichait 
dar zu haben mügen von rechter angstperkait unser concientz 22 ff. an- 
sehent und die schadberen mitel und hindernunst bedencken, die sy halten 
25 ouch fehlt 27 [und] flissenklich vor a. st.] zu allen stünden vor 



Digitized by Google 



42 



Philipp Strauch 



brunloftkleit irre conciencien gantz und unvermosiget sige, daz 
sü üt mit den dorehten megeden vor der türen bliben müsse und 
uz gesloßen werde von der zale der uzerwelten fründe gottes, 
die hie in zit ein geordent geistlich leben libes und gemütes 
5 minnenrichliche gehalten haut, wenne unser herre sprichet in 
Matth. 7, Jl dem heiigen ewangelio: nüt alle die do sprechent 'herre, herre' 
knmment in daz himelrich, sunder der do tut den willen mins 
vatter, der in den himeln ist, rehte also ob er spreche: nüt alle 
die do kutten und wilen oder geistlichen schin tragent, kumment 

10 in daz himelrich, sunder die do ervolgent mit lebende, do zu ir 
regele sü bindet und ir geistlicher schin von ussan erzöuget, die 
werden t ewiclich behalten, unser lieber herre Jhesus Christus 
gemeinsame uns in der selben uzerwelten behaltenen zale und 
mache uns mit in teilhaftig und enpfenglich alles gutes und 

15 ewiger fröuden! Amen. 

05. [70 b] Ach liebe gottes gefangene, ich getruwe und 
gloube, daz der heiige geist ein wiser rotgebe gewesen sige des 
anefanges uwerre minnenrichen fruhtbern gevengniße, dem ir 
ouch volgen süllent in dem mittele, daz er uwer loner werde 

20 mit eime guten gnodenrichen seligen ende, und erwelent lieber 
ein genießen natürlich liden uwers libes zu eime zile, denne eine 
endelose pine ungemeßen uwers geistes, daz ir flissecliche vür- 
komen süllent mit heiliger güttelicher ordenunge, do zü ir ge- 
bunden sint. waz uwer nature do durchliden müs von allen 

25 widerwertigen uffellen lipliches und geistliches underzuges und 
darbendes aller besitzunge und eigenschaft uwers natürlichen 
gesüches, daz sol üch der geminnete wol ergetzen mit inner- 
licheme friden in Sicherheit ewiger fröuden. 

(36. [68 b] Wiszent, liebe minnerin des geminneten, daz gar 

30 nütze und notdürftig ist, daz in ieglicheme kloster, in iegelicher 
sammenunge und in ieglichem huse ein hunt sige, der die andern 
anbelle und sü getult lere und behütsamkeit ires friden. dar 
umbe so hütent fliszecliche uwers friden, daz ir der hunt nit 
sigent und lerent alle swere urdrützige wisen und gelesze uwers 

35 neusten frideliche liden und verrihtent noch enstroffent nieman 
in schimpf noch in ernst umb keiner leige sache, wie gröslich 



2 müssen 3 werden 8 der da in dem hiniel 9 den will 12 
unser — 15 Amen fehlt 16 lieben g. gefange" 17 gewisser wiser 20 
guten fehlt 21 zil in disser zit 22 geistes in ewigkait 29 lieben 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



43 



es üch joch iemer angevihtet durch das ir zü friden blibent. 
lont üch alle gegenparten ane gesigen und überwinden und be- 
hertent nienian, wie gros reht ir joch in den Sachen habent, alse 
uch duncket. der beste teil und der aller erlichste gesig ist 
innerlicher fride. behaltent alleine den friden mit gantzeme flisse 
und fliehent, alse vil ir iemer mügent, alle Ursachen, die üch den 
friden wellent zerstören, in dem friden wonet got. durch den 
friden kummet der heiige geist, der ein tröster ist der fride- 
samen. ahtent keines Verlustes des gutes noch keiner wider- 
wertikeit der naturen, do durch üch fride werden und bliben 
mag, wenne fride ist ein tröstlicher gnodenricher ufenthalt geistes 
und naturen und aller liplicher krefte. dar umbe haltent üch in 
gemeinsamer einmütikeit gegen allen uwern swestem gemeinliche 
und schonet menglicheme sines friden. dar durch volget üch 
geworer gütlicher fride. 

67. [68 bj Den krancken siechen swestem süllent ir minne- 
samcliche dienen, wo sü uwer bedörfent, so erfüllent ir die werg 
der erbermde in friden uwere conciencien. den alten erbern 
swestern süllent ir vertragen und vor gen und ir stroffen getultec- 
liche liden one alles widersnallen: so blibent ir in verdienlicheme 
friden und erfolgent die fruht der gehorsa[C9 a]me. lont vürgon, 
lont übergon unverentwurtet alle swere wort, alle wider wertige 
wisen, alle missevellige geberde und gelesse und alle alaster, die 
man üch mag zü gelegen, verlierent ir joch wol uwer ere mit 
schammeröte in dem undergange, do durch ervolgent ir die fruht 
der demütikeit und werdent innerliche getröstet in hertzen friden, 
alse die lieben apposteln und die heiligen marteler von uszen 
nie friden gewunnent und doch gröslich getröstet und gestercket 
wurdent in allen irem uszewendigem lidende durch den inner- 
lichen friden, den sü von gotte enpfangen hettent, do er zü iu 
sprach: Pax vobis. die fridelichen daz sint die wolgemüten 
frölichen an dem fröudendantze in ewikeit. 

68. [73a] Ach liebe minnerin des geminten, ir lerent wol 
lihtecliche ietzentan in uwere jugent vil guter gnodenricher 
edeler sitten und inkere, daz ir an uwerme alter nit geleren 



2 widerparttien and gegenpartien 19 gon durch übergeschriebenes e 
in gen geändert A 22 unverentw.] vcrantwurtten nitt und alle wort 
30 hertzen friden 33 Ach — geminten] Ach lieben jungen vertruweten 



44 



Philipp 8trauch 



künnent noch mügent, und wo zü ir üch kerent, die wile ir noch 
jung sint, zu gotte oder zü der naturen oder zü den creaturen, 
daz wurt noch in kurtzen ziten an uwerme alter uwer wesen 
werdende, daz ir nüt anders getün künnent noch mügent, es si 

5 üch liep oder leit, es kumme üch übele oder woL dar umbe er- 
welent lieber daz edelste und daz sicherste, daz oucli ewig ist, 
wenne daz snodeste und daz betrogenste, daz zergenglich ist 
und docli alle weltliche hertzen verblendet in allerleye schine, 
do vor ir üch mit flisse hüten süllent, und lerent langbeitekeit, 

10 gesossetheit, stille und sittig sin und friden haben von innau in 
allen züvellen von ussen. so üch des me züvellet, so ir edellicher 
und schierer durchgefüret und geleret werdent aller lügende 
meister sin und der untugende nüt bevinden noch keines lidendes 
ahte haben in rehter wesenlicher dapferheit. daz schencke üch 

15 uwer geminter zu eime güten jore! Amen. 

69. [72 a] Ach min allerliebste clorerin, ir mügent wol 
glouben und wissen, daz nieman keinerleige kunst oder hantwerg 
geleren kan oder mag alleine nuwent von anesehende oder von 
hören sagende, wer ein hantwerg oder ein ander kunst leren 

20 sul, der müs es ane griffen und selber triben und üben dicke 
und vil und manig werg verderben und verhönen und aber und 
aber wider beginnen und ane vohen und nüt abe lossen, wie 
sure es ime wurt und wie übele es ime joch an der ersten zü 
banden get, untze daz man sin wol gewonet. ein moler müs zü 

25 dem ersten manig heslich ungestalt bilde und matherie molen 
und vil arbeit und varwe verlieren, ebe er zü einem meister 
wurt, ein schütze müs manigen verren abeschus tün, ebe er 
gelert unmittelich daz zil treffen, so müs ein kempfe oder 
schirmer vil streiche verfeien und manige wunde und dotstiche 

30 enpfohen, ebe er die schirmsiege alle wol geleren kan. 



2 oder zü der naturen fehlt 3 naturlich wesen 8 und — 9 söllent 
fehlt df. lernet langmutig gesatzlich etil 10 f. und von ussen in allen 
zufellen 11 lies mit ßC entlicher? 12 durchgefüret] Uwer natur überwindest 
geleret am nochmaligem gefüret gebessert A 14 a. h.] ahten d. und 
in innerlicher gelasshait 14 daz - 15 Amen fehlt 16-20 triben] Nie- 
inent mag noch (kan) kain kunst oder (noch (7) h. gelernen nun alleine von 
anstehen oder hören sagen (sagen hören B). ain ietlich juuger oder lern- 
kind muss sin hantwerk und sin lere selber angriffen triben 23 erste 
26. 27. 30 e 28 gelernet unmittelich kempfer 29 ain sch. wundS 
30 gelernen 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



45 



70. [72 a] Ach liebe min dochter, und dar umbe erschreckent 
nüt, ob ir die hohe aller öberste himelsche kunst der tilgende 
nit balde geleren künnent von anegesihte der edeln guten bilder, 
die ir bi üch in dem kloster hant an den erbern alten erlebeten 
swestern, also wo! zü gloubende und zu getruwende ist, daz 5 
etteliche begnodete erlühtete gottes frtinde under in sint, oder 
von hören sagende, also üch dis gegenwertige memoriale und vil 
andere guter materien durch daz jar von ussen vennanent und 
intragent, die ir dicke lesent in den büchern und hörent bredigen 
von den lerern. ir müssent es selber mit den wercken ane griffen 10 
und die tilgende leren ervolgen mit kreftigem widerstonde aller 
untugende und den friden ervolgen durch den unfriden und der 
tilgende gewonen durch vil anevehtunge der untugende, also ein 
lerekint zü jungest ein meister wurt durch empzige grosse ubunge 
und würcken des antwerckes oder künste, der es sich under- 15 
wunden und ane genomen het zü lerende, und dureh vil angest- 
berer correctien und herter streiche sins meisters. so der ie herter 
und strenger ist, so der junger ie me zü nimet und wesenlicher 
wurt in der künste siner lere und in aller wisheit 

71. [72 a] Dis kan üch nieman bas noch ktirtzlicher geleren 20 
wanne der heiige geist in der innerkeit uwers grundes, des ir 
mit flisse war süllent nemen. daz [72 b] ist üch frahtberer und 
nützer und dienet üch gewerlicher und eigenlicher zü eime volle- 
komenen erlühteten lebende wenne alle ingetragene sinneliche 
wort von ussen, die man glichen mag den fulen Zisternen wider 25 
dem innerlichen uzqualle der lebendigen qwelodern, entspringende 

1 — 10 lerern] und darumb bedarf wol ain ietlicher gott raynender 
menscb, der in der ewigen wishait schul die gewaren (waren C) göttlichen 
kunst aller gaistlicher lügend gern lernen und studieren will, das er in siner 
jugent anfach (anfacht C), e die natur veraltet und zü ungebögig wirt, und 
och nit erschreck, ob im die gnadenrich (aller gnadenrichest C) hoch aller 
(fehlt C) wirdigest kunst der demütigkait, der senftmtitigkait, der gedult und 
aller göttlicher tügend nit bald zu handen gat und sy nit Bchier gelernen kan 
von anBechen guter andechtiger bild[n]er der erlüchten gottes fründen oder 
von hören vil guter manender materien von den lerern an den bredigen und 
ocb dick lesen durch das gantz jor in vil guter hitziger tütschen bücher[n]. 
10 sy DL es selb 10 f. gr. kreffteklich on alles verzagen und 11 lernen kr.] 
nissigem 11 f. allen Untugenden 14 empzige] stette nissige 15 hand- 
werckes 16 f. a. c] angstlicher straffung 17 schülmaisters 20 Lieben 
studenttinen der aller Sicheresten kunst, die imer e wenklich weret, dis 21 
in der bildlosen schul uwers inderlichen gr. 26 quel oder (ho!) ensprengend 
(entspringenden C) quellen 



Digitized by Google 



46 



Philipp Strauch 



uz dem heiligen geiste, in dem ir alle worheit und wisheit gelert 
werdent in liehtricheme underscheide, was üch zu tünde und zü 
lossende sige, daz ir nüt me dörfent also dicke und also verre 
von ussen wasser holen von den lerem und den bihtern von 
5 ussen zu gehorchende und sü rotes zü frogende, sider daz ir den 
unerschöpflichen qwelburnen und daz lebendige waßer in dem 
innerlichen qwelburnen uwers herzen und uwere seien selber 
wol schöpfen mögent mit uwere vernünftigen beseheidenheit, 
.loh. 4, v-iff. daz selbe lebendige waßer unser herre Christus der heidinin 
10 rümde und intrüg, daz su sin grösliche begerende wart, durch 
daz su nit me alse dicke und alse verre von ussen dörfte wasser 
holen. 

72. [72 b] Ach liebe junge clorerin, getruwent gotte in 
allem widerwertigem getrenge one alle sturmwütige angestbere 

15 ungelossenheit und hüten t üch mit flisse vor dem ingetragenen 
zisternewassere manigvaltiger verbildunge des rotfrogendes und 
des klageberen uzsagendes, do mitte ir daz gnodenriche lieht des 
heiigen geistes vertunckelent und vermittelent, daz es in üch 
geschinen nüt enmag noch in kein ungerüwig verbildet hertze, 

20 daz also gar foul gerüinels stecket und einen gantzen jormercket 
in ime treit der manigvaltigen witsweifhkeit, des ir noch nüt zü 
gründe war genomen haut und gentzliche lidig worden sint. 
unser lieber herre Jhesus Christus, uwer geminter gemahele, gebe 
üch einen geworen kreftigen ker von allem mittele und manig- 

25 valtikeit, daz ir uwer leben vaste bessernde werdent und üch 
enpfenglich machent aller gnodenricher inflüsse des heiigen geistes. 
daz begere ich uz grosser inbrünstigen minnen von gantzeme 
gninde mins hertzen in allen gütlichen truwen. der selben truwen 
ouch ich üch in gotte wol getruwe. unser lieber herre Jhesus 

30 Christus, der aller getruweste, mache uns unser truwe fruhtber 
und nütze in sime heiligen wirdigen verdienende durch siner 
iemer werenden ewigen truwe willen! Amen. 



4 tragen von fehlt A Af von den b. zü hören nnd rates 6 lebend 
7 quellen 9 n. lieber h. haidin C 10 rumt 12 schöpfen C 13 
lieben jungen clarerinen 16 ratt volgcns 10 f. und — uzsagendes fehlt 
18 verdunsteret 19 nit gelüchteu mag kainem unrüwigen verbildeten 
hertzen 0 unrüwig vor ausgestrichenem ungerüwig B 21 des — 22 sint fehlt 
23 unser — gemahele] got 24 uch und allen gütwilligen got myneden 
menschen geworen fehlt 25 uwer — üch fehlt 26 machent] werden 
26 geistes inier ewenklich 27 daz — 32 willen fehlt 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



47 



73. [69 a] Bedenckent dicke uwer vergangen leben und 
uwer künftiges sterben und lerent lüste sparen und frühte 
samelen untze in uwer heimüte des ewigen lebendes, dem ir 
tegeliche nohent. do noch ir ouch dicke mit senender begirde 
rechenen und zilen süllent von eime liocligezit zu dem andern 5 
in htigelicher wol getrnwender züversilit und in fröudenricher 
hoffenunge. ebe joch wol von menschlicher krangheit cttewaz 
mittels dar in vellet mit übertretende uwere minnenriehen ver- 
messenheit, daz wurt gar balde verswendet und abe geleit in 
dem wirdigen verdienende unsers lieben herren Jhesu Christi 10 
und in dem gemeinen gebette aller uwer brüdere und swestere, 
so es üch ruwet und leit ist, — dar ane ir nüt zwifeln dörfent 
noch ensüllent. so wurt üch kein liden zü swere noch keine zit 
niemer zü lang, wellent ehte ir den künftigen frühten noch 
gedencken, alse die kündigen dienstmegede und die gritigen 15 
arbeiter und gut gewinner : die haut groszen Inst und ergetzunge 

in dem tegelichen gewinne, daz sü der zit nüt belanget noch 
keiner arbeit verdrüszet. 

74. [69 aj Dis möhte sich ein ieglich geistlich mensche und 
gottes diener billiche schammen, die alse gar trege und unaht- 20 
sam sint, daz sü der gütlichen arbeit alse gar übele verdrüszet 
und der gewinnigen zit so grosliche belanget, so sü in ettewaz 
trücken sint und nüt groszen jomer und begirde hant noch dem 
iemerwerenden ewigen übersinnlichen fröudenrichen gute, daz 

in so gar lihtecliche wol werden möhte durch gar kleine arbeit 25 
und übunge ires ordens regele zü haltende, Sünde zü midende 
und die gottes ere zü minnende und zü meinende mit ervolgende 
noch irme vermügende in getultiger geloszenheit, waz von innan 
oder von uszan truckes oder widerwertikeit iemer uffe sü ge- 
vallen mag, do durch in ouch got und alle sine lieben uzer- 30 
weiten frünt vorgegangen sint. 

75. [69a] Ach liebe junge gottes ritterin, lont üch den 
lobelichen lerer sanctum Jeronimum manen zü ritterlicher veste- 
keit in allen uwern anesttirmen und striten der manigvaltigen 
bekorungen und aller durehtigunge und widerwertigeme getrenge 35 
in der omelien über daz ewangelium von dem jüngesten gerihte, 
so unser herre allen sinen dienern Ionen und gelten wil in iemer- 
werenden ewigen früuden, waz sü ie arbeit durch sinen willen 

1 Gedenckent 8 f. dem wir alle tag teglich 4 ouch fehlt 9 ver- 
«wenet 16 gittigen 16 tröstliche erg. 32 lieben jungen g. ritterTn 



Digitized by Google 



48 



Philipp Strauch 



erlitten hant, und wil ouch, daz man ime gelte alle schulde in 
ewiger pine, die ime alle sünder schuldig sint. dar über der liebe 
sante Jeronimus alsus schribet in siner omelien allen cristenen 
menschen, die er brüdere nennet und sprichet alsus: 

5 76. [69 a] Lieben brüdere, alse wir in dem ewangelio gehört 
haut die erschröckenliche und ouch die tröstliche stimme, die do 
ist vorhtlich und ouch begirlich in dem urteil unsers herren 
AfattA.£.5,4i«Thesu Christi, sü ist erschröckenlich umbe daz er sprichet: 'gont 
von mir, ir verflüeheten in daz ewige für', und ist aber begirlich 
Matth. 2r>, 34 und tröstlich, durch daz er sprichet: 'kumment ir gebenedieten 
[96 b| mins vatter, enpfohent daz riche'. wer mag aber dise 
stimme gehören, er müße erschrecken und sich ouch frowen. ich 
bitte üch, brüdere, daz ir dise letze mit zü gekertem hertzen 
und mit wackerheit der sinne alle zit hörent, es ist nüt kümber- 

15 lieh noch arbeit, daz ir sü alle zit in uwere memorien habent 
und ir tugent und kraft one underlos bedenckent, wan wer diser 
letzen flißeclich war nimmet und obe er joch kein andere geschrift 
gelesen mühte, dise letze ist alleine gnüg alles übel zü verhütende. 
77. [69 b] Diseme heiigen gnodenrichen erlühteten lerer saneto 

20 Jeronimo süllent ir volgen und gehorsam sin, daz die wort des 
jiingesten urteiles unsers lieben herren Jhesu Christi one underlos 
in uwern oren tönent und stetecliche von der memorien uwers 
herzen niemer kumment, so gewinnet uwere conciencie zwene 
gar gute zuhtmeistere und pflegere: vorhte der hellen und zü- 

25 versiht der ewigen fröuden, die üch behütent vor aller Unsicher- 
heit uwers neusten zünemendes in allen wercken der volle- 
kummenheit, daz ir geneiget werdent zü gehorsame, zü lidikeit 
und unahtsainkeit alles liplichen trostes, zü luterkeit, zü demüti- 

1 und er wil 3 vielmehr, nach gütiger Mitteilung des Herrn Oermain 
Morin 0. S. B., August ini semw 78 (Migne, Augustini Op. 5b, 1897), der aber 
in Wirklichkeit Caesarius von Arles zum Verfasser hat 4 also spricht us dem 
h. ewangelio von dem jüngsten gericht in vermanender wis 5 hailigen ew. 12 
onch fehlt 15 arbaitlich 19 heiigen] selben 24 z. u. pf.] getrüw torwarten 
25 f die uch die porten uwer fünf sinn zu sliessen und stettenklich behüten mit 
nissiger gewarsamekeit vor allen rober(n) und diebeu der schadberen (schädlichen C) 
süntlichen verbilduiig, die uch die veste uwer unvermossigoten concientz erstigen 
und verstellen möchten, das ir berobt wurdent aller gütwilligen vermeasenheit 
und der gnadenrichen inflüss des haiigen gaistes und aller uwer andächtigen 
gutten begirden. disse zwen notfesten sorgsamen engelischen wachter und 
portner vorht der hell und züversiht der ewigen frtid behütent uch och (fehlt C) 
vor a. Unsicherheit 26 wercken] grotten 27 geneiget] begirlich lidikeit] 
lediger abgeschaidenhait 28 trostes] lustes und zitlichen gefeUes 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



49 



keit, zu minnesamkeit und zu allen gütlichen tutenden, und 
grosze begirde gewinnent zu lidiger armüt. zu nocligültiger koste, 
zü grobeme gewande, zu demütigeme gelesze, zu einfaltikeit aller 
uwere worte und wercke, zü underworfener dienstberkeit in 
snöden unwertlichen ambahten, also schußein weschen, hefene 5 
schüren und küchin vegen und andere unahtbere demutige werg 
des gelich, und uwere nature begnüget mit gar kleiner notdurft. 
do zu vermanent üch die zwene zuhtmeistere und pflegere uwere 
conciencien, daz ist angestbere vorhte der hellen und fröuden- 
riche züversiht des ewigen riches. 10 

78. [69 b] Dise angestbere vorhte und oucli die züversiht 
entzündent uwere minne so gar inbrünstecliche sere, daz ir große 
minnenriche begirde gewinnende werdent zü dem aller liebsten 
willen gottes, daz si we oder wol, sure oder süße, darben oder 
haben, sterben oder genesen, wellent eilte ir noch des lieben 15 
sante Jerouimus rot dicke gedencken an daz jüngste urteil unsers 
lieben herren Jliesu Christi und wie die einvaltigen. die demütigen, 
die eilenden und die versuchten denne werdent sitzende zü 
oberste an dem tische der ewigen fröudenrichen wurtschaft aller 
Wollüste mit dem armen Lasaro in Abrahams schos, und die 20 
gritigen eigenschafter, die hochfartigen herscher und die mut- 
willigen lustsücher, die fülleriche und die trunckenbolte, die 
werdent sitzende zü underste an dem tische der ewigen pine in 
aptgründe der hellen mit dem liehen manne, der hie in zit so 
grossen wollust hette und ime nu ist verseit ein einigester tropfe 25 
waßers, des er begerte von dem armen Lazaro, dem er in siner 
grozzen richeit verseife ein almüsen brotes. 

79. [69 b] Ach liebe minnenriche brut des geminten brüte- 
gomes, dis memoriale sige üch von mir gegobet und geopfert 
zü uwere geistlichen anlege und wilunge, darin ich mich getruwe- 30 
liehe bevilhe und gemeinsame und in alles daz gut, das got 
iemer durch üch gewirket, also man gewönliche sich befelhen 



2 begirde] naiglichait 5 ämptern (i und k.] dye kuche unahtbere] 
verworffhen 7 benuget och 8 do — 10 riches] so ir gedencken an die 
ewigen fröd des himels, die ir da durch ervolgen (erfolgeut C), und an die 
endlosen (e. ewigen C) imer werenden pin der grüssenlichen (grüssenlich C) 
Tinstern hellen, die ir da durch ablegen und gelediget und gelost werden 
8 vermanet A 13 frodSrich IG gericht 21 gittigen heracher die 
riehen kargen [und] 28 lieben minnenrichen brät (braten C) 28 f. br. 
Jhesu Christi 29 gegabet 30 anlegung u. willung 

4 



Digitized by Google 



50 



Philipp Strauch 



und gemeinsamen so] in aller geistlicher gottes brüte ersten 
anevang mit etlicher minnesamer goben, do bi man ir gedencken 
müge vtir sü zii bittende und zu begerende, daz ouch lüterliche 
mine begirde und meintinge ist in diseme memoriale. in der 

5 selben meinunge ir es ouch von mir uf nemen söllent und nüt 
zu einer lere oder underwisunge, wenne so ich vtir mich nime 
und ansihe die gnodenrichen fruhtberen wort unsers lieben herren 
.Thesu Christi und sine inbrünstige minnesame trostliche lere, die 
er so manigvalteclieh gesprochen und geschriben het durch sine 

10 lieben jungem und die heiigen ewangelisten und [70 a] ouch der 
heiige geist durch die hohen wirdigen lerere sanctum Gregorium, 
sanctum Augustinum. sanctum Jeronimum, sanctum Ambrosium, 
sanctum Bernhardum und durch vil andere sin er löbelichen lerere 
und erlühteten fründe alse der Tauweier und der Suse und vil 

15 ir glich, von den ir und die andern frouwen in dem clostere 
andehtiger guter materien und bewerter erlühteter lere und 
exempel gnüg geschriben hant, alse zu gloubende ist, dar gegene 
dise materie glichet alse eine grobe ruhe tistele gegen allen den 
edeln liligen und rosen, die ie gewühsent. 

20 80. [70 aj Doch so het mich große minne überwunden und 
hie zu getriben, die üch billiche vil me reißen und bewegen sol 
denne die wort, das ir gestercket und bestetiget werdent in 
uwerre ersten minnen und in dem guten beginne, ist joch wol 
die hitzige flamme uwers ersten ernstes ettewaz verflecket und 

25 in gevallen, so sol doch der minnebrant uwere ersten begirlichen 
minnenrichen meinungen und vermessenheit ewicliche bliben 
glünsende und glügende und niemer gerwe erlöschen, durch daz 
ir die goben gottes, sure und süße, in steter dangberkeit fruht- 
berliche genemen und geliden künnent in aller widerwertikeit, 

30 die in den ördenen und in den samenungen ie eins von dem 
andern tragen und liden mtts von ungelicheit wegen der con- 
plexionen der gemüte und der wisen und aller geleße und anparen 
und ouch ein iegeliches von des andern minne und ernst und 



1 geistlichen brüten erste A 14 Tahler B; tallor C süss 15 ge- 
liehen in dem cl.] und niänigklich Ii; und mänig C 16 andachtig gilt 
mattem C 16 /*. nnd exempel fehlt 18 ein grober rücher 19 ilgen 
22 bestiget Ä 23 uwerre] der 26 niauung 27 gerwe] gantz 30 
Orden samlungen 32 der g. und der w.] der wissen und geberdeu und 
anparen fehlt 33 und andeht — 51, 1 boI] zu andacht sol entzünden 
(enzundt (?) und bewegt werden und bischaft und lere nemen 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



51 



andelitiger übunge exempel und bischaft nemen mag und sol, do 
durch es gezogen und gereißet werde und gnode enpfohe sin 
leben zu beßernde und den aller liebsten willen gottes zu 
ervolgende und tegeliehe frühte zu sammelnde in solicher wider- 
wert iger anevehtunge und onch lüste zu sparende in vil willen 5 
brechendes und abeganges in allen lösten der fünf sinne, dar uf 
die ördene und alle sammenungen us dem heiigen geiste erdoht 
und gestiftet worden sint in güter göttelicher andehtiger 
meinungen. 

81. [70 aj Darumbe machent üch selber dise kurtze zit und 10 
alles uwer leben fruhtber und nütze in steter behütsamkeit uwers 
friden mit swigender senftmütiger getult, daz ir nieman kein 
ergerlich bilde vortragent, also ir do vor bi dem closterhunde 
manigvaltecliche gemanet sint, wanne fride und brot (?) und Sicher- 
heit der conciencien ist gar eine fruhtbere gute gesunde spise, 15 
do mit unser herre sine uzerwelten lieben frönt in der wüste 
und in den weiden gar genuhtsamcliche füret und stercket in zu 
nemender kraft geistes und naturen. der selbe unser herre Jhesus 
Christus, der uwer anefang gewesen ist, der sige oueh daz mittel 
und daz ende alles uwers lebendes und mache mich mit üch 20 
teilhaftig alles des gutes, so uf ertrich ie beschach und iemer 
beschiht, daz wir mit ime und mit allen sinen uzerwelten in 
ewigen fröuden richsende werdent iemer ewicliche. das erwerbe 
uns Maria, die wirdige muter gottes, und der liebe herre sante 
Franciseus und die heiige frouwe sante Klore und alle engele 25 
und heiigen! Amen. 

[71b] Dis vorgeschobene gegenwertige büchelin 
genant des heiigen geistes minneglünsenden ganeisterlins 
schürebrant het corrigieret und probieret der erwirdige 



2 und g. w.] werde exempel zu nemen enpfahen 4 f. w. übender anev. 
hf. w. br.] willens brechen und uuderganges 6 in allen l.J aller naigklichait 
der naturen in allem frömdem nachwessigem gesucht 7 gamlungen 9 mannng 
12 innerlichen hertzen friden 13 vor bi] von und bi 14 gewarnet 
14/". sicherh. d. c] ain lutere rüwige concientz 15 eine — spise] aiu ffucht- 
peres gesundes wol gekochetea inüss und ain gesunde tracht IG userw. 
spiset ja dick sin (sinen userweiten C) so! 17 gar gen. f. fehlt sy in 
(mit C) 18 s. spiser u. h. 19 ist gew. 21 gütten gesebach 22 ge- 
sebiht 24 wirdige fehlt 25 junckfrow Clara 26 h. und engel 

4* 



Digitized by Google 



Philipp Strauch 

geistliche vatter Brüder Claus von Blovelden sante 
Franciscus orde.n. Der selbe von Blovelden oueh dise 
nehsten drie noch geschribene regelen dar zu schreip 
der vor geschribenen zweien jungen clorerin einre, die 
ime ouch dis selbe büchelin gap zu lesende durch daz 
sü sich deste sicherlicher möhte darane gelossen und 
sich dar noch gehalten durch alles ir leben, und vohent 
die drie regelen alsus ane, alse er sü der jungen 
clorerin mit sin selbes hant schreib. 

10 82. Die erste regele des von Blovelden. Wenne du getrenget 
wurst, es si in trucke von geiste, nature oder der weite, so hab 
ein züfluht zu dem unschuldigen lidende unsers herren .Tliesu 
Christi und du solt dich do mitte woffenen also die wisele tut: 
so sü stritet mit dem basilisco, so bisset sü in die bitter rüte 

15 und stercket sich dar mitte, daz sü in überwindet, also wart nie 
kein liden so gros, were daz es der mensche mit innerlicher 
bekantnisse würfe in daz unschuldige liden Jhesu Christi, es 
wurde ime lihte zu tragende, des zu einer figuren: do die kint 
Exod. 15,23 ff. von Ysrahel koment gen Elym und daz wasser so bitter was, 

20 daz sü es nüt möhtent getriucken, do würfen t sü von rote des 
heiligen geistes holtz in daz wasser und wart in süsse zu 
trinckende. also wurf daz holtz des crützes Christi in alles 
zuvallende liden, ez wurt dir lihte zu tragende. 

83. Die ander regele des von Blovelden. Sich, wanne dir 
25 keinre hande trug züvellet, es sige von dem menschen oder von 
naturen oder von dem bösen geiste, so frouwe dich inneklichen, 
daz du ein gewores zeichen hast, daz du ein gemintes kint gottes 
bist, ist daz du es in glicheit uf nimest, wanne er selbes sprichet: 



51,27 — 52,9 rote Überschrift in A, dafür in BC: Dysser zwaicr junger 
Clorerin ainer gaistlicher vatter, ain gelerter lesmaister von sant Franciscus 
orden genant Bruder Claus von Blafelden (Bol ausgestrichen, dann Blafellden B; 
Balfellden C), der las und corigierte[n] ir diss büchlin disser gegenwärtigen 
mattere (uiarttere! C) des Schurebrandes und schraib ir da by, das es im gar 
wol gefiel und ir wol zu gehörte und dunckt (bedunckt (7) in nit notturftig 
sin üt me ze schriben als sy begert. doch von manigfaltigera grossem liden 
und getreng daz sy im klaget, do schraib er ir och disse reglen hier nach 
10 Blafelden B; Balfelden C 11 trücken 13 vgl. K. v. Megenberg 152, 16 f. 
15 daz fehlt den überw. 17 erkantnust 20 trincken 23 bo wirt es 
24 Blovenden A; Blafellden (so auch 53, 8) B; Balfelden C 25 trück zu 
vallend den 



52 



r» 



Digitized by Google 



Schtlrebrand. 



53 



'die ich liep han, die stroffe ich und kestige siV, und sanctus Apoc. s, 19 
Paulus sprichet : ' weliches minnenkint geischelt nüt der minnen- iitbr. 12, a 
riche vatter?' dar umbe so hüte dich mit alleme flisse, so der 
geminte gemahele Jhesus dir lot soliche trücke zu vallen, daz 
du sine kleinöter, die er dir sendet zu eime woren bewerende 5 
siner niinne, üt versmohest und underwerfest sin süsses joch und 
sine lihte bürde. 

84. Die dirte regele des von Blovelden. So nim war, daz 
dir kein liden nit me geschaden mag denne also vil also es die 
grundelose vürsihtikeit gottes über dich verhenget, ist daz du es 10 
mit geordenter minne enpfohest. und darumb so hab innerliche 
fi'öude, wenne dir getrenge zu valle, wenne der edele weisse 
wurt nüt geleit in den ereschatz des küniges, er werde denne 
[72 a] vor wol getröschen und die helme do von geswungen, 
noch daz golt noch daz silber wurt nit clore, es werde denne 15 
vor wol gebraut, also mag daz bilde diner seien und dines 
lebendes nüt wider gebildet werden noch dem bilde Jhesu 
Christi, du werdest daune vor in dem camine manigvaltiges 
lidendes gereiniget und gelütert, dar umbe solt du liden mit 
fröuden enpfohen, daz dich so minnecliche widerbildet noch 20 
dime geminten Jhesu Christo und dich bereitet in den ereschatz 
des ewigen küniges. 



85. [72 b] Wissent, die drie regeln uwers erwirdigen geist- 
lichen vatter, zu aller nelist hie vor geschriben, gevallent mir 
gar zü mole wol und sol üch billiche ein tröstlicher uf enthalt 25 
und behelf sin in allen lidenden trücken und getrengen geistes 
und naturen und in allen anestürmen der bekorungen von innan 
oder von ussan. daz alles grosse goben gottes sint, die er [73 a] 
niemanne git danne sinen sunderlichen uzer weitesten aller liebsten 
fründen, die ir süllent leren in uwere jugent dangberlichen von 30 
gotte enpfohen und wisliche ansehen und fruhtberliche uzliden, 



1 den — den C 2 geliebtes kind gaisslet 5 zii sendet zu 6 f. 
underwirff dich sinem sxissen joch u. siner lichten b. 9 also vil fehlt 
12 fallet 13. 15 wirt 17 bildet 23 Wissent — 2ti in] Druse dry 
r. söllen dir billich ain tr. uflenthalt sin in 26 f. gaistlich u. nattnrlich C 
27 allen den 28 gr. mjurich g. g. 29 sunderl. uzerw. fehlt 30 du 
solltt lernen in diner 31 u. wislichen enpfahen 



Digitized by Google 



54 



Philipp Strauch 



daz ir an uwerme alter üt gesumet werdent und der frfthte 
ewicliche mangeln und enbern müssen t. 



1 du dinem nit g. werdest 2 enb. u. m. müssest, got geb dir 
sinen aller liebestcn willen und diner sei seligkait in allen Sachen ewenklich 
zu erfolgen. Amen, (rot) deo gratias. Hierauf in B noch (rot): Bit got für 
die schriberin mit ainem ave maria; in C noch (gleichfalls rot): Dysse 
mattery genampt der Schurenbrand ist mit gottz hylfF usa geschriben zw 
mittem mayen im lxxxxix jar und die schriberin bitt demütigklich ir gegen 
gott zu gedencken sy sy lebend oder tott. 



Der hier zum Abdruck gebrachte Traktat ist uns in einer 
Straßburger und zwei St. Gatter Handschriften überliefert : daß 
ich sie. hier in Hatte wiederholt mit Muße benutzen konnte, dafür 
fühle ich mich den Herren Archivdirektor Prof. Wiegand und 
Stiftsbibliothekar Dr. Fäh dankbar verpflichtet. 

A» Die Straßburger Handschrift 2185 des Bezirksarchivs 
des Unter Elsaß enthält das für die Gott es freund frage so wichtige 
Briefbuch, in dem uns die Autographen des Fünfmanncnbuches 
und der Vier Jahre Merswins sowie die Korrespondenz des 
Gottes freundes aufbewahrt sind. In ihm findet sich Bl, 50 a— 73 a 
auch unser Traktat, der durch den ihn angewiesenen Platz 
jedenfalls in loserer oder engerer Beziehung zu den Bewohnern 
des Grünen Wort lies stehm muß. l r nmittclbar ihm voraus gehen 
(Bl. 51b — 55b) die bekannten Notizen über die Gottes freunde, 
die Schmidt, Die Gottesfreunde im 14. Jahrhundert S. 180 — Wl, 
zum Teil auch wieder Nie. von Basel S. 02 — 05 abgedruckt hat, 
denen sich Bl.55b — 50 a ein Brief des Gott es freundes an Nicolaus 
von Laufen anschließt, abgedruckt bei Jundt, Les Amis de Dieu 
S.l'Jlf.; dagegen folgen auf den Traktat Bl.73ab die von 
Schmidt im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 1858 
Sj). 370. 415 ff. mitgeteilte Gemnlpoesie. zu den Bildern, die 
das Memorial des Johanniterordensmcisters schmückten, sowie 
(Bl. 71a — 80 b) andere Beimercicn über den sterbenden Menschen 
und über den Namen Jesus. Mögen wir auch in letzteren nur 
wertlose Spielereien sehen, im Kloster auf dem Grünen Wörth 
dachte man anders und schmückte die Jesusreime mit kunstvoller 



Digitized by Google 



Schttrebrand. 



55 



buntfarbiger Initiale und sonstigen Arabesken, die von demselben 
Maler herrühren, der auch in der Handschrift tätig war, 

vgl. Zeitschr. für deutsche Philologie 84, X6~>. MM. 

K. Schmidt hat Nie. von Basel S.OUf. zwei Abschnitte aus 
unserem Traktat (s. oben Nrr. Gl. 02) unter der Überschrift: 
'Notiz des Barfüfsers Claus von Blovelden über die Steiger bei 
Winterthur' veröffentlicht und bereits in seiner älteren Abhandlung 
über die Gottesfreunde (8. HO) in ihm einen Bewohner des Grünen 
Warthes vermutet; Jundt (Amis S.HoAnm.) sah schärfer und er- 
kannte, worüber auch der Traktat selbst keinen Zweifel läfst 
(s. das Vorwort zu Nr. 62), dafs Nicolaus von Bio fehlen ihm nur 
eine redaktionelle Tätigkeit hat zu teil werden lassen, und zwar 
gewifs nur in seiner Eigenschaft als geistlicher Berater der beiden 
ilarissen, an die sich der Traktat wendet, als deren Ordensbruder: 
die Schrift selbst könne nur ihren Ursprung im Strafsburger 
Johanniterhause zum Grünen Wörth haben. Karl Bieder endlich, 
der neuerdings (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 
N. F. 17, 205 ff. 480 ff.) in Nicolaus von Laufen den geistigen 
Urheber sämtlicher Schriften Mcrswins und des Gottes freundes 
erblicken will, ein Versuch, dem ich zunächst, ein weiteres Kin- 
gchen mir vorbehaltend, äufserst skeptisch gegenüberstehe, bezieht 
a. a. 0. S. 402 ohne weiteres die von Schmidt mitgcttilten Ab- 
schnitte gleichfalls auf Nicolaus von Laufen und mufs diesen 
konsequenterweise, obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, auch für 
den Verfasser des Schürebrand-Traktates halten. Kr liefs sich 
dabei wohl von dem irrigen, übrigens schon von Schmidt geteilten 
Glauben leiten, alles, was wir über die Geschichte des Grünen 
Warthes wissen, auch das Briefbuch sei von Nicolaus von Laufen 
eigenhändig aufgezeichnet. Dagegen spricht schon der eine Um- 
stand, auf dessen Anführung ich mich hier beschränken darf, dafs 
im Briefbuch die Autobiographic des Nicolaus von Laufen (Jundt, 
Amis S. 408 f.) von anderer Hand geschrieben ist als der, die 
sonst im Briefbuch tätig war. Gerade diese andere Hand dürfen 
wir aber zunächst doch für die des Nicolaus von Laufen halten*). 

') Xicolaua sagt in seiner Autobiographie, er habe, auf dafs man jetzt 
und in Zukunft seiner nicht vergäße, ihn in das eigene Gebet einschließe, 
diese Lebensdaten auch 'in etliche andere Bücher' eingetragen. Wenn das 
richtig ist — und warum sollte man es bezweifeln ? — dann kann keine der 
sonst noch vorhandenen Handschriften, die sich auf das Johanniterhaus zum 
Grünen Wörth beziehen, hierfür in Betracht kommen, denn nur das Briefbuch 



56 



Philipp Strauch 



Er hat die Notizen über sein Leben nachträglich in das bereits 
gebundene Brief buch eingetragen, und zwar auf das Pergament- 
blatt, mit dem die. Innenseite der hölzernen Rückendecke bis in 
die aller jüngste Zeit beklebt war; jetzt ist das Blatt vom Deckel 
losgelöst worden. Seiner, jedenfalls derselben Hand begegnen wir 
noch an einigen anderen Stellen des Briefbuches wieder, um, wo 
Baum frei geblieben war, nachträglich Einschaltungen zu machen. 
Ich brauche auf sie hier nicht einzugehen, nur eines möchte ich 
bemerken: möglicherweise — ganz sicher bin ich nicht — gehen 
auch einige nachträgliche Korrekturen und Einfügungen früherer 
Auslassungen auf die zweite Hand, die des Nicolaus von Laufen 
zurück. Aus dem eigentlichen Brief buch kommen nur zwei Stellen 
(Bl.29a, 51b) in Betracht, häufiger aber begegnen solche Korrek- 
turen im Traktat Schärebrand und seinem Anhang (Bl. 57a, 57 b, 
58a, 59a, 50b, 01a, 02a, 01a, 01b, 07a, 08a, 73a). Diese 
Besserungen und Ergänzungen müsse)/ auf einer Vorlage beruhen, 
die auch die St. Galler Handschriften voraussetzen. 

Während das Briefbuch (A) seiner Abfassung nach in die 
letzten Jahre des 11. Jahrhunderts weist, sind die beiden St. Oaller 
Handschriften (BC) gerade hundert Jahre später geschrieben, 
1198 und 1199. 

B. Hs. 1003 (Scherrers Verzeichnis S. 381) trägt auf dem 
Rücken von einer Hand des 18. oder 19. Jahrhundeiis die Auf- 
schrift Ascetisch: Werklein für die jungen Schwestern zu 
St. Leonhard. Sie ist eine Papierhandschrift in 12° vom Jahre 
1198, von einer weiblichen Hand geschrieben ; es hei f st S. 530 in 
roter Schrift: Difi Büclily ward uss ge*chriben und vol endet 
an dem abent unssers hailigen vatters S. Ludwicus barfussn 
orden als man zalt nach der geburt Christi mcccc und in dem 
lxxxxvm jor. Biten got für die schriberin mit ain ave maria. — 
S. 1—9 leer. S. 10—191 steht unser Traktat mit folgender roter 
Uberschrift, bei deren Wiedergabe ich der Einfachheit wegen gleich 
die Varianten der Hs. C mit berücksichtige: Hye nach volget ain 
loblicher Tractat und gaistliche lere und underwissung, die ain 
gaistlicher vatter und lerer der hailigen geschrift gemachet und 
geschickt hat zwaien sinen gaistlich tochtern, dar in alle 
gaistliche menschen (fehlt C), besunder anfahend jung (jung 



hat jene Aufzeichnungen. Es ist für andere Zwecke geboten, dies besonders 
zu betonen. 



Digitized by Google 



Schürebr&nd. 



57 



anfallend C) lftt genügsame lere und anraitzung (ain raitzung C) 
mügen finden zü hailsamer vollfiirung irs states, da durch sy 
mugen erlangen die cron der ewigen selligkait und ist diss buchlin 
genampt der Schürebrand. Dan>i folgt i)i B: Diss Büchly 
ist der Swestern zu S. Linhart (Leonhard) vor der Statt Sant 
Galen. Die Worte Linhart vor der Statt, ebenso Galen sind später 
ausgestrichen und durch den Xamen des neuen Besitzers ersetzt 
worden: unter Statt steht jörgen; gemeint sind die. Schwestern 
zu St. Jörgen Benediktinerordens bei St. Gallen, denen auch 
die jetzige St. Galler Hs. 007 mit Merswins Xeun Felsen gehörte 
(die Parenthese in der Zeitschr. für deutsche Philologie 34, 250, 
letzte Zeile, ist also zu streichen). — S. 1 05— 201 stehen die drei 
Regeln des von Bio fehlen, S. 202—205 leer, S.2UO — C S. 170 — 
(rot) Dyss nach geschriben mattere wisset und sait (S.207 — 2(15; 
C S. 177—230) von dem abgründ der Bosshait (vgl. Zeitschr. für 
deutsches Altertum 8, 452 und Scherrer a. a. 0.) wie der mensch 
das mug erkenen und uss rütten (gerütten (') und dar nach 
(S. 273—330: C S. 241—313) von dem abgrund des liden 
(lidens unsers heren Jhesu C) Christi, von (und von C) sinen 
umbständen und wirdigkaiten und zu letz (dem letzsten C — 
.S'. 345 — 530; C S. 315 — 510) ain andachtig (andachtiger C) 
passion [S. 344: C S. 315 mit vill andechtiger Sprüchen und 
inzüg der hailigen lerer] (mit grossen vlis zu mercken also an- 
fachend got zu ainem ewigen lob. amen C). S. 540—545 leer. 

C. Hs. 070 (Scherrers Verzeichnis S. 360) zeigt auf dem 
Rücken von einer Hand des 18. oder 10. Jahrhunderts die Auf- 
schrift: Lehre an die geistlichen Töchter, schürenbrand genannt. 
Es ist eine Papierhandschrift in 12° aus dem Jahre 1400, von 
weiblicher Hand geschrieben, siehe die Lesarten am Schlafs unseres 
Traktats und den roten Eintrag auf S. 510: Dysses büchlin gott 
zu lob uss geschriben am dritten tag nach unser lieben frowen 
gebnrt tag als man zalt nach der geburt Christi mcccc und in 
dem lxxxxix jar und ist dyß buchlin den swestern des dritten 
orden sant Francissen im wunnenstain zu tüffen. die schriberin 
bitt demuttiglich umb gottz willen ain ave maria. Dafs die 
Handschrift Eigentum des Frauenklosters Wonnenstein hei Teufen, 
Kanton Appenzell, war, ist auch au f der Innenseite des Deckels von 
einer Hand des 17. oder 18. Jahrhunderts vermerkt. S. 1 steht 
liber Monasterii S. Galli 1782. S. 2 dieselbe t " r berschrift wie in 
B zu dem dann folgenden Traktat Schürenbrand (S. 3—174): 



Digitized by Google 



58 



Philipp Strauch 



nach dem Worte Schürenbrand : und ist der swestern im wunne- 
stain in tfiffen by sant Gallen. Der Traktat beginnt erat mit 0, 9: 
es sind davor ca. 0 Blätter abhanden gekommen, ebenso findet sich 
zwischen S. 3 und 4 eine Lücke von ca. 3 Blättern (0,20—8,9). 

Im übrigen deckt sich C völlig mit B, hier wie i?i den folgenden 
Traktaten. Falls nicht C direkt aus B abgeschrieben ist, was ich 
annehmen möchte, gehen jedenfalls beide Handschriften auf eine 
und dieselbe Vorlage zurück. B ist etwas sorgfältiger geschrieben 
als C: ich bin bei der Angabc der Lesarten in der Schreibung 
meist B gefolgt. Wo inhaltliehe Übereinstimmung herrscht, uml 
dies ist fast immer der Fall, habe ich im Apparat die Lesarten 
von BC ohne jede Sigle gegeben, nur gelegentliche Abweichungen 
besonders kenntlich gemacht. Daß ich mich bei der Angabe der 
Varianten auf das Wesentliche beschränkte, wird Billigung finden; 
gewiß bin ich manchem auch jetzt noch zu mitteilsam gewesen. 

Vergleichen wir nun die drei Handschriften miteinander, so 
fällt zunächst auf, daß während, für die Abschnitte 1 — 54 ABC 
dieselbe Anordnung aufweisen, von Abschnitt 55 a?i die Reihen- 
folge in BC wesentlich von der in A abweicht. Aus gleich zu 
nennenden Gründen habe ich bei meinem Textabdrucke hierin den 
Handschriften BC den Vorzug gegeben. Die Folge in A ist nach 
Abschnitt 54 diese: 57— Oo! 03. 00. 07. 73—81. 55. 50. 05. Ol. 
02. 04. 82—84. 09—72. 85. 08. Auch äußerlich markiert sich 
diese Abweichung: mit Abschnitt 57 (Bl.G8a) setzt wohl die gleiche 
Hand, aber mit anderer Tinte neu ein, und während bis dahin 
die Zeilenzahl auf der Seite 39 beträgt, vennehrt sie sich für 
Bl. 08 a — 71a auf 42 ; 3, um Bl. 71b — 73 a, von den drei Regeln 
des Xicolaus von Bio fehlen (s. u.) an, wieder auf 30 j 8 herab- 
zusinken. Es handelt sich in A wohl um eine nachträgliche An- 
fügung auf Grund einzelner Blätter, die in Unordnung geraten 
waren: dafür sjnicht schon der l. T mstand, daß die drei Regeln 
(Xrr. 82 — 84), die Xicolaus von Bio fehlen bei der Durchsicht des 
nicht von ihm herrührenden Tiaktates diesem hinzugesetzt hat, in 
A mitten zwischm Teilen des Schürebrand stehen, Abschnitt 85, 
obwohl doch die Eingangsworte zu aller nehst hie vor geschriben 
seine Stelle unmittelbar nach 82—84 verlangen, von diesen durch 
09 — 72 getrennt ist. Auch das Ende von Abschnitt 81 gibt sich 
deutlich als Schluß des eigentlichen Traktaten zu erkennen, auf 
den dann die drei Regeln folgen. Die Verwirrung erklärt sich 
um so leichter, als wir annehmen dürfen, daß einzelne Abschnitte 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



50 



ursprunglich wohl als in sich abgeschlossene Apostrophen an die 
Ciarissen gedacht waren; vgl. die in BC feldenden Schlußworte 
der Xn\ 12. 04. 08. 72, wenn auch nicht verschwiegen werden 
soll, daß in A Abschnitt 04 vor den drei Regeln des Blofeld ers 
steht, der Neujahrsgrufs 08 in A das Ganze abschliefst. Vielleicht 
waren die sjx'iter zum Traktat vereinigten Ermahnungen ur- 
sprünglich zum Teil auf lose Blätter geschrieben. Zwei Ab- 
schnitte, die nur in A und hier nach Xr. 44 stehen, sind hernach 
nochnuils in dm Abschnitten 57. 00. 03 rerwertet und deshalb an 
erster Stelle rot durchstrichen worden. 

Der zwei jungen Ciarissen «) zugeeignete Taktat Des heilgen 
geistes minneglünsenden ganeisterlins schürebrant (3, 1 f. 4, 12. 
51, 28 vgl. 4, 30) hat in seiner ursprünglichen Gestalt zweifellos 
einen Bewohner des Straßburger Johanniterhauses zum Grünen 
Wörth zum Verfasser. Dafs er kein Franziskaner war. erhellt 
daraus, dafs er sich 4, 20 ausdrücklieh von den (uwern) erwirdigen 
geistlichen vettern und mütern scheidet, bei denen jene beiden 
Ciarissen hinreichend göttlichen Rat und trostreiche Unterweisung 
fänden, vgl. auch 30, 20 von allen priestern uwers Ordens. Er 
selbst möchte sein i Memorial c' (45, 7. 40, 20) nur als bescheidenes 
Angebinde zu ihrer Einkleidung aufgefaßt wissen (Xr. 70; vgl. 
auch die Anreden in Xrr. 23. 52), aus Liebe gespendet (4, 20 ff. 
12,8. 40, 27 f. 50, 20 ff.), nicht als Lehre oder Unterweisung; 
diese fänden sie in der heiligen Schrift, bei den heiligen Vätern 
und anderen erleuchteten Gottes freunden wie laufer und Seuse, 
mit denen sich seine Materie so wenig vergleichen ließe, wie die 
grobe rauhe Distel den edlen Lilien und Rosen. Dem Xicolaus 
von Blofehlen, der nach 51,20 den Traktat nur • korrigierte ' und 
1 probiertet, d.h. gut hieß und von sich aus nur drei Regeln an- 
fügte (Xrr. 82 — 84), stellt sich der Verfasser des Schürebrand mit 
den Worten gegenüber: die drie regelen uwers erwirdigen geist- 
lichen vatter gevallent mir gar zu mole wol (53, 23 ff.) und 
wenn derselbe in Xr. 04 (41, 18 f.) unsere lieben stiftere, die 
heilgen großen gottes frunde nennt, so können durunter, wenn 
wir die Uberlieferung des Traktates im Brief buch berücksichtigen, 
doch wohl nur die Gründer des Klosters zum Grünen Wörth 
(unser kloster 30, 17 f., unser kus 40,7), insbesondere Merswin 



') Beiläufig darf vielleicht auf Xicolaus von Basel S. 15S ff, vcricicsen 
werden. 



Digitized by Google 



60 



Philipp Strauch 



vorstanden werden. Im engeren und weiteren Sinne werden die 
Gottes freunde noch so)ist an vielen Stellen des Daktates erwähnt 
(3, 20. 7, 14. IS, 17. 23, 29. 27, 7 Losa. 28, 14. 34, 25. 38, 32. 
30, 17 ff. 40, 8 ff\ 42, 3. 45, 0. 47, 30 f. 50, 14. 51, 10. 53, 29 f.). — Das 
Gebet Xr.38 apostrophiert in der Fassung A, sonstigem Johanniter- 
f/ebraueh gemiifs, dir beiden Johansen und erst nachträglich sind 
dafür, vivKeicht durch Nicolaus von Bio fehlen, in BC (20, 13 f. 
20 f.) der heilige Franciscus und s. Clara eingesetzt worden. Der 
Verfasser hatte zunächst ein Gebet, das bei den Johannitern auf 
dem Grünen Wörth verwendet wurde — es steht auch im Johanniter- 
memorial Bf. 273 ab ') — einfach in seine Ermahnungen herüber- 
genommen, ohne es besonders für diesen Zweck zu redigieren. 
Die Warnung sodann (Xr. 12, vgl. auch Xr. 13 und 31, 14 ff.), 
nicht in den Fehler so mancher Klöster zu verfallen, in denen 
die Nonnen durch Erhöhung eifies besonderen Heiligen sich unter- 
einander spalten und, je nachdem sie Johannes den Täufer oder 
Johannes den Evangelisten bevorzugen' 1 ), sich Baptisterin oder 
Evangelisterin nennen, gewinnt gleichfalls aus dem Munde eines 
Johanniters an Bedeutung. 

Dafs nun aber, wie Bieder a. a. 0. annimmt, Nicolaus von 
Laufen der Verfasser der Nrr. 01. 02, und also auch des ganzen 
Traktates sein sollte, dafür fehlt jeder Beweis. Im Gegenteil: 
der Verfasser des Schürebrand verweilte nach Nr. 61 im Jahre 1367 
zur Zeit der Erneuerung des Klosters zum Grünen Wörth 
18 Wochen lang als weltlich schüler (40, 6 f.) bei den Steigern 
auf dem Berenberge bei Winterthur, ohne damals zu ahnen, was 
einmal aus ihm und dem Grünen Wörth werden sollte, von Nicolaus 
von Laufen aber wissen wir aus seinen eigenen Aufzeichnungen, 
dafs er, früher (1350—1300) Schreiber, am 13. Dezember 1306 
auf dem Gr inten Wörth zum Akoluthen, am 10. Dezember zum 
Episteler, am 12. Juni 1307 zum Evangelier (s. meine Anm. zu 
Heinrich von Nördlingen 11, 07) und am 18. September desselben 
Jahres zum Priester geweiht wurde; in den Johanniterorden trat 
er am 24. Juni 1371, nachdem er vorher vier Jahre Weltpriester 
uffe der hofestat zuo dem Grünen werde gewesen war (Jundt 
S. 408 f.). Die Bezeichnung ein weltlich schüler war also weder 



') Die Abweichungen sind ganz unbedeutend, so z. B. am Anfang 25, 27 
süüder statt Sünderin, vgl. übrigens auch die Lesa. zu 26, 24. 26 ff. 
>) Vgl. R. Köhler, Kl Schriften 2, 108. 



Digitized by Google 



Sehiirebrand. 



61 



vor noch in dem Jahre 1307 auf Nicolaus von Laufen anwendbar, 
es müßte denn das Wort weltlich = saecularis (nicht inundanus,) 
im Gegensatz zum monastischen Leben gemeint sein; das ist aber 
in diesem Falle, lecnig ivahrschei.nl ich, Nicolaus von Laufen würde 
dann auch wohl eher wie in seiner Autobiographie ein weltlich 
priester (Jundt 409, 3) gesagt haben. Ganz abgesehen davon, 
daß der Traktat Schürebrand ein eigenartiges stilistisches Gepräge 
trägt: wir wollen doch ja nicht die Gottes freund frage dadurch 
noch verwickelter machen, dafs wir einer einzelnen Persönlichkeit 
immer mehr aufbürden, als hätten sich im Strafsburger Johanniter- 
hause und für dasselbe nicht noch andere lehrend oder litt erarisch 
betätigen können. Ich nenne nur 'jenen andächtigen geistlichen 
Hören und Vater Johanser Ordens zu Sfraßburg\ der das 
Büchlein von den vierzig Mgrrhenhüschlein schrieb (St. Galler 
Cod.003 x ), vgl. Lütolf im Jahrbuch für schweizerische Geschichte 
1,44 Anm.) und hern Ulrich seligen sant Johanse zu dem Grünen 
werde, von dem im Ms. germ. quarto 1H2 der Königl. Bibliothek 
zu Berlin Bl. 204 a — 270 a eine Predigt in Taul erscher' 1 ) Um- 
gebung steht. 

Wir müssen uns einstweilen an der Tatsache genügen lassen, 
in unserem Traktate, einen Bruder des Strafsburger Johanniter- 
hauses zum besten zwei fr junger Gla rissen (3, 2 ff.) schrift- 
sfellirisch tätig zu sehen. Ursprünglich hatte der Verfasser seine 
Ansprachen und Ermahnungen wohl nur an eine Schwester 
gerichtet, denn an Stelle der Anrede im Plural in BG steht in A 
regelmäßig der Singular (Xrr. 0. 9. 10. 13. 14. 15. 23. [33.] 30. 
37. 47. 49. 50. 51. 52. 55. 59. 05. 00. 08. [70.] 72. 75. 79). Ge- 
meint ist eben jene der beiden Gla rissen, die ?iach 52, 4 ff. dem 
Nicolaus von Bio fehlen als ihrem Ordensbruder jene Aufzeichnungen 
zum Durchlesen und zur Begutachtung übergeben hafte, daz sü 
sich deste sicherlicher mühte darane gelossen und sich dar noch 
gehalten durch alles ir leben. Aus BC (siehe die Lesa. zu 
51,27 — 52,9) erfahren wir, dafs Nicolaus von Bio fehlen nichts 

') S. 144 b tritt aus sonstiger biblischer Umgebung auch hier S. Franciscus 
hervor: sanetns Franciscus vastet zwurent nff dem berg, do im got der her 
die regel gab. 

*) Auf jenes Ulrich Predigt folgt unmittelbar Taulers Predigt auf Maria 
Magdalenentag (Baseler Ausg. 1522, BL 208 a), die auch in Hs. 2190 des 
Bezirksarchivs des Unter -Elsa/s — sie entliält Materialien zur Geschichte 
des Grünen Wörths — Bl. lila -120a eine Stelle gefunden hat. 



Digitized by Google 



62 



Philipp Stranch 



auszusetzen fand und es nicht für nötig hielt ut me ze schriben; 
nur drei Hegeln (Nrr. s;> — S4 , vielleicht auch Nr. 8~> mit dem 
Eingang von BC) fügte er aus besonderen Gründen bei. Der 
übrige Tat mag von ihm in Einzelheiten und Kleinigkeiten 
redigiert norden sein, doch lassen sich darüber nur Vermutungen 
anstellen, in wie weit etwa die Varianten in BC auf Nieolaus 
von lllofefden oder auf den Anonymus selbst zurückgehen. Wir 
dürfen vielleicht folgendes annehmen: der Anonymus des Sfrafs- 
burger Johauniferhauses übersandte seine Ennahnungen an die 
junge 'Clarerin ' ') zunächst in loser Form. Diese legte sie ihrem 
geistlichen Vater, dem gelehrten Franziskaner- Lesemeister Nicolaus 
von Bh fehh-n-) zur Approbation vor, der von sich aus nur jene 
öfter er wü luden drei Hegeln beisteuerte. Nun erst gab der Ano- 
nymus, indem er in Nr. N;> seinerseits wieder d<r besonderen Bei- 
gabe des Blofelders Beifall zollte, seinem Traktate Schürebrand 
die einheitliche Gestalt und die Anordnung, die den Handschriften 
BC zu Grunde liegt, während, dem Schreiber von A, als er sieh 
anschickte , den von seinem Konventbruder rerfafsten Traktat 
dem Briefbuch des Slrafsburger Johanniterhauses einzuverleiben, 
wenigstens für das letzte Drittel nur ein ungeordnetes Material, 
auch sonst gelegentlich wohl nur die eisten Entwürfe (Nr. HS, die 

1 ) In Straßburg gab es zwei < 'larissenhäuser, eines auf dem Bofsmarkt, 
eines auf dem Wörth ; über die sozialen Straßburger Verhältnisse, insbesondere 
den Verkehr von Mönchen und Nonnen daselbst um die Wende des Jahr- 
hunderts s. Zeitschr. für Kirchengesch. 6 (1884), H42, vgl. auch im Text 8, 10 ff., 
.7.7, 1 ff. Oder lassen die St. Galler Handschriften an ein Clarissenkloster in 
der Schweiz denken:' 

2 ) Trotz mannigfacher Machforschungen , bei denen mich die Heiren 
Prof. Dr. Holte, Pfarrer Dr. Bossert , P. Dr. theol. ('. Kübel, Prof. Dr. 
Henner und Dr. K. Weller frcundliclml unterstützt haben, xcar über Nicolaus 
von Bio fehlen nichts zu ermitteln. Gemeint ist sicher das jetzt württem- 
bergische J Hau fehlen, (). A. Gerabronn, früher hohenlohisch, dann branden- 
buraisch. Vgl Monumenta Boica 47 N. F. 1 (1UU2), 2U5ff. Gehörte Nieolaus 
vielleicht der ritterlichen Familie von Blaufehhn an, die im 14. Jahrhundert 
mehrfach im Würzburgischen in Beziehungen zum dortigen Hoclistift vor- 
kommt? Siehe Archiv des Inst. Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg 
24, 117 Nr. 842; Mon. Boica .18, 215. 42, 88. 13.1. 44, 168. Bürgerliche aus 
Blaufehlen, welche in den MinorUcnorden eintraten, pflegten sich zunäefist 
nach Jlothenburg a. d. Tauber zu wenden. Strafsburg aber war der Haupt- 
studienort der oberdeutschen Minoritenprovinz. Irrtümlich spricht A. Schubiger, 
Heinrich III. von Brandis und seine Zeit S. 258 vom Franciscaner 'und 
Chronikschreibei-' von Strafsburg Nicolaus von Blofelden. 



Digitized by Google 



.Schürebrand. 



63 



beulen Abschnitte nach Nr. 44 in A, vgl. auch die Lern, zu 12, l. r >) 
zur Verfügung standen. Nicolaus von Laufen hat dann, wie 
schon oben vermutet wurde, an dieser Abschrift i)i A mehrfach 
Korrekturen vorgenommen, Nachträge in ihr angebracht, sei es 
nun, dafs der Schreiber seine Vorlage nicht genau wiedergegeben, 
sei es, dafs Nicolaus von Laufen nach einer anderen, meist mit 
BC übereinst immenden Handschrift ergänzte. Wenn ich im Te.rt- 
ablnick A gefolgt bin, so tat ich es wegen der älteren und 
besseren Überlieferung gegenüber BC, deren Varianten über die 
Autorseluift hin sicheres Urteil gestatten. Hervorzuheben wäre 
aus ihnen, dafs neben gelegentlichem weiteren Ausspinnen eines 
einzelnen Gedankens BC einige Male die ursprünglich auf den 
speziellen Fall gerichtete Darstellung verallgemeinert haben; vgl. 
Nrr. 5. 37. 40. 57. 7 0. 77. 

In der Vorrede (4, 1 ff.) ist der Inhalt des Traktates 
in aller Kürze skizziert. Bei genauerem Einblick läfst sich 
etwa folgender, übrigens durchaus nicht streng festgehaltener 
Gedankengang erkennen. Nach einigen einleitenden Worten sind 
zunächst den drei Ordensgelübden (vgl. 4, 22 ff. 2.1, 20 f. 25, 13 ff. 
30, 32 f.) längere Betrachtungen gewidmet: Nrr- 2 — 5 handeln 
über die jungfräuliche Keuschheit, Nrr. 0 — S über die äußere 
Armut und EigenscJuiftslosigkcit, der gegenüber die Gemeinsamkeit 
des Lebens bis zur Gütergetnein schaß durchgeführt werden soll. 
Die Tugend des Gehorsams und die zahlreichen Anfechtungen 
gegen denselben werden in Nrr. 9 — 10 besprochen. Mit dem 
wahren Klosterleben beschäftigen sich Abschnitt 17—21 und sehr 
eingehend befaßt rieh unser Autor mit der Schwermut und den 
Mitteln, mit denen man sie zu bekämpfen hat (Nrr. 22—44). 
Nrr. 45 — 51 führen aus, dafs Gott uns größeren Gewinn zu geben 
vermag als die Welt, Nrr. 52 — 54, was als Höchstes in der Schule 
des heiligen Geistes gelten darf. Auffallend ist, dafs von Nr. 55 
ab, gerade an dem Punkte also, von wo ab A und BC betreffs 
der Anordnung eigene Wege gehen, in BC, die allein auch für 
das Folgende eine leidlich systematische Folge der einzelnen Ab- 
schnitte erstreben , während in A Willkür und Unordnung •) 
herrseht, eigentlich von neuem begonnen wird. Jedenfalls ist ein 
näheres Verhältnis zum Vorhergehenden nicht wahrzunehmen, wenn 



>) Doch stehen auch in Ä. 69—72 und 73-81 als einheitliche Gruppen 



■ 



Digitized by Google 



Philipp Strauch 



Nrr. 55 — 05 abermals und zwar viel eingehender als früher ein 
Lab der Besitzlosigkeit anstimmen, Nrr. (>t> — HS in innigen 
Worten zur Friedfertigkeit mahnen, Nrr. Mi. 70 ausführen, 
aller Anfang sei schwer, niemand werde als Künstler geboren, 
ein jeder Beruf wolle erlernt sein: leinen besseren Lehrmeister 
aber gebe es hier als den heiligen Geist (Nrr. 71. 72) — und 
null ich das Ganze in einer Apostrophe auf das ewige Leben 
(Nrr.7H.7i), einem Hinweis auf Hieronymus (Nrr. 75-- 7 S, 
siehe aber 4s, .7 Lesa.) und Schlußworten persönlichen Inhalts 
(Nrr. 7'J—S1) ausklingt. 

Der Traktat bereitet mit sehur wortreichen y oß schwülstigen 
Ausdrucksweise dem Verständnis gelegentlich Schwierigkeit. Die 
selteneren Worte lud bereits Karl Schmidt in sein Historisches 
Wörterbuch der elsässischen Mundart aufgenommen. Wenn das 
folgende Glossar besonders die aus einer und derselbni Wortform 
hervorspriefseude Mannigfaltigkeit der Bedeutung zahlreicher ab- 
strakter Begriffe, wie sie die Sprache der deutschnt Mystiker in 
so ausgiebiger Weise zur Verfügung stellt, an einem einzelnen 
Denkmal zur Anschauung h ingen will, so würde doch der ihm 
gewährte Baum niemals im Verhältnis zum Werte des Traktates, 
den es ausschöpft, stehen. Das Gott es freund probt cm aber zwingt, 
um einer erfolgreichen Lösung näher gebracht zu werden, zu 
genauester sprachlicher Durcharbeitung sämtlicher sich irgendwie 
mit ihm berührender Schriftstücke: der Traktat Schüreband gehört 
in diese Bcihe, ja, seine Veröffentlichung läfst sich vielleicht nur 
in diesem Sinne rechtfertigen: sie kann und will nicht mehr sein 
als eine Vorstudie zu l T nt ersuchungen, die der Verfasser in nicht 
zu ferner Zeit vorzulegen hofft. 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



65 



abegang Unterdrücken, Verzicht 34,10. 
51, G. 

abegescheiden abgesondert 9,24. 16,31. 
35,5. 36, 8 f. 39, 9 f.; ab(e)gcscheiden- 
heit, lidige 8,22. 28,2. 39, 8 L. 48, 
27 L. 

abegeziehen 29, 19. 

abegon, uwern lüsten 18,29; subst. 
Inf. 8, 20. 

abelessig verzeihlich 5,32; entsagend 
32, 13 L; abelessi(g)keit Nachlässig- 
keit, Nachlassen 23, 14. 32, 13. 

abescheidenheit, lidige Abgeschieden- 
heit 35, 18 f. 

abeschus Schuß 44, 27. 

abesniden, die brüste 36, 1 f. 

abesprechen 41,20. 

ablegen 49, 8 L. 

Abraham 49, 20. 

absterben subst. Inf. Abtöten 31,24L. 
achtper 30, 27 L. 
acker 31, 7. 

ackermeister (Christus) 34,26. 
affenheit Torheit 10, 15. 32, 4. 
ahte haben 44, 14. 

alaster Schmähung, Herabsetzung 43, 

23 (Schweizer Id. 3, 1466). 
s. Alexius 39, 9. 
allewegent 15,2. 

altvatter, altvetter(e) 14,17. 34,2. 

35, 8. 
ambaht 33, 9. 49, 5. 
s. Ambrosius 50, 12. 
ampar, anpar Gebärde, Benehmen 10, 

5. 11,22. 50,32. 
ampel 6, 29. 32. 31, 3. 6. 
anbellen 42, 32. 
anblig 15, 9 f. 



andaht 27, 1 f. Mose. 16, 7. 27, 15. 

anden rügen 10,6. 

an(e)nreaigen 7, 10 L. 23, 32. 43, 2. 

an(e)hang Anhang, Beziehung 16,25. 
28. 28, 1. 33, 15; a. der creataren 
27, 8. 35, 13; schedeliche anhenge 
Einflüsse 4,4; Anhänglichkeit, Zu- 
traulichkeit 16,21. 

ane schinen 34, 16. 

au(e)sturm 3,21 L. 5,21. 6,19. 7, 10 L. 

23,33. 29, 2 f. 35,2. 47,34. 53,27; 

anestürmen 7,7. 
ane valleu 19,28. 21, 1. 
anevehtunge 5, 22. 45,13. 51,5; an- 

gevehten 43, 1. anvehten 26, 17. 

32,20. 

angenomene ufsetze 29,22; a. wisen 
15, 1. 16, 1. 

angestber gefährlich, Besorgnis er- 
regend 46,14. 49,9. 11; streng 45, 
16 f.; angestberkeit 21,4. 41,21. 

anklebelich anhaftend 21,32; ankleb- 
lichait 21, 32 L. 

anlege (Var. anleguug) Einkleidung 
49,30; aulegen 31,24L. 

annemmelicheit die Anna hme von etwas, 
um es dann zu besitzen 8,25. 

anstos 28, 6 L. 

8. Anthonie 9, 13. 

antwerk Handwerk 45, 15. 

appetgotte Plur. 27, 13. 

aptgründe 38,2. 49,24. 

arbaitlich müliselig 48, 15 L; arbeiter 
34,22. 35, 1. 47,16. 

argwonig 10,5. 

armüte Neutr. 22,20. 

artzenie 27,24; artzot 22,6. 

s. Augustinus 7, 23. 38, 17. 50, 12. 

5 



Digitized by Google 



66 



Philipp Strauch 



Babelon 9, 12. 

banerherre (Teufel) 12,9 (Schtceizer 

Id. 2, 1538 f.). 
bant 7,10L; Fessel 27,29. 
baptisterin 11, 19. 

barmhertzig IG, 34 f. 24,2; barm- 

hertzecliche 36, 17. 
barsrhaft 8,4. 31,13. 38,7. 
basiliscus 52, 14. 

bedarben entbehren, darben 27, 20. 
beging 33, 10 L; begirlich 24,25. 29. 

30.2. 27. 28 L. 34,14. 37,22. 41, 
22. 48, 7. 9. 27 L. 50, 25. 

begnoden 18,8. 17. 

begnügen genügen 14,22. 33,10. 13. 

49,7 (Yar. benügen). 
begoben beschenken 18, 8. 
behaben festhalten, behalten 19, 34. 
behagenheit Anbequemen, Anschmiegen 

16, 21. 

behalter (Christus) 28, 20. 
behangenbeit der creaturen Anhang 

21.32. 23,10. 

beheblich haltend, schützend? 7, 10 L. 
behelf Behelf, Hilfe, Schutz 16,13. 

28, lß. 53, 26. 

heberten hart anlassen, zur Bede stellen 
43, 2 f. 

behüt vorsichtig, sich hütend 40,22; 
behutsam bedächtig, beschaulich 8, 
19. 12, 3. 28, 1 f. 35, 21 f.; behüt- 
samclich 35, 12; behiitsamkeit Sorg- 
falt, Schutz, Bedächtigkeit 3,10. 
4,1. 0,24. 7,8. 12. 22,12L. 42,32. 
51, 11. 

beiten warten 17, ß. 

bojoraern jammern 18, 16. 

bekantnisse Erkenntnis 20,24. 25,11. 
52, 17. 

bekerde, besserliche Wandel zum 

Bessa-n 21, 29. 
bekommen hervorspriefsen, gedeihen 

30, 16. 

bekornnge Prüfung, Versuchung 7,7. 

23.33. 32, IL. 47,35. 53,27. 
bekümbem bedrängen, belästigen 13, 

29. 37, 2ß; bekümbernisse Unruhe 

10.3. lß,30. 



belangen lang dünken 47, 17. 22; subst. 

Inf. 30, 12. 
belibklich bleibend, dateemd 35, 23 L. 
bemosigen beflecken 8,24. 
bereitschaft was bereit ist : Mittel 

29, 20. 
Berenberg 39, 19. 40, 5. 
s. Bernhardus 50, 13. 
beschaffen bestimmen 26,27. 
beschehen geschehen 30, 23 f. 51, 21 f. 
bescheidenheit Verständigkeit,Einsicht 

28,11. 46,8. 
bese(h)ssenheit Befangenheit 11, 16. 

19,3. 23,11. 
besitzer 7, 10 L. 

besitzunge 9,9. 16,7. 32, IL. 40,29L. 

42, 26. 

besliezen einschlief sen, ausschlie/sen 

6,33. 31,4. 
besnidunge 24, 20. 26, 1. 
besorgunge Sorge, Pflege 25, 5. 
besserlich 21,29. 23,13L. 
bestetigen festigen 24, 5. 50, 22. 
beswerd Kummer 32, 25 L. 
betrahtunge 24,31. 
betrogen verblendet, betrügerisch 33, 6. 

34, 17 f. 35, 2 f. 36, 11. 44,7; be- 

trogenheit 19, 19. 
betütunge Auslegung 32, 7 f. 
betwiingniße Zwang 8,28. 11,25. 13, 

4. 37,15. 

befelhen überlassen 38,1; sich b. 49, 
31. 32. 

bevinden erfahren, kennen lernen 3, 
23. 10,29. Iß, 34. 35,27. 44,13; 
befindlich befintlich : gnode 7, 6. 
27,11; trost 14,15; eine sele foul 
befintliches gottes ganz in Oott auf- 
gehend 23, 10. 

beweglich rege, innig 24, 29 L. 

bewereu subst. Inf. Beweis 53,5; be- 
wert erprobt 40, 26. 50, 16; b. 
orden 26,30. 32,29. 3ß,30L. 38,7. 
40, 12. 

bilde 44,25. 53,16; Vorbild, Beispiel 
39,16L. 45,3. 51,13; Vorstellung 
23,10; bilden bilden, gestalten 27, 
14; b. in vorstellen, einprägen 18,7, 



Digitized by Google 



Schürebrand 



67 



absolut (?) 19, 35; bilder Vorbild 
(Gott) 35 t U; bildlos 45, 2t L. 

bilig (zu mhd. bil) streitsüchtig, 
zänkisch 11, 16. 22; biliche kibekeit 
13,6. 31,19; b. zeffelunge 31, 16; 
bilikeit Zanksucht 11,28. 

billiche 10, 20. 13, 21. 14, 22. 18, 13. 
23,34. 19^23 usw. 

binden 35, 27. 

bischaft Beispiel, Belehrung 3,22. 51,1. 
bissen subst. Inf.: b. uwerre concien- 

cien 19, 20. 
bittere galle, inirre 19, 17. 22, 9 ; bitter- 

keit 34, 18. 
blagen heimsuchen 31, 16 L. 
blecb Metallblättchen: mit gl Agenden 

blechern zerqwirschen 3G, 3. 
bleg[r]ig (zu mhd. blsejen) anmafsend 

11,22 L. 

biestig störrisch, eigensinnig 31, 16 L 
(Schweizer Id. 5, 170 f.). 

blindelingen blindlings 12, 11; blint 
(vom Gewissen) 41, 4 L. 

blödekeit Gebrechlichkeit 29, 27. 

blot(t)erkopf eigentl. rundes volles Ge- 
sicht, hier verächtliche Bezeichnung 
für ein weibliches Wesen mit un- 
zufriedener Miene 17^ ia_ 32, 24 
(Schweizer Id. 3, 414). 

bluntzenkar bauchiges plwnpes Ge- 
schirr, hier verächtliche Benennung 
eines xceiblichen Wesens 17, 17 
(Schmeüer 1, 459; Schtceizer Id. 
126; Schmidt, Hist. Wb. der elsäns. 
Mundart 47 b ). 

bodenloser gitsac 8, 10 L. 

bredige 22, 6. 36, 6. 7. 

brendelin 29, 34 ; brennen (vom Gold 
u. Silber) 53, 16 ; brünneu, bürneu 
5, 7. 29, 25. 31, 3. 36, 4. 

briefer Masc. Brevier 11, 12. 

bruch Gebrauch 37, 2 L. 

brunloftkleit Brautkleid 42, 1. 

bürde 32, 26. 53. 7. 

burger in aptgrüude der hellen (Judas) 
38,2. 

burne Brunnen 20, 16. 



dangber 32.10; dangberkeit, 4, 8. 7.12. 
27, 27. 28^32^ 50, 28; dangber- 
lich(eXn) 24,31. 29,30. 53,30. 

Dauiel 9J2. 

darben entbehren 18, 22. 23; darben 

oder haben 49, 14 f; subst. Inf. 17,3. 

22,27. 34,11. 42,26; darben Neutr. 

2A15: 
David 15, 14 L. 20 L. 
demütikeit 43,26. 48,28. 
diener : gottes d. 47, 20. 
Hitnstheikcit Bereitwilligkeit zu dienen 

49, 4; dienstberliche dienstbereit 

14, 9. 

dienstmaget 47, 15. 

dingen mit 41, 9. 

dirte dritte 53, 8- 

s. Dominiens 7, 22. 38, 17. 

doreht 12, 15. 13, 6. 32, 1 L. 42, 2. 

dotstich gefährlicher Stich 44, 29. 

dotsünde 40, 18. 

durcheilten verfolgen 20, 3; dnrehti- 
gunge 47, 35; durhehtunge 24, 18. 
31,24 L. 
durchgang Verlauf 6, 10. 19,22. 
durchglentzen erleuchten 17, 19 L. 
i durchliden 42, 24. 
j durch füren 44, 12. 

ehe che 3, 17. 44, 27. 28. 30. S. auch 
obe. 

ebeumensche 27, 5. 
ehte nur 47, 14. 49, 15. 
eigenlich eigentlich, bestimmt, sicher 
45^23. 

eigenschaft Besitz 7, 26. 8, 17. 25. 
9, 7. 21. 16, 7. 21,33. 25,9. 36,28. 
37, 6. 7. 24. 38, 8. 39, 2. 24. 40, 10. 21. 
41, 3 f. 19. 26; Eigenschaft, Be- 
nehmen 11, 16; eigenschafter der 
über Eigentum, Besitz verfügt 49,21. 

eigener wille 7, 2. 8. 9, 31 f. 18, 28. 23, 3. 
30 f. 28, 9. 30,5. 17. 31, 8; eigen- 
willig ilOL. 31,11. 41, 1. 

s. Eilsabet 39, 13. 

einig allein 16,32; einzig 18, 6- 49,25; 
eiuikeit Alleinsein, Einsamkeit 8,22. 
35, 6. 19. 36, 9. 

5* 



68 



Philipp Strauch 



einmütig 1 '2, 2t. 24; einmütekcit 7,25. 

12, 22. 13, 18. 14, 3. 37, 2. 9. 43, 13. 
einöte 3n, 9. 

einrihtikeit Eigensinn, Rechthaberei 
12, 18 f. 

einfaltig 15, 19. 49, 17; einvaltikeit 

Einfalt 30, 22. 49, 3. 
Elym 52, 19. 

eilende Adj. jammervoll, beklagenswert 
10,23.2G. 18,22. 19, G. 12.22. 23,30. 
29, 15. 49, 18; Subst. mit Bezug auf 
Christi Leiden 22, 20. 24, 10. 25, 25; 
Fremde 39, 10. 

elleninent der erden mit Bezug auf 
Christi irdischen Teil 22, 12 L. 

eman (Christus) 10,31. 22,19. 

emsig, empzig beständig, beharrlich 
31,34L. 45, 14. 

endelieh eifrig, tüchtig 34, 21 f.; ent- 
licher sicherer 44, 11 L.; eudelkhe 
Adv. 34, 8. 

end(e)los 33, 19 L. 42,22. 49, 8 L. 

cugelsch 15, 10. 

enpfenglich 21, 11. 42, 14. 40,20. 
enpfiutlieh 17,31 L. 18,20L. 
entschlohen, sich sich losmachen, be- | 

freien 1G,20L. 
entfriden des Friedens berauben 10, 9. 

21, 9 f. 

eptissin, eptischin 9,5.0.15. 14,0. 

38,24. 
erarnen erretten 24, 13. 
erbarrahertzig 25,21.20. 20,19. 3G,17L. 
erbeiten abtearten 30, 10. 
erhere auszeichnendes Epitheton 3,3. 

7,10L. 11,29. 12,3. 13,25. 14, '.13. 

15,2.5. 24,29 L. 28,1. 32,25. 39,20. 

43, 18. 45, 4. 
erherm(e)de 11,28. 18,4. 20,10.22. 

21,26. 26,27. 43,18. 
erdihten ersinnen, ausdenken: gebet 

15, 25. 

ereschatz laudemium 53, 13. 21 (Lexer 
1,600, Nachträge 161; Schmeller 
1,127. 

ergeben Part, der ins Kloster gegangen 
ist 8,15. 23,24. 25, 7 L. 36,30L. 
38,6. 



ergerlich ärgerlich, Ärgernis erregend 
22,12L. 51,13. 

ergetzen entschädigen, vergüten 14, 13 f. 
18,32. 29,14. 42,27; sich erg. 14,30; 
ergetzenlich unterhaltend 19,2; ent- 
schädigend 22, 7; ergctzenlicheitiVr- 
gnügen 8,21; ergetznnge Unter- 
haltung, Vergnügen, Freude 16,13. 
24,26. 33,2. 30, 12. 47,10. 

erkalten 17,9. 

erkantunst Erkenntnis, Einsicht 52, 
17 L. 

erlebet erfahren, erprobt 45, 4. 
erlich vortrefflich, herrlich 5,11. 17,25. 

24, 8. 30, 5. 21. 31, 23. 32, IG. 22. 

30,23. 43,4; erliche Adv. 5,26. 31,27. 
erluser (Christus) 33,23. 
ernmndern ericecken, erfrischen 16,4. 
erne Ernte 34,6; ernenn Schnitterin. • 

liebe gottes e. 34,15; ernegeselle 

34,8. 

ernsthaft 8, 19. 12, 3. 30, 21 L. 

erschrückenlich schrecklich 48, 6. 8. 

ersetzen verquicken 30, 25. 

erste Fem. Anfang: an der erste 14, 13. 

ertzenen heilen 19,9. 

erfolgen erlangen 3, 25. 9, 25. 18, 15. 
23, 18. 37, 1 L. 21. 43,21. 25. 45, 
11.12. 49, 8L; nachkommen, erfüllen 
4, 21 f. 31,2. 39,15. 42,10. 47,27. 
51,4; fortsetzen, zu Ende führen 
4, 34. 

erwern erwehren 6,20. 

erwirdecliche 14, 30 f.; erwirdig 4,29. 

5,19. 51,29. 53,23. 
erzüngen zeigen 42, 11. 
estüre Mitgift 23,2.7. 
efrouwe 24, 23. 26, 29. 
ewangeli: Gen. ewaugeliea 21,30. 

23,20. 24, 10; ewangelisterin 11,20. 
exempel 6, 7. 40, 29. 50, 17. 51, 1. 

galle 9, 17. 22, 9. 

ganeisterlin Fünkchen 3, 2. 23. 5, 1. 

30, 1. 51, 28. 
gartener (Christus) 36, 17. 
geben: 2 Plur.gent 14,4. 18,31. 22,12. 
gebenediet 48,10. 



Digitized by Google 



Schürebraud. 



09 



geberde Benehmen, Wesen 1 1 , 22. 43, 23. 
gebesserlich dem Besseren zugeneigt 
23^13. 

gebreste Gebrechen, Fehler 7, 10 L. 

18,1.24. 19,10- 21,22. 24,18. 27,30. 

28,3. 41,27. 
gebresten mangeln, fehlen 32, ö. 
gebrneh Gebrauch, Benutzung 10, 4. 

37, 2. 

gebrachen gebrauchen, geniefsen 8, 21. 
17,28. 28, 9 f. 13. 

gech ungestüm 22, 12 L. 

gedinge Fem. Hoffnung 41, 6. 

gegenparte ( Var. gegenpartie) Gegen- 
partei 43J2. 

gegenwertig 24, 11. 

gegenwurf objectum, Gegenstand 4, 5. 
11,8. 14,1. 10, 14. 17,11.23. 27, 14 f. 
28, 16. 29, 2. 35, 14. 38,22: Be- 
schäftigung 6, 8. 

gegenwürtecliche 28, 21. 

gehorsame Gehorsam 7, 10 L. 23, 26. 
28, G. 30, 32 f. 33, 29. 35, 20. 37, 14. 
43,21. 48,27; gehorsamikeit 15, 3 L. 

geirren 19,26 f. 

geischeln geisein 53, 2. 

gelassen, sich sich hingeben 10, 23. 

gelesse, gelesze Benehmen 10, 0. 19, 30. 
20, 10 L. 42, 34. 43, 23. 49, 3. 50, 32. 

gelessenliche mit Gotter gebcnheil 20 } 1!». 

geliden leiden, dulden 39, 6. 50. 29; 
sich g. 10, 22. 

gelieben, sich sich lieb machen 16, 21. 

gelossenheit (gelaas(en)hait) Gott- 
ergebenheit 9,29. 15, 3. 17, 14. 22, 
4. 12 L. 34, 13. 44, 14 L. 47, 28. 

gelten bezahlen, vergüten 25, 30. 47,37. 
48,1. 

gemachelschaft Ehe 22, 19 L. ; gemehel- 
lich ehelich 22,19. 

gemeinde: in der g. gemeinschaftlich, 
zusammen 37,5 ; gemeine genteinsam, 
allgemein 36,31. 37,2.24; gemein- 
liche 43, 13; gemeinsame Gemein- 
schaft 7, 25- 31, 22; geraeinsamen 
versammeln, vereinigen 30, 2. 42, 13 ; 
sich g. mit teilnehmen 49, 31. 50, 1 ; 
gemeinschaft 30, 6. 29. 32, 15. 



gemeit froh, freudig 22, 17. 

gemeßen zugemessen, mittelmäfsig, ab- 
sehbar 42, 21. 

geneme angenehm 15, 15. 

genesen: sterben oder g. 49, 15. 

genieten, sich sich beschäftigen, er- 
freuen 14, 30. 

genosseme, mit ohne Schaden 11,6 
(Schweizer Id. 4, 824). 

genouwe genau 39, 15 L. 

geuügede Genüge 34, 13. 

gennhtsameliche zur Genüge, im Uber- 
flu/s 34, 33 f. 51,17. 

gerümel Geräusch, Unruhe 46, 20. 

gerüwig ruhig, gelassen 29, 11 L. 

gerwe ganz und gar, völlig 29, 10. 11. 
34, 30. 50, 27. " 

gesatzlich bedächtig, ganessen 44, 9 L. 

geseheft'ede Geschäft 21,1. 33,22; ge- 
sehiipfede Gestalt 28, 26 f. 

gescherten schartig machen, schmälern 
29, 18. 

geschicket passend, tauglich 23, 16; 

geschicketheit 14, 1. 27. 2. 29, 8. 
geschrift 4M, 17: die heiige g. 40, 24. 
gesellesehnft 12, 18. 14, 2. 
gesig Sieg 3,21. 4,33. 5, 25. 23, 34. 

43,4. 

gesossetheit, gesohstkeit ( Var. gesatz- 
heit) Gesetztheit, Ruhe 17,32. 44,10. 

gespenste Blendicerk, Trug 11, 5. 

gespilschaft Genossenschaft 5, 11; Ge- 
selligkeit, Spielerei 19, 2. 

gespreche 15, 24. 16, 4. 

gespnntze (Christus) Bräutigam 15,26. 

gestellen stehlen 29, 18 L. 

gesten, sich stolz, freudig sein 22, 16. 

gesuch 42, 27, gesucht gesucht 8, 17 L. 
31,24 L. 51,6 Ii. Anspruch auf Ge- 
win n ? Verlangen ? 

geswendc ungestüm, vorschnell 22, 12 L. 

getörren icagen 28, 10. 

getrengo Gedränge, Bedrängung 21, 
11 L I 3. 25,8. 31,24 L. 32.25 L. 4^ 
14. 47,3.5. 51,27 L. 58,12. S.aucMrnc. 

getraweliche vertrauend 49, 30; ge- 
trawen Verbum 40, 27. 46, "Ü*. 29. 
47,6; Subst. 23, 35. 28, 32. 



70 



Philipp Strauch 



getultecliche 17, 6, 19,36. 43,19f.; ge- 

tultig 19,11. 47,28. 
gefallen 11. 11. 

gevaugener, sin (Gottes) 13,2. IG, 24. 

17, 1; gottes gefangene 42, 16. 
gevehte Kampf, Abmühen 33, 22. 
gefeile was einem zufällt, Einkünfte: 

irdensche zergeugliche g. 31, 12^ 

zitlich g. 21, 33. 36^ 13^ 39, 3. 48, 

2H.L. 
gevenguiße 42, IS. 

gefcrt Fahrnis,Kleinigkeiten 39,28L(?)- 
gef ruhten Fnicht tragen 27, 12. 
gewarsamekeit Vorsicht 48, 25 L. 
gewerbe Tätigkeit, Treiben 4,4. 14,27. 

21, 33 L. 32, 3 h. 33, 6. 20. 
gewerde Wert gegenstände 31,13. 32,3. 

39, 28; = spise 37,4. 
gewerlich wahrhaft 45, 23. 
gewillecliche willig, freiwillig 5. 35. 

14, 8; g. und gern 13,3; gewillig: 

g. anmit 4, 23. 37, 20; g. langmüti- 

keit 30, 11. 
gewinner 47, IG; gewinnig Gewinn 

bringend 32. 14. 47, 22. 
gewis sicher 12, 1 7 L. 
gewisen führen 37, 19. 
gewit ter 32, 1 L. 

gewoneu gewohnt werden, sich ge- 
wöhnen 29, 10. 45, 13. 

gewore aufrichtig, wahrhaftig 24, 22. 
25, 18. 2G, 22. 28, 2G. 30. 35, G. 19. 
36,11). 43,15. 46,24. 52,27. 

gewülkene 34, 24. 27- 

gezügnisse 40, 23. 

girig gierig, begehrlich 33, 10. 

gitig gierig, begehrlich 33, 10 L. 47, 
15 L; habgierig 49,21. 

gitsac als Bezeichnung für einen liab- 
gierigen Menschen 8, 10 L. 

glcntzen 5, 26. 

gliinpfeu gestatten 38. 29. 41, 4. 
glor(i)ieren glänzen 33,8; verherrlichen, 

j>reisen: gl. uf. 39. 13; subst. Inf. 

17, 27. 22, 17. 36, 12 f. 
glosieren hei'umdeuten , schwanken: 

glosicreude concieucc 41, 4 L; subst. 

Inf. Auslegen, Deutung 39, IG L. 



glugen glühen 50, 27. 
glüusen glimmen 4, 14. 30, 1. 50, 27. 
glust = gelust Begierde, Gelüsten 23, 12. 
gnodelos gottverlassen 7, 10. 26, 24. 
27^16. 

goben als Gabe reichen 49, 29. 

gon : an ergetzenlichera gonde oder 

stonde an ergötzlichem Allerhand? 

19,3. 

Gottes freunde 8. die Belege oben S. 60. 
grat grot Stufe 13, 13. 33, 12. 37, 1 L. 

48. 26 L. 
b. Grcgorius 50, 11. 

gritig gierig, begehrlich 33, 10. 47, 15 ; 
habgierig 49, 21 (Stra/sb. Studien 

1, 381). 

grob 28, 2. 50, 18; gr. gewant 49, 3. 

grusliche sehr 47, 22. 

grandelos unergründlich 53, 10; gr. 

erbenude 20, IG. 21, 25 f. 26, 27; tief 

12. 22. 

grünt 7, 10 L. 15, 25. 17,21. 18, ia 
36,22. 38, 26. 41,1. 45,21. 46,28: 
lidiger gr. 35, 26 ; zu gründe bis auf 
den Grund, gründlich 46, 22 ; zu 
gründe gelossenheit 13, 9 f ; grüntlich 
8^20, 

grüssenlich grausig 49, 8 L. 
gruwelich Schrecken erregend, schreck- 
lich 5 L 32_f 1 7/7^ 18^- 
gälte Rente, Zins 8, 4. 9, 4. 
gunst Mose. Wulwollcn 21, 6. 
gütig 14,4. 

gutwillig 3,7. 7, 10 L. 24, 9 L. 30,1. 
33, 1. 4G.24 L. 48, 25 L. 

haben : 3 Sing. Praes. het 12,29. 13,11. 
14^ 18,6. 9. 24, 9. 12. 13. 14. IG und 
noch oft. 

hant : zu handen gen von der Hand 

gehen 44, 24. 45, 1 L. 
hautwerg 44, 17. 

haspel Masc. Haspel : an hespele 

spannen 36, 2- 
hafen 27, 11. 49, 5. 
heidenin Heidin 20, 17. 46, 9. 
hcilgelin (Yar. hailiglin) kleines 

Heiligenbild!' 39,28. 



)ogle 



Schürebrand. 



71 



heilsam 25, 32. 27, 24. 34, 31. 

heimelich 15, 23; heimeliche 14, 14. 
15, 29; heimlicheit 39, 22. 

heinmte 47, 3. 

heischen fordern 38, 27. 

helfe : mit der h. gottcs 3, 16. 

hencken, eich 12, 8. 

herechaft Würde 33, 9; fürstliche. Herr- 
lichkeit 39, 14. 

herecher 49,21. 

herze : mit hertzen und mit munde 

lSj.19, 
heslich 44, 25. 
himelbrot Manna 15, 20 L. 
hinder : in disen hindersten (letzten) 

ziten 38, 29. 
hinderklaffen subst. Inf. Verleumden 

27, 5. 

hindernisse 28. 1. 35, 15. 36, 29. 41, 
2i 

hitzig heiß 17,8. 24,24. 29,25- 30,3. 
34, 16. 35, 2. 36, 19. 39, 6 usw. ; vil 
güter hitziger tütechcn hücher 
45, IL. 

hochgezit Fest 11, 11. 47, 5. 

hochfartig hoffärtig 49, 21. 

hoffen subst. Inf. 20. 27 ; hoffenunge 

41, 7. 47, 7. 
honigwabe 22, 11. 
hören sagen 27, 7. 44, 19. 45, 7. 
houbetgüt Kapital 30, 17. 
houbetman (Teufel) 12, 9. 
hügelich fröhlich 47, 6. 
hnnderttnsentvalt 30, 7. 
hnndertvaltig 23, 23. 41, 13. 
hüte schwach flect.: in hüten haben 

26, 31. 39, 16 L. 

lemerewicliche 28, 13. 34, 14. 46, 26 L. 

51,23; iemerewig 22,26. 34,6. 
iemer werende 10, 24. 12, 26. 22, 22 f. 

28,14. 32, 16 f. 46, 32. 47, 24. 37 f. 

49, 8 L. 

iemer wesenliche immer während, 

-dauernd 35,23. 
ietzentan jetzt 43, 34. 
iewelten von jeher 13, 24. 
inbesliezen einschließen 35, 12. 



in bilden in einprägen 27, 13 L. 

in bringen einbringen 34, 30. 

inbrünstecliche 49,12; inbrünstig 4, 15. 
5,2.36. 6,6. 10,3. 17,9. 24,24. 29,25. 
30,3. 36,19. 39,6 usw.; inbrunstig- 
kait 17, 8 L. 

indewendig inwendig 21, 19. 

ingang : in uwerre sicheren fluht (aus 
der Welt oder in das Kloster) des 
bewerteu heiigen ordens ingang in- 
troitus 32, 29 als direkte Anrede an 
die Clarerin ? 'ihr die ihr den Ordens- 
eintritt vollzieht, so wie er sein 
soll'* 

in geben, sich rieh in etwas hinein be- 
geben, -finden 18, 31. 

in getragen hineintragen 32, 13. 39, 
16 L; sich einem in getr. bei einetn 
einführen, einschmeicheln 16, 20 f. 

inker Insiehgchen 16, 11. 43, 35. 

innan, von — von nssan 3. 8 f. 4, 10. 
6, 15 f. 9,30. 17, 31 f. 19, 31. 30, 13. 
44, 10 f. 47, 28 f. 53, 27 f.- 

inneklichen 52,26. 

innerkeit das Innere 45, 21 ; innerlich 

16, 3. 42, 27 f. 43, 5. 29 f. 44, 14 L. 

45, 26. 46, 7. 52, 16; innerliche 10,26. 

35,28. 43,26. 53, 11. 
innig innerlich 16, 31; innikeit 8, 22. 

29, 11. 35,6. 19. 36,9. 
insegen hineinsäen 12, 4. 
inslinden in sich aufnehmen (bildlich) 

insprechen subst. Inf. Eingeben, Ein- 
sprechen 10, 12. 16, 16. 18. 36, 24. 

in tragen eintragen, beibringen, ein- 
heimsen, ericerben 19, 23. 32, 1 L. 
13 L. 37, 18 L. 23. 38,30. 41,5. 45, 9. 
24. 40, 10. 14. " 

in vallen von der Flamme: einsinken, 
kleiner werden 50, 25. 

iurlns Einfluß, Einwirkung 13, 30. 
I 17,10.30. 19,26. 23,16. 27,11T%mT 
35, 15. 36, 30. 46, 26. 48, 25 L. 

irren, stören, hindern 13, 29. 15, 31. 
27, 16 L. 29, 5 ; irresol Hindernis 
16,25; irrig 40,31. 

Ysrael 52, 19. 



IL 



72 



Philipp Strauch 



s. Jeronimns 47. 33. 48, 3 (s. die Lern ). 
20. 49, 16. 50, 12. 

joch Conj. 14,27. 21,22. 43,1.3.24. 
44, 23. 47, 7. 50, 23. 

joch st. Keutr. 53, 0. 

jomerkeit sehnendes Leid 19,25; jo- 
mertal 31.24L. 

jon st. Mose. 34, 28 (mhd. j&n) eigcntl. 
das Stück Acker, Feld oder Wiese, 
das beim Getreideschneiden oder 
Mähen von sämtlichen Schnittern 
in gleichmäßiger Fortbewegung ab- 
geschnitten wird, hier bildlich ge- 
braucht (Schweizer Id. 3,34; Deut- 
sches Wörterbuch 4, 2, 2229). 

jormercket 32, 1. 6. 46, 20. 

jubilieren 15.20L. 23,8. 

Judas 63, 17. 64,1.8. 

jungherre, jungher (Christus) 22, 30. 
23,5. 

jungfrouwclin 35,31. 

camin bildlich 53, 18. 

Cananesche heidenin 20, 17. 

karc knauserig, geizig 49, 21 L. 

kempfe ( Var. kempfer) Streiter 44, 28. 

ker Umkehr, Wendung 46,24. 

kerkeren einkerkern 37, L 

kestigen züchtigen 53,1; kestigung 

Kasteiung 31, 24 L. 
kibikeit Zanksucht 11,28L. 13,7. 31, 

16 L. 19; kiblich polternd, zänkisch 

11,22L; kifeln subst. Inf. Schelten, 

Keifen 21,25. 
kirne (kyme) Pfanzenkeim 36,21. 
kindesch 10, 11. 

klageber klagend 19,a r >. 46, 17. 
kleinheit Geringwertigkeit. Schwäche 
21,28. 

kleinöter Sing. Xeutr. Kleinod 5, 19. 
6, 21 ; Schmuck 19, 2. 39, 25. 26; Ge- 
schenk, Gabe 53, 5. 

s. Klore 4,21. 8,18. 11,2. 51,25. 

clorerin Ciarisse 9, 23. 12, 1. 28. 29, 1. 
32, 9. 34, 3. 38, 23. 44, 16. 46, 13. 

closterhunt 51, 13. 

klütterot ( Var. klütterwerck) Kleinig- 
keit von geringem Wert 39, 28 



(Schmidt, Hist.Wb. der elsäss. Mund- 
art 200*; Anz. für deutsches Alter- 
tum 23,278; Helm, H. v. Heslers 
Ev. Nicodemi S. xlu. lxxvi/; 
Schweizer Id. 3, 704 f.; Deutsches 
Wörterbuch 4, 1214 ; vgl auch Schmidt, 
Nie. von Basel 291,27). 

kochehafen 7, 27 f. 

koff lut 32, 1 L. 

conciencie, conziencie Gewissen 7,22. 

16,9. 19,21. 21,10.21. 25,8. 27,22. 

28,10 41,5.21. 42,1. 43,18. 48,23. 

25 L. 49,9. 51,15. 
conplexion Beschaffenheit, Art 50, 31 f. 
convent 14, 33 ; conventbruder 41, 17 L. 
körn (bildlich) 34, 9. 
correctie Strafe 45,17; corrigieren 

51,29. 

koste schw. Masc. Kosten 31, 24. 37, 

3. 10; st. Fem. Speise 49,2. 
köuffig was sich gut verkauft 32, 3. 
koufherre 31, 23; koufmannschatz 

(Var. koufmanschaft) Handelsgut, 

Waare 32, 2. 
kriegen streiten 12, 12. 13, 8. 
kripfV-knabe (Christus) 10,32. 14,29. 
krowel Gabel mit hakenförmigen 

Spitzen: mit kroweln zerzerren 36, 2. 
kUchinbubelin 4, 31 (vgl zu Heinrich 

von Nördlingen 35,9). 
kiimberlich: es ist nüt k. noch arbeit 

et quia nec laboriosa est ad paran- 

dum 48, 14 f. 
kündecliche klug 14, 19; kündic klug, 

geschickt 47, 15. 
künnen subst. Inf. an nüt künnende 

15, 12. 

kunsch = kiusch 7, 10 L. 

kunst Können 33,7. 45,19; Kunst 

35, 30 ( Var. schul), 
kürtzliche 29, 23. 30, 14. 
küschikeit Keuschheit 23,27. 25,14. 

31, 1. 
kutte 8,11. 42,9. 

laben erquicken 35,2. 
langbeitekeit Beharr lichkeit 44, 9. 
langmütig 20, 11. 34, 12. 44, 9 L; lang- 



Digitized by Google 



Schllrebrand. 



73 



mutekeit f>, 10. 17, 5. 19, 11. 30, 11; 

langniütigklich 17, 6 L. 
langwirig lang dauernd 33, 20. 
Lazarus Lasarns 49,20.26. 
leiden verleiden 41, 26. 
lenden landen, münden 27,24. 33, 19. 
lenge, die. auf die Länge 29, 28. 
lerekint Lehrling, Schüler 45, 14; 

lerlich belehrend 16, 10. 
lernkind Lehrling, Schüler 44, 16 L. 
lesterlieh schimpflich 40, 18. 
letze ifc/io 48, 13. 17- 18. " 
lewe lau : lewes gebet 30, 26. 
lichtvertig 41, 4 L. 
lidecliche völlig 9,4. 14, 26. 
liden ertragen 20 , 1 ; sich L_ sich in 

Geduld schicken, leiden 1~Ö~,4. 20,2. 

32^22. 

lider Dulder 24,30 (Christus). 34, 5. 

lidig (ledig 39, 2 L. 8 L. 48, 27 L) frei, 
unbehindert, rein, völlig 8, 22. 9, 24. 
13, 9. 15, 18. 16,31. 22, 14. 28, 2. 
29, 7. 35, 18 f. 26. 38, 26. 39, 8. 9. 
40, 19. 46,22. 49,2; lidig (und) blos 
39,2.5; lidigen (ledigen 49, 8 L) 
entledigen , befreien 20, 8. 21, 32; 
lidikeit (ledigkait 29, 21 L) Ledig- 
keit, Entblöfstsein, Losgelöstsein 9j 
29. 15, 29. 37, 16. 48, 27. 

liehtrich 17, 30; 1. bekantnisse 25, 10 f. ; 

I. nnderscheit 20, 25 L. 40,25. 46, 2. 
liep oder leit 44, 5. 

lihtecliche leicht, leichthin 18,5. 31, 

II. 24 L. 43, 34. 47, 25. 
lilige ( Var. ilge) Lilie 50, 19. 
liplich(e)— geistlich(e) 4, 7. 33, 18 f. 
löbelich löblich, lobenswert, angenehm 

15,15. 20,22. 21,14. 47,33. 
logen subst. Inf. Xaehntellen 26, 17. 
loner Belohner (Christus) 33,24. 34,6. j 

(A. Geist) 42, 19. 
louherre (Christus) 34, 26. 
löser Erlöser (Christus) 34, 4. 
louf: Vlur. lönffe (Zeit) lauf 10, 10. 

1A20. 

lust: Gen. lustes 13,1. 19, 1. 34, 14. ! 
39,3; Plur. lüste 18,29. 22,31. 34, 
10 «wie; lilstlich Wolge fallen er- [ 



regend, angenehm, lieblich 9, 15. 10, 
32. 17, 11. 24, 25. 25,6; Instsucher 
der nur oberflächlichem Vergnügen 
lebt 32, 1 L. 49, 22. 

Int Inhalt : noch lute nnd sage 21, 30. 

Inter 15, 18; megetliche lnterkeit 3, 11. 
5, 15. 19. 24. 6, 21 f. 28,28; kintliche 
lnterkeit 27.30; luterliche aufrichtig 
50,3; Intern läutern 53, 19. 

niangel 34, 12; mangeln 54. 2. 

manigvaltig vielfach 37,5. 46. 16.21; 
unbeständig, unruhig 16, 19; manig- 
valtikeit (zerstreuende) Vielheit 15, 
31. 27, 31, 46, 24 f.; manigvaltecliehe 

marg nnd blut 5,20. 31, 24L. 
Margburg Marburg 39, 16. 
Maria Magdalena 9.26. 10, 1. 36, 20. 
raarteln martern 5, 35. 
Martha 10, 1. 2. 

materie 4, 2. 6. 12. 41,2. 44,25. 45. 8. 

mehelen cermählen 3, 19. 23, 1. 26, 29. 
meinen denken an, bezwecken 18, 9. 
meister 44 , 13. 26. 45. 14; meistern 

leiten 14, 7; meisterschaft Kloster- 

vorstandschaß 7j_a 9, 33. 28, 7. 31, 

20. 38,24. 
memoriale 15, 7. 49,29. 50, 4. 
memorie memoria 48, 15. 22. 
meng(e)lich jeder 12, 15. 13, 25. 
mengen mengen, vermischen 29. 28. 
meren vermehren 33, 31 L; sich m. 

(merren) 28, 5. 30,7- 
mereutragerin KUitschbase 27, 4. 
merre gröfser 16, 6. 10. 
messen subst. Inf. Abwägen, Bemessen 

23, 35. 

minne und meinnnge 11, 9. 22 f. 41, 
17 f; minnebrant Liebesbrand 4, 13. 
5, 8. 6,6. 50,25; minnebrief 22,5; 
minnebürnend ^3 f.; minueglünsen 
ror Liebe glühen 3, 1.23. 5, 1. 51,28; 
minnekosen st. Ncutr. 15, 23; subst. 
Inf. 16,3; minnelos oAnc Liebe 30, 
26; minnen — meinen 3, 24. 9, 34. 
10, 14. 47,27; minnenkint 53,2; 



74 



Philipp Strauch 



minnenrich 3,4.7. 4,21. 9,29. 10, 
10. 12,18. 13,2. 17,4.12.20,17i«tp. 
53, 2 f.; minnenrichliche 24,27. 39, 
13. 42,5; minnenfur 4,15. 5,7; 
minner Liebhaber (geistlich) 37, 18 L. 
(Christus) 5,3; miuuer der weite 
33,4; nrinnerin 17,8.20. 24,23. 26, ' 

23. 27,17. 32, IL. 3(5,19. 37,18L. I 
42,29. 43,33; minnesam 6,9. 12, 

24. 13,17. 14,3. 40,9. 50,2.8; 
minnesamcliche 20, 10 L. 38, 20. 43, 
16 f.; minnesamkeit 13, 17 L. 49, 1 ; 
daz minneflam inende für 30, 3 ; minne- 
fliessende wunden 25,31. 

mirre Myrrhe 22, 9. 29, 29. 
missetrost Verzweiflung 20, 26. 
inisseval Mis fallen 21,2; missevellig 

mis fallend 10,4; abfällig 21, 2 L. 

43, 23. 

mit sitzen : wenne sü üch mit gesessen 
sint nahe wohnen 16,27. 

mittel was hindernd dazteischen steht, 
Hindernis 4,2. 21, 11. 36,28. 40, 11. 
41,23. 46,24. 47,8; Mitte, Zwischen- 
zeit 15,1. 42,19. 51,19. 

mitteliden subat. Inf. Mitleiden 24, 11. 

moler 44, 24. 

morgengobe Morgengabe des Mannes 
23,6. 

möge (Masc? 27,30) Flecken, Makel 
19, 10. 22, 10. 

mnleht mürrisch 17, 17. 32, 23 L. 

mur (bildlich) 7, 10 L. 

murineldine Bezeichnung für eine ge- 
schwätzige, klatschsüchtige Weibs- 
person 27,3 (zu murmeln; dine — 
Dyne = Christine? Diefenbach- 
Wükker, Hoch- und nd. Wörterb. 
351). 

mÜBclien mischen, mengen 29,28. 
müss Speise 51, 15 L. 
muHsig unbeschäftigt 15,22; untätig 
29, 23. 

mutwillig 19, 3 f. 49, 21 f. 

nachwessig, noweasig, nowessigkait? 

8. 17 L. 51, 6 L. 
nagen (bildlich) 19,20. 



narrenspil 32,4. 

natürlich 13, 1 ; die alle n. ainne nüt 

begriffen mogent 29,24. 
neiglicheit Neigung, Hang 7,19. 11, 

14 L. 12,16. 19,5. 23,12. 29,11. 

31.24L. 39,25. 41,21. 49, 2 L. 

51, 6 L. 
neigunge 30,2. 
nidcrloa Niederlassung 7, 3. 
messen subat. Inf. Geniefsen 13, 17. 20. 
nitblestig neid-, hafsgeschwoUen 12, 

18 L. 
noehbilden 40,30. 
noebdenne dennoch 18,22. 
noch gedencken in Erwägung ziehen, 

ins Auge fassen 47, 14 f. 
noch gevolgen 24, 30 f. 41,1 f. 
nochgültig geringwertig 49, 2. 
nochschüren subst. Inf. Naclachüren, 

Nachfeuern 4, 13. 
noch volgen 24. 27 f. 41, 11 f.; aubst. 

Inf. 41,14; nochvolgerin 24,29. 
notdurft Lebensunterhalt, Bedürfnis 

9,6. 38,12. 49,7; lipliche n. 9,3. 

37,3.25. 38,11.20; notdürftig not- 
wendig 42, 30. 51, 27 L. 
notfest erprobt, bewährt in der Not 

48, 25 L. 
novicie 14,10.14. 17,21. 34,4. 
nowessig, nowessigkait s. nachwessig. 
nüt: zu nute werden zu nichte werden 

36, 15. 

nütze Nutzen 21,27; Adj. 42,30; 

nützest und fruhtberest 33, 31 , *. auch 

fruhtber. 
nnwegeborn 17,21. 
nuwent nur 15,29. 36,27. 41,13. 44,18. 

Ohe (25, 10), übe (14, 27), ebe (21, 21. 

25. 4. 47, 7) wenn. 
obentürer: die gaistlichen o. Streiter 

32, 1 L; ofenturlich aufserordentlich, 

ungewöhnlich 33, 1 1 offentüren 

wagen, riskieren 31,24L. 
offenbaren 39,22. 
oley 0/ 6, 29. 32. 31, 3. 5. 
Oliveti, berc 24, 21. 26, 1. 
omeli Homilie, Predigt 47,36. 48,3. 



Digitized by Google 



Sehürebrand. 



75 



ordenunge Anordnung, Vorschrift 31, 
16. 35,22. 42,33; mit o. ordnungs- 
gemäß 14,82. 

parte Partei 11, 19 f. 12,9. 

partige Partei 11, 17; Spaltung in 

Parteien 31, 17; sich partigen 11, 18. 
s. Peter 41,8. 
pfat: Plur. pfede 23, 27. 
pfelleu pfählen, mit einem Pfahl 

spiefsen 36, 4 L. 
pfening (bildlich) 31,8. 
pflantzen 36, 20- 

pfleger 48, 24. 49, 8; pflegerin (des i 

Klosters) 14, 34. 
pfunt (bildlich) 30. 5. 
pine Qual, Pein 42,22. 48,2. 40,23; ; 

pinigen peinigen 20, 3; pinlich 20, 7. 

a% 20. 

porte Pforte 48, 25 L ; portner Pförtner 

48, 25 h. 
prelate 38, 9. 13. 39. 23. 
prior 39, 23 ; priorin 14, 6. 
probieren probare 51, 29. 
psalterienspil 15, 14. 
psaltieren subst. Inf. auf dem Psalte- 

rium sjnelen 15, 14 L. 

qnelbnrne Quell 34, 32. 46, 6. 7. I 
qweloder Quellader 45, 26. 

rassebaner feindliches Kriegspanier 
lj^lO. 

rassen toben, kriegen 12, 12. 

rechenen rechnen 30, 16. 47, 5. 

redelich vernünftig, angemessen 32, 7 ; 
zu r. notdurft 31, 13 f. 38, 12; one 
r. sache ohne zwingenden Grund 
26,31 f.; redeliches Adv. 28, 34. 

reden: Praet. rette 40, 8. 23. 

redern radern 36,4. 

regenwetter 34, 27. 

reißen reizen, antreiben 50,21. 51,2. 

reveutor Speisezimmer im Kloster 9, 10. 

richliche 29, 13. 

riebsen herrschen 32, 16. 51,23. 
ringen subst. Inf. 10, 18. 
ritterin: gottea r. Streiterin 47, 32 ; 
ritterliche vestekeit 47,33; ritter- ( 



Schaft ritterlicher Kampf (geistlich) 
17, 25. 

rose 50, 19; rosevar rosenfarb 25, 32. 

rotgebe 10, 33. 42, 17. 

rotfrogen subst. Inf. Um Hat fragen 

4A16: 
ruch rauh 50, 18. 
rute = rftte Raute 52, 14. 
rawe sw.Masc. Betrübnis 32, 13; Reue 

25, 18; ruwerin Büsserin (Maria 

Magdaletui) 26, 22. 36, 19. 
riiwig ruhig 51, 14 L. 

»ache Ursache 20, 15. 21, 9; mit s. sin 
wellent 12, 14: einem 8. geben zu 
38, 10: »achen zu verursachen 18, 31. 
20, 15 L. 22, 12 L. 

sage Aussage 21, 30. 

salbe 19, 8. 

sam(m)enunge (Yar. samlnnge) geist- 
licher Verein, Konvent 42, 31. 50, 30. 
51,7. 

schadeber schädlich 36, 28. 40, 10. 41, 

23. 48. 25 L. 
schalkeht (Var. schalckhaftig) boshaft, 

hinterlistig 26, 17. 
schammeröte 43, 25. 
schapperon (franz. chaperon) Scapu- 

lier 39, 27. 
schedelich 4^ 13, 28. 28, 1. 40, 10 L. 

48, 25 L ; schedeliehe Ade. 

27^19. 

schetzen dafürhalten 18, 18. ll>, 16. 22, 
23. 30, 17. ;« >. 31,18. 33, 3. «6, ! ». 4( ), 2 1 ■ 

schilhende blinde iu den kutteu wegen 
ihres versteckten und ungeraden 
^Vesens so genannt 8, 10. 

schimpf: in sch. —in ernst 42, 36. 

schiu äufserer Schein 19, 19. 39, 8. 
44,8; in alleme ußewendigeme schine 
äu/'seres Gebaren 13, 26 f.; geistlicher 
sch. 42,9.11; in g. sch. 14,28. 26,29. 
33, 4. 36, 10. 40, 12. 

schirm Schutz 7, 10 L. 11, 4; schirmer 
Fechter 44, 29 ; schirmslac Fechter- 
streich 44, 30. 

Schocher Schächer (am Kreuz) 18, 7. 

schonen Rücksicht nehmen 43, 14. 



76 



Philipp Strauch 



schuhen vor etwas Scheu haben 26, 31. 

schuler 40.6; schulerin 35, 4. 17; Schul- 
meister 30,18. 45, 17 L. 

schürebraut einer der das Feuer schürt, 
anfacht 4, 30; Titel des Traktats 3, 2. 
4,12. 51,29. 

schüren scheuern, reinigen 49,5. 

schüßeln weichen 49,5. 

schütze 44, 27. 

schützig {Var. schützlich) ergiebig, 
ersprief stich, vorteilhaft (Schmidt, 
Rist. Wb. dcreltäss. Mundart 317*; 
Deutsches Wörterbuch 9,2136). 

seckel Geldbeutel 7, 27. 37, 10. 24. 38, 
L 15. 

seitenspiel 15, 14. 

«enen verlange n 47, 4 ; subst. Inf. 18,14; 
Neutr. 14, 22. 19, 12. 29, 15 ; Beulich 
29,3; senlichait 29, 11 L; senunge 
19, 25. 

Benftmütig 51,12; senftrautecliche 19, 
36; senftmütigkait 45, 1 L. 

Bichel (bildlich) 34, 12. 

sicher Adv. sicher, gewifs 22, 26. 

siechtage Siechtum 21,3.4. 

siglos machen 7, 10 L. 

sin : Conjunktiv sige 10, 28. 12, 6. 14, 
11 usw. 

sinnelich (im Gegensatz zu geistig) 

33, 8. 36, 12. 39, 16 L. 45, 24. 
sittig ruhig, bescheiden 44, 10. 
sraal gering, cn^. sraalconciencie 41,4. 
smeicheleht schmeichlerisch 5, 29. 
smertzen 28, 9. 

snitter 34, 22. 28. 35, 1 ; snitterjon 34, 
16, 23 s. jon. 

snode (schnöde 30.27L.) verächtlich, 
ärmlich 39, 15. 44, 7. 

sorglich gefährlich 19, 17. 22. 27, 28. 
36,28. 37,7. 40, 10.21; sorgsam 48, 
25 L; sorgveltekeit sorgende Ge- 
schäßigkeit 10,2; mit — sorgvel- 
tigem (durch sorgende Geschäftig- 
keit und Unruhe hervorgerufenen) 
kumher 33, 19. 

sparen: lüste sp. (irdische) Freuden 
aufsparen, auf sie verzichten 47, 2. 
51, 5. 



spiser (Christus) 51,18L. 

stat Zustand 7,5; Stand, Würde 41, 6 L. 

stege Stiege 39, 12. 

Steiger, die 39, 20. 

stellen nach trachten, streben 38, 26 L. 

sterben oder genesen 49, 15. 

stille sin 44,10; stille des gemutes 

35, 28. 

ston : vor allen stonden gebresten be- 
stehenden? dauernden? 41,27. 

straffung stroffunge Tadel, Strafe 21,2. 
45, 16 L. 

strangheit Strenge : des ordens 8, 28. 

13,4. 37,15. 
stric : stricke der weite 3,4 ; des Teufels 

27, 29. 

Studentin Schülerin 45,20 L; studieren 

35, 30. 45, 1 L. 
sturmwütig stürmisch 46, 14. 
sumen aufhalten 54, 1 ; die sich des 

oleyes gesumet hettent sich nicht 

darum gekümmert hatten 31,5. 
sunderheit Besonderheit 7, '25 f. 25,9. 

37, 6.7. 41, 25 f.; in s. 40, 13. 17; 

sunderlich besonder 53,29; sunder- 

liche Adv. 35, 10. 
sunerin Versöhnerin (Maria) 26, 19. 
sure 14,13. 24,13. 44,23; s. — süße 

49, 14. 50, 28. 
surheilig mit finsterer Miene fromm, 

scheinheilig 14,4 (Schmidt, Hist. 

Wb. der elsäss. Mundart 349»>). 
Suse 50, 14. 

swappelmetze Schwätzerin 27, 3 

{Schmidt a. a. 0. 317" und Deutsches 

Wörterbuch 9, 2279). 
swelme Dunst, Nebel 35,25. 
swermutig 17, 16. 22. 18, 14. 19, 12 

usw.; swermütikeit 4, 5 f. 17,6.14. 

18, 2. 13. 26 usw. usw. 
swingen : die helme vom Waizen 53, 14. 

Tauweier (Var. Tabler, tallor) 50, 14. 
teilhaftig 23,33. 42,14. 51,21. 
telbcn graben : Part, getolben 34, 33. 
tistelc Distel 50, 18. 
töden der naturen 13, 5. 
tönen 48, 22. 



Digitized by Google 



Schürebrand. 



77 



toren = tarn schädigen : substantiviert 

17, 3 L. 
torwarte 48, 24 L. 

trabte Gericht 8^6^ 9, 11. 25, 6. 

51,15 L. 
trege 23, 13. 27, IG. 47. 20. 
trengen bedrängen 52, 10. S. t nicken, 
troschen dreschen 53, 14. 
tröster 43, 8. 

trouwen subst. Inf. Drohen 5, 33. 
truc, trug 5, 22. 47,21). 52, 11.25; Plur. 

trücke 47, 23. 53. 4 ; trug und ge- 

trenge 4,9. G, 15. 10,23. 19, 18. 

22, 15. 2t», 14.30,12.34,24. 03.26. 
trncken : getnicket und getrenget 19, 

31. 32, 25 f. 33, IG f. 
trunkenbolt 49, 22. 

trutine Geliebte, Gattin : (gottes) tr. 

24, 29 L. 37, 18 L. 
truwe : in gantzen truwen 41, 25. 
tön und losseu 20, 19; in tunde und 

in lossende 20,14. 28,8. 46, 2 f. 
türeredig sparsam mit dem Beden 

26^30. 

tusentlistig (Teufel) 7, 10 L. 12, 1; 

tnscntvaltig 17, 2. 
tütsch: tütsche bücher 45, 1 L. 
tyranne 5,34. 20, 6. 

Abele sehr 47, 21; übele oder wol 44, 5. 
übergeben dahingehen 14, 20. 
übergon über sich ergehen lassen 

43, 22. 

überkiben durch Keifen, Schreien über- 
treffen 11,21. 

tiberloufen durch Besuch belästigen 
16,27. 

übernatürlich 14, 16. 41, 17 L. 

übersinnelich 47, 24; Ubersinneliche 
Adv. 22, 25. 

übertreffende aufserordentlich 29^ 2G f. 

übertretten 39, 7; überschreiten, über- 
treten 21,23. 24,4. 25,16. 47,8. 

ufenthalt Stütze, Schutz 43, 1 1. 53,25; 
ufenthalteu aufrecht halten, erhalten, 
schützen 26, 10 f. 27, 28. 

uf erheben aufrichten, erheben 22, 16. 

uf geben aufgeben, fahren lassen 9, 32. 



32,18. 35,32. 41,15; subst. Inf. 

^la 

uf impfen aufpfropfen 36, 21. 

uf lossen übergeben 23, 2. 

uf nemen 29.31 L. 50,5. 52,28. 

ufopfern subst. Inf. 20, 18. 

uf rihten : mit uf gerihteter (auf- 
richtiger) begirdc 15, 18. 

ufsatz J'lur. ufsetze Vorhaben, Plan 
16, 2. 29, 22. 33, 12. 

ufsehen Xeutr. Aufmerksamkeit, Be- 
achten 14, 26. 39, 26. 

uffal Schickung. Zufall 42, 25. 

uf zwi^en aufpfropfen 36, 21 L. 

unahtber unansehnlich 36,2t. 49,6; 
u. werden nicht darauf achten, ver- 
nachlässigen 32, 15. 

unahtsani unaufmerksam, nicht Acht 
gebend 6, 32. 47, 20; unahtsamkeit 
48, 28; nnahtsamkliche 27, 18. 32,14. 

unbehangen unbeschränkt 29, 21 L. 

unbekümbert unbedrängt, sorglos 29, 7. 

unbetrogenlitke offenbar 18, 10. 

undancknemekait Undankbarkeit 20, 
2.L. 

underganc Unterwerfung, Unterord- 
nung 43, 25. 51, 5 L. 

underlos, on assidue 48, 16. 21. 

nnderscheit Belehrung, Unterweisung 
4, 28. 20, 25. 25, 10. 40, 25. 46, 2. 

under werfen abschütteln 53, 6; da- 
gegen sich underwerfen 53, 6 L. 

under wilen, underwilent bisweilen 
4,31. 17,7. 

underwinden, sich sich unter zielten 45, 
15 f. 

underworffen unterwürfig, demütig 
49, 4; underwürfeuliche 14, 8. 

underziehen entziehen 7, 6. 16, 4. 17, 
8^ 36, 30 L; underzuc Entziehung, 
Verlust 42, 25. 

unere Kränkung 32, 25; unerlich un- 
würdig 17, 16. 41, 1 L. 

unerlebet unerfahren, unerprobt 41, 1. 

unerschöpflich 46, 6. 

ungebögig unbeweglich, schwerfällig 
45, 1 L. 

ungehüre schrecklich 26, 17. 



78 



Philipp Strauch 



nngelassenheit ungelossenheit Thiduld- 
samkeit , Ungeduld 11,22 L. 46,15; 
ungelosaen unduldsam 12, 18 L. 17, 17. 

uugelicheit 50, 31. 

ungeinesse nicht passend, nicht ge- 
ziemend 17, 16. 

uugemeßen unermesslich 42, 22. 

nngeneme abstofsend, unlieb, unan- 
genehm 20, 15. 37,26. 

nngeordent 11,21. 17, U. 19,1.4. 14 f. 
25. 20, 13. 21,21. 21), 4. 37, 18. 

ungerocheu 31, 16 L. 

ungeruwig unruhig 10, 17. 33, 20 L. 
22. 46, 19. 

ungestalt verunstaltet 44, 25. 

ungestüme 22, 12 L. 

ungetrüweliche 38, 15. 

ungevell : un (an) alles u. 6, 4 L. 
formelhaft: ohn Unterlaß; un- 
gefellich unhei, mts fallend 20, 14. ' 

ungewittere 31, 26. 

ungünstig übeltcollcnd, mißgünstig 
12^18, 

unkriBten unchristlich 11, 23. 

nnkrut (bildlich) 8,25. 12,5. 

unlidikeit Beschäftigung, Geschäftig- 
keit 16, 30. 

unlustig u»i«/i^e?itÄm 17, 12 L. 

unlUstlich Widerwillen erregend, un- 
angenehm 19, 30. 

unluterkeit Uvkeuschheit 40, 18. 

unmerglioh unklar 35, 25. 

unmittelich unmittelbar, direkt 44, 28. 

unmüsse Unruhe 33, 22. 

unredelich unverständig, ungebütiieh 
13, 6. 

unschmackend : gebet fade 17, 12 L. 
Unsere frouwen zelle Kloster 40, 4 f. 
unsicher ungewiss 40, 1 1 ; schwankend 

41,4; Unsicherheit 48, 25. 
unsmeglich : gehet fade 17, 12. 
uustetekeit Unbeständigkeit 3^]^ 

19, 20. 

untrost Mutlosigkeit 20, 9. 
unsprecbenlicbe unsagbar 22, 25. 
unusspreckenlich nicht zu sagen 4, 10 L. 
unverdrossenlich unvenirowen 14, 8 L. 
unverentwnrtet tt»6ca?i:itor/f/ 43, 22. 



nnvermogenheit Unvermögen, Nichtig- 
keit 21^28. 

unverraosiget unbefleckt 42, 1. 48,25 L. 

unverschuldet 21, 8. 

unfridelich 12, 5. 19, 20. 

unfruhther 10, 16. 13, 28. 23, 8. 9. 34^ 
18; unfruhtherliche 32,6. 

unfürsichtig unvorhergesehen 21, 22 L. 

unwert Adj. wertlos, verächtlich 37,25; 
Subst. Geringschätzung 5, 31; un- 
wertlich geringschätzig, gering- 
wertig 31, 18. 49, 5. 

unwirig unbeständig, nicht dauerluift 
36.14. 

unwnrsch unwirsch, unwillig 17, 17. 

32, 23. 
üppig leer, eitel 19, 14. 
urdrutz Misbehagen, Verdrufs 21, 5 ; 

urdrützig überdrüssig, unlustig 16, 

11. 17, 13. 32, 17. 42, 34. 
urlop Abschied: der weite — einen 

frien u. geben 7, 17. 
Ursache Ursache, Anlafs 28, 2. 35, 13. 

43, 6. 
Ursprung 27, 22. 
urstende Auferstehung 36, 18. 
urteil (hartes) Urteil 21,5. 27,5. 
usbrechung Ausbruch 19, 35 L. 
usbruch Flur, usbrüche 19, 35. 22, 12 L. 
ussan, ussen: von u. 12, 4. 35, 24. 42, 

11. 43,27. 45,8. 25. 46,4- 5. 11. 8. 

auch innan. 
usser Präp. aus 20, 16. 25,30. 26,26. 

41,4. 
usserlich 16, 12. 

ussewendig äufserlich 13, 26. 16, 4. 
21, 18. 25, 2. 27, 2. 6. 31,5. 36, 5. 
43, 29. " 

uzgaug Heraustreten, Aufgeben 23, 30. 
uzgcnomenlich ganz besonders 8, 19. 
uz liden 22,4. 53,31. 
uzqual st. Masc. Hervorquellen 45, 26. 
uz rihten besorgen 27, 4. 
uzsagen subst. Inf. Aussage 46, 17. 
uz sliezen 42, 3. 
uzslohen: die zene 36, 2. 
uz sweren (bildlich) heraus schwären 
19, 5. 



Schflrebrand. 



79 



uz triben 27, 10. 

uzwirglich nach aufsen strebend, 
äufserlich? 16,30. 

vaterlant (das himmlische) 33, 2 L. 

vegefür 8, 12. 33, 20- 37, 10. 

vehten kämpfen, sich abmühen 33, 6 ; 
subst. Inf. 10, 17. 

veralten zu alt werden 45, 1 L. 

verantwurten verentwurten beant- 
worten 43J22L; rechtfertigen 9, 34 ff. 

verbilden verunstalten, entstellen 38, 1 ; 
herze v. 27,9. 46,19 (vgl nhd 
Herzensbildung); verbildnnge Ver- 
unstaltung, Entstellung, Trübung 

15, 31 L. 23,11. 28, I L. 35, 13. 46, 

16. 48, 25 L. 

verbinden verbinden, verpflichten 16,32. 
23,26. 36, 25 f.; sich v. 10, 20. 30^ I 
2£LÜ2. 

verblenden 11, 24. 33,5. 36,11. 44,8; 

eine verblendete affenheit 10, 14 ; 

verblendete widerparten 12, 15. 
verbliben: eine verblibene nnnue 27, 10 

zurückgeblieben, von Gott tierlassen? 
verborgenliche heimlich 10, 26. 
verbünnen misgönnen, einem etwas 

nicht wünschen 8, 27. 13, 27 f. 
verdienlich ersprießlich, würdig 3, 25. 

5,25. 7, 10 L. 12, 23. 17, 24. 18, 26- 

25, 17. 30. 24. 37, 19. 43,20; ver- 

dienlichait ( Var. wirdikeit) 15, 10 L. 
verdriessen 10,6. 47,18.21 ; subst. Inf. 

Verdrufs 21, 19. 30. 12. 32, 13L; ver- I 

driez (Var. verdrossenhait) Über- | 

drufs, Unwille 21, 5. 
verdümnisse Vcrdamnis 20, 15. 
verdunsteren verfinstern 46, 18 L. 
vereinberen vereinigen 12,20. 30,2. j 
vergift Gift 19, 17; vergiftig 8, 25. 
verhengnis.se Gnade 33, 32. 
verhertet verstockt 11, 23 L. 
verhonen verhunzen, verderben 12, 2. 

±L2L 

verirren irre führen 16, 9. 21, 21. 
verjagen vertreiben 27, 10. 
verkert verkehrt, schlecht 11, 23. 
verkiesen, Part, verkosen, nicht be- 



achten, übersehen, aufgeben 31,17.21. 

verlieren (nihil Verliesen) 11,26. 13,5. 
27, 9. 19 f. 41,5. 44,26. 

verlüucken subst. Inf. Verleugnen 9, 31. 

verlümundet in gutem Rufe stehend, 
berühmt 13,24. 

vermalediet verflucht 38, 2. 

venuanen ermahnen 4,2.11. 16,6. 45,8. 
48, 4 L. 49,8; verraanunge 24, 32. 

vermessen, sich sich kühn zu etwas 
entschliefsen 39, 14 ; Part Adj. kühn, 
tapfer 17, 20; verraessenheit Ent- 
schlossenheit, Kühnheit, Mut 5, 2. 
7, 10 L. 13,2. 21,23. 30,1. 33,1. 47, 
8 f. 48, 25 L. 50, 26. 

vermitteln hindernd zwischen etwas 
treten 46, 18. 

vermögen subst. Inf. Vermögen, 
Können 47, 28; «f. Neutr. Kraft, 
Fähigkeit 7, 10 L. 

vermüschen 19,18. 34, 18. 

vernichten für nichts achten, herab- 
setzen 31, 16 L. 

Vernunft : über all sinnlich v. 22, 25 L. ; 
vernunftenklich 32, 7 L ; vernünftig 
46, 8. 

verrihten verurteilen 10,6. 42,35. 
verrucht verwerflich 7, 10. 
verruinet berühmt 13, 24. 
versagen 28, 33. 

versamelt gesammelt : ein v. gemüte 
23^15. 

versehen 9, 3. 38, 20 ; sich v. rechnen 
auf, gewärtig sein 8, 29. 26, 15. 

versmehte Fein. Beschimpfung , Ver- 
achtung 22, 20 ; versmohen 35, 32. 
53, G : subst. Inf. 39,3; Part, die ver- 
smehteu 49, 18 ; versmoherin der weite 
14, 18. 32, 2S. 

verspiweu, H_Plur. Praet. verspnwetent, 
anspeien, verschmähen, verachten 
5, 27 f. 20, 0. 

versprechen absagen, aufgeben 3, 15; 
ablehnen 5, 28. 

verspützen (mhd. spiuzen) verspeien, 
bespeien 20, 6. 

verstelen stehlen, wegnehmen 29, 18. 48, 
25 L ; sich v. sich wegstehlen 15, 29. 



80 



Philipp Strauch 



verstricken bestricken 11, 25; ver- 
pflichten 36, 26. 

verswenden hingeben 25, 33 ; beseitigen \ 
47, 9. 

vertören betören 32, 1 L. 

vertragen nachsehen, Geduld haben 

vertrösten, sich 31, 24 L, 

vertruwen antrauen 3, 19. 22, 19. 23, 1. 
34, 19. 43, 33 L. 

vertuuckelen 4G, 18. 

verfallen : mit einem wihe 40, IG. 

verfeien verfehlen : streiche v. 44, 29. 

verflechten, sich sich verstricken 33, 14. 

verdecken beflecken 8, 24; die flamme 
(bildlich) ist verflecket hübe ge- 
worden 50, 24. 

verflissen beflissen 12, 1 f. 

Verfolgung 31. 24 L. 

verwegen 35, 31 f. ; verwegeuliehe mutig i 
3,15. 18,31. 

verwesen vertreten 15,7; verschen, ent- 
schädigen 17, 2. 

verwirren, sich 33, 14. 

verworfen geringwertig, armselig 39,9. 
49, 6_ L ; Verworfenheit Gering- 
seh Atzung 39, 7 ; verworf enlich herab- 
setzend, demütigend 39, 15. 

verzagen subst. Inf. 5, 32, IS, 3; 8t. 
Neutr. 45, 10 L. 

verric (Var. verzüchung) Verzicht 
25, 3. 

verzihen verzeihen 1 8, 5 f. 25, 29; ver- 
weigern, versagen 28, 33; sich v. 
verzichten auf, aufgeben 7, 18. 13, 1. 
17, 1- 41, 15 ; st. Xeutr. Absagen 
8,20. 

veste Festung (bildlich) 48, 25 L. 
figure Bild. Gleichnis 52, 18. 
flücht«al Flucht 32, 29 L. 
volleherten ausdauern, ausharren 4, 34. 

2A3, 

vollekummeuheit 48, 20. 
vor gen vorausgehen, den Weg ebnen? 
43, 19. 

vor gesin schützen 22, 7. 
vorhte der hellen 48, 24. 49,9; vürhtlich 
furchtbar 48, 7, 



forme Vorbild, Muster 3, 22. 
vortragen vorführen, zeigen 51, 13. 
8 Franciscus 4,20. 7,22. 11,1. 88,17. 

39, 1. 51, 25. 
frevenliche mutwillig 25, 28. 
fride und früude 10, 25. 12,21. 27,23. 

29,27. 35,22; vgl. 33, 18 L; fridelich 

43,31; frideliche Adv. 14, 3. 25, 9. 

42,35: fridesam 20,10L. 29,7. 43, 8 f. 
frilich(e) aus freien Stücken 22, 12. 

24. 13. 35,32; fr. und froliche 3, 16; 
ohne weiteres 41, 7. 

fro und frolich 18, 34 f.; frölich und 

fro 28, 12. 29, 13. 32 f. 
fröudendautz 43, 32. 
fröudenrich 17, 26. 22, 14. 17. 25, 3. 

20, 16. 47,6.24. 49, 13 L. 19. 
fruht 4, 10. G, 4. 28, 5. 30. 30, 29. 31, 10. 

32. 14. 34. 7. 13 usw.; fruhtber 19. 
7.11. 21, 15. 24,32. 25, 17. 27, 19. 

34. 15. 36. 23. 51. 15; fr. und nütze 
9,18. 19,32. 45,22. 46, 30 f. 51,11; 
fruhtberkeit 33, 27; fruhtberliche 
15.9. 20, 10 L. 50, 28 f. 53,31. 

fmranien helfen, nützen 27, 9. 

füllerich Fresser 49, 22. 

fundieren gründen, stiften 7, 24. 15, 

14. IG, 33. 27, 1. 
fuoz : under uwere füsse trettent 2^ 

18f. 

vürgon vorübergehen, vorbeigehen 
43, 21. 

vlir heben vorhalten 18, 2. 

vürkomen vorwärts kommen 42, 22 f. 

vürkomen, fürkummen zuvorkommen 
39, 7; verhüten 8, 14 ; vorsorgend 
behüten 27, 28; fürkummenheit vor- 
sorgliche Bewahrung 35, 12. 

vüreatz Vorsatz, Absicht 3, G. 

furseheu vorher ausersehen 26, 26 L. 

vürsihtig einsichtig, verständig 13, 2. 
31,22 L. 34, 20. 35,21 L; vürsihti- 
keit 33. 3; v. gottes göttliche Vor- 
sehung 53, 10. 

fürwurf Gegenstand 7, 10 L. 



wackerheit : mit w. der sinne sensu 
Semper vigilantissimo 48. 14. 



Schürebrand. 



81 



wandel Lebenswandel 23, 13. 

warnunge 40, 10. 41, 17 L. 

warten warten auf, erwarten 13, 19. I 

31.24 L; dienen 15, 22. 33, 29. 
wartespiel Schauspiel ? 32, 11. 
we oder wol 49, 14. 
wehsseln einen "Wechsel, Tausch vor- 

nehmen 14, 19. 
weichertzikeit krankhafte Weichheit, 

krankhaftes Hingeben 29. 9. 
weisse Waizen 53, 12. 
wel welcher 33, 26. 28. 
werben streben 33, 11. 
werden: 2. Sing, l'räs. wnrst 52. 1 1 ; i 

'S^Sing. wurt 4, 33. 5,25. 8,13. 10, 1 

18. 14,13. 17,29. IS, 2. 20, 24 usw. 

twir. , vgl. wurf 52, 22 ; verwurreut 

33, 14; unwursch (s. o.) ; wurtschaft 

(s «.) ; wnste 40, 25. 
wergmeister (Christus) 29, 21. 
weachen waschen 49, 5. 
wesenlieb dauerhaft, sicher 44, 14. 

45, 18. 

westerbar Täufling 17,21. 

wideme Morgengabe, Hochzeitsge- 
schenk 23,2. 6. 24,9; widem(e)brief 
22, 28. 23, 20. 24^ lOi widengabe 
24, 9 L. 

wider bilden widerbilden ein Ebenbild 
von etwas darstellen 53, 17-20. 

widerdries Verdntfs, .•'l'rgcr21,7.31,2fif. 

widerparte Gegenpartei 12, 11. 15; 
Zwiespalt 12, 5. 

widerpartie Gegenpartei 43, 2 L. 

widerroteu abraten 41, 20. 

widersache Fem. Feindschaß, J'lur. 
Intriguen 11, 5. 

widerslaben ins Gegenteil umschlagen, 
verwandeln 19, 23. 

widersnallen ynit heftigen Worten ent- 
gegnen: st. Neutr. one alles w. 
43, 20. 

widerspenig widerspenstig 20, 1 . 
widerwertig 21, 13. 28, 6 L. 31.24L. 

32,12. 42,25. 43,22. 4<j, 14. 47,35. 

51. 4 f.; widerwertikeit 3, 17. 4, 9. 

15^ 10, 16. 18, 33. 21,11 L. 34, 24 f. 

43, 9 f. 47, 29. 50, 29. 



widerzeme widerwärtig, unangenehm, 
unlieb 19, 29. 20, 5 L. 15_L. 32, 20. 

wile, die derweil 40, 5. 

wile Nonnenschleier S, 11. 42, 9. 

willenbrecheu subst. Inf. 28, ti. 34, 10. 
51, 5 f.; st. Neutr. 13, 4 f. 31, 24L. 

willenklich freiwillig 36, 30 L.; willig 
eifrig 22, 19. 

wiltvang tri Wer Schöfsling 36, 21. 

wilunge Verschleierung bei der Ein- 
kleidung einer Nonne 49, 30. 

winckel 15, 30. 

Wintertnr 39, 19. 

wisele Wiesel 52, 13. 

wisliehe 53, 31. 

witsweifng mit den Augen umher- 
schweifend, unachtsam , oberfläch- 
lich 7, 2; witsweiffikeit Umher- 
schweifen 23, 15- 46,21. 

\yogentcagen,aufs Spiel setzen 31 , 10.25. 

wolgeraüt 17,31. 43.31. 

wolgetru wende 13, 21. 

wollust Genufs, Wolleben 49, 20.25; 
w. des libes 33, 6. 

worhafteeliche 18, 10. 

w ücbern Frucht bringen 30, 7. 

wurtschaft Hochzeit , Fest 6,31. 31,4. 
49^19. 

wurtzeln Wurzel fassen 40, 29 L. 
wuterieb 5,34. 20,6. 

aale: in ire zale kumment 23, 34. 
zancken 13, 7. 

Zartheit Weichlichkeit 29, 3. 
zeffelunge Zanken, Streiten 31, 17 

(vgl. schwäb. zefern, Schneller 2^ 

1087). 

zerbieget aufgeblasen 17, 17. 32, 24. 

zerqwirsehen ( l'flr.zerquitzschen) zer- 
quetschen 36, 3. 

zerslachen 36, 2 L. 

Zerstörer (Christus) 34, 5. 

zerfliesseu 28, '.12. 

zerzerren zerreifsen 36, 3. 

zil 42.21. 44,28; gesast zil 33, 13; 
zilen streben 47, 5. 

zisterne: fule z. 45,25; zisternewaaser 
46, 16. 



Philipp Strand] 

zit : in zit und (noch) in ewikeit 18,11. 

25. 26, 17 f. 35. 23: zit Mose. 32, 33; 

zitlich 14,23. 17, 3 L. 32, 1 L. 33,(5. 

6*. rttic/t gefeile, 
zornmütig 5, 33 f. 11,22. 19,34. 22, 

12 L. 

zuhtmeister Erzieher 48, 24. 4!». 8. 

züker Einkehr 11, 9. 17, 12. 30, 22. 2«. 
35, 7. 15. 38, 21 ; zu keren : mit zu 
gekürtem hertzen attento co nie 48, 13. 

zu komen zum Ziel kommen: des man 
otieh vil neher zu keine wodurch 
man auch besser fahren würde 37, 3 f. 

zükunft Ankunft 13, 18. 



, SYhürehrand. 

ziival Begebenheit, Ding: weltlicher z. 
7, 17 ; Unsicherheit züvalles und anc- 
hanges 27, 31 ; sorgliche ziivelle 4,3; 
ziivelle von ussen 44,11: tegeliche 
z. Einnahme, Eingang 25, 4 ; zü- 
vallen 21,26. 44,11. 52,23.25.53, 
4.12; züvfillende zufällig, improvi- 
siert 15, 24 ; zuvellig zufallend 28, 4. 

züversiht der ewigen fröuden, des 
ewigen riches 48, 24 f. 49, 10. 

zulluht 52, 12. 

zweigunge Spaltung 12,5. 

zwifel: sunder zw. 18,11. 20,24. 21, 
17: snnder allen zw. 30,8. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelinann. 

Von 

Arnold E. Berger. 



6* 



Digitized by Google 



"TTT" lc ^ manns Erstlingsschrift 'Gedanken über die Nach- 
T t ahmung der griechischen Werke' 1 ) enthält seine ganze 
Lebensleistung im Keime. Mit einer erstaunlichen Sicherheit 
ist hier bereits der Weg eingeschlagen, auf dem er nur ruhig 
fortzuschreiten brauchte, um all die goldenen Früchte ein- 
zusammeln, die er zwölf arbeitsvolle Jahre hindurch in silbernen 
Schalen darbot. 

Am Eingang des Werkchens steht der Satz: 'Der einzige 
Weg für uns, grofs, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu 
werden, ist die Nachahmung der Alten'. Mit einer kurzen 
Wendung wird dann die römische Kunst bei Seite geschoben, 
man erwartet ein glänzendes Bild der griechischen, aber statt 
eines farbenreichen Gemäldes erscheint eine ruhige historische 
Betrachtung, welche die Blüte der griechischen Kunst aus 
den auf das glücklichste zusammentreffenden Bedingungen des 
griechischen Nationallebens erklärt und damit die an den Anfang 
gestellte Forderung der Griechennachahmung eigentlich wieder 
aufhebt. Über diese Entzweiung des historischen Sinnes mit 
sich selbst ist Winckelmann nie hinausgekommen; er erkannte 
sehr wohl, dafs wir Neueren unter ganz abweichenden örtlichen 
und kulturellen Bedingungen aufgewachsen sind, dafs 'die Er- 
ziehung der Alten der unsrigen sehr entgegen gesetzet' ist 
(Versuch einer Allegorie, Werke*) 2, 158), dennoch beharrte er 
streng auf seiner Forderung: allerdings gibt es in der Kunst 



*) Neudruck der ersten Ausgabe von 1755 in den ' Deutschen Litteratur- 
denkmalen des 18. und 19. Jahrhunderts ' Nr. 20 (1885). 

*) Ich citierc nach der Gesamtausgabc der Winckclraannschen Werke, 
die von C. L. Fernow begonnen, von Heinrich Meyer und Johann Schulze fort- 
gesetzt, in 8 Bänden (Dresden 1808—20) erschienen und von Friedrich Förster 
durch 3 Nachtragsbande (Berlin 1824—25) abgeschlossen worden ist. Ich be- 
zeichne diese Ausgabe im folgenden mit WW. 



Digitized by Google 



86 



Arnold E. Berger 



überhaupt zwei Wege, die Nachahmung der Natur und die Nach- 
ahmung der Griechen; der zweite Weg aber ist der kürzere, und 
erst die griechische Kegel kann uns zur Nachahmung der Natur 
zurückführen. 

Winckelmann predigt diese Sätze 'mit der Feinheit eines 
Griechen und mit der gedrungnen Kürze eines Künstlers. Es 
sind nur hingeworfene Gedanken, leicht, und wie im Fluge 
gestreuet; aber sie leben und sind voll Lieblichkeit und tiefer 
umfassender Wahrheit' (HW 1 ) 8, 451). Was hier in leichtem 
Umrifs entworfen war, erweiterte sich in der 'Geschichte der 
Kunst des Altertums' (17G4) zu einem Geschichtsgemälde von 
epochegründender Kraft. Die ungeheure Bedeutung dieses Werkes 
für unsere Bildungsgeschichte ist unbestritten, in ihrem vollen 
Umfang aber noch bei weitem nicht wissenschaftlich erkannt 
Die biographische und kunstwissenschaftliche Seite der Aufgabe 
hat mustergültige Bearbeitung erfahren, ihre im weiteren Sinne 
bildungsgeschichtliche Seite dagegen ist bisher nur vereinzelt 
und von begrenzten Anschauungsweisen her untersucht worden. 
Eine umfassende Arbeit, die Winckelnianns Bedeutung für Genie- 
zeit, Klassizismus und Romantik darlegen will, ist von mir 
bereits 1889 begonnen und grofsenteils ausgeführt worden; ich 
hoffe, sie in wenigen Jahren abgeschlossen vorlegen zu können. 
Als eine vorläufige, sehr bescheidene Probe mögen diese Blätter 
hinausgehen, die von dem Gedankenaufbau nichts verraten, viel- 
mehr nur eine Sammlung von Lesefrüchten bieten wollen, um 
Herders Abhängigkeit von Winckelmann in ein schärferes Licht 
zu rücken. 

Zu keinem Genius hat der junge Herder mit gröf serer Be- 
wunderung aufgeschaut, als zu dem 'nordischen Griechen'. Das 
rastlose Bedürfnis des Kritisierens, Tadeins und Bessermachens, 
dem er sonst gern, bisweilen in verletzender Schärfe fröhnte, 2 ) 
ging hier in dem Gefühl tiefwurzelnder Verehrung beinahe völlig 
unter. Konnte doch Herder dasselbe und mehr von Winckelmann 
bekennen, was Lessing von Diderot sagte (Lachmann -Muncker 
8. 288): dafs er ihm einen grofsen Teil seiner Bildung schulde; 

>) Mit dieser Abkürzung ist Saphans Herderausgabe bezeichnet, nach 
der alle Citate gegeben sind. 

2 ) Vgl. hierzu den sehr bezeichnenden Brief Mendelssohns an Herder 
vom September 1781 (Aus Herders Nachlaß II, 226). 



Digitized by Google 



Der jtmge Herder und Winckelmann. 



87 



denn neben Kant und Hamann war Winckelmann der mächtigste 
Lehrer seiner Jugend. Eine innige Verwandtschaft der Naturen 
zeigte sich wirksam: beide waren Sühne des gestaltlosen Nordens, 
beide mit der Gabe der inneren Anschauung verschwenderisch 
ausgestattet; beide aus einer glücklichen Mischung sehlesischen 
und norddeutschen Blutes geboren, in kleinen Verhältnissen auf- 
gewachsen, von geistiger Abhängigkeit und Pedantentum beengt, 
dennoch von ungebeugtem Selbstgefühl, hohen Zielen und voll 
Sehnsucht nach B irkungen auf die Menschheit. Bei beiden jene 
Folgerichtigkeit der Entwicklung, deren Keime schon in der 
Erstlingsschrift beinahe vollzählig enthalten sind, bei beiden der 
angeborene Gesehichtsbliek, die geniale Intuition, die einer weit- 
spannenden Belesenheit zur Seite steht, bei beiden die Verachtung 
von 'System und Kegelkram \ eine wunderbare Gabe des An- 
eignens, Nachlebens und Charakterisierens und die stets fest- 
gehaltene Beziehung zwischen Kunst und Seelenleben. Erst bei 
dem Auftreten Herders hatte Winckelmann die Empfindung, dafs 
er auch in Deutschland verstanden werde. Er liefs im Januar 
1708 durch seine Schweizer Freunde dem 'Pindarischen Scribenten', 
der die 'sogenannten Fragmente über die neue deutsche Lite- 
ratur' verfafste. seine -Erkenntlichkeit bezeugen' (WW 11,283. 
285). Herder meldete seinem Freunde Hamann nicht ohne Stolz: 
'Winckelmann hat mir seine Achtung bezeigen lassen' (Herders 
Briefe an Hamann, hrsg. v. 0. Hoffmann, 1889. S. 45. 138), im 
ersten kritischen Wäldchen vergafs er nicht anzumerken, dafs 
er 'das Glück hatte, von Winckelmann einen ermunternden 
Blick des Beifalls zu erhalten' (HW 3, 187), und noch 1780 
gedachte er jenes schmeichelhaften Wortes (Aus dem Herderschen 
Hause, 1881, S. 57). 

Die Ausgabe der Winckelmannschen Schriften traf bei 
Herder 'auf einen schönen und freien Zeitraum' seines Lebens. 
Er las sie 'mit der jugendlichen Empfindung eines heitern 
Morgens, wie den Brief einer Braut von fernher, aus einer ver- 
lebten glücklichen Zeit, aus einem glücklichen Himmelsstriche' 
(HW 8, 441). Herder hat nicht viel geschrieben, was sich mit 
seiner Lobschrift auf Winckelmann (1778) in dem warmen 
Zauber ihrer jugendlichen Herzensberedsamkeit vergleichen liefse. 
Mit wie grofsem Sinne weifs er die Erscheinung des Mannes zu 
fassen, mit wie freiem, kühnen Griff sein Werk auf eine Höhe 
zu stellen, zu der die Nörgelstimme der Kritik nicht mehr hinauf- 



Digitized by Google 



88 



Arnold E. Berger 



reicht! An jedem Satze dieser Schrift hat die Liebe gearbeitet, 
und wo ihn seine Aufgabe nötigt zu zeigen, ' was nach Winckel- 
mann noch zu tun sei', da streut er seine Anmerkungen, so 
gewichtige Einwände sie enthalten, doch nur bescheiden hin wie 
ein freundliches Blumenopfer, 'voll Dank und Liebe für die 
schönen Stunden und süfsen Träume und Bilder', die ihm seine 
Schriften geschenkt hatten (H\V 8, 482). In der wenige Jahre 
später erschienenen Würdigung Winckelmanns sind selbst diese 
kritischen Einwände unterblieben, und der Ton andächtiger Ver- 
ehrung erklingt in völliger Reinheit (HW 15, 30 ff., vgl. 2, 371 f.); 
ein Nachhall von ihm, der letzte, schwingt noch im 11. Stück 
der Adrastea von 1803 (HW 24, 342 ff.). 

Herder bekannte. Winckelmanns Hauptwerk siebenmal ge- 
lesen zu haben (HW 3, 187), 'genauestes Excerpieren' (2,386) 
gab ihm 'Gedanken in die Seele, die später als Anmerkungen 
aufs Papier flössen und sich vermehrten' durch die Kenntnis 
von Kunstwerken und andern Schriften (8, 440 f.). Kein Wunder, 
dafs seine Jugendarbeiten von Nachklängen Winckelmanns erfüllt 
sind. Auch dichterisch hat er den Manen seines grofsen 'Lands- 
mannes' gehuldigt in einem pathetischen Lobgesang, den er 
später noch zweimal umzuformen suchte (HW 29, 296 ff.). Das 
Bild Winckelmanns hing unter wenigen verehrten im Arbeits- 
stübchen des Jünglings (Lebensbild 2. 257) wie des Mannes (Aus 
dem Herderschen Hause S. 36). Seine Briefe sprechen den ge- 
liebten Namen nicht anders als mit Ehrfurcht aus, seine ge- 
druckten Arbeiten selten ohne Kührung und Dankbarkeit. 'Ein 
grofser Mann unsrer Zeit' ist er ihm. 'ja vielleicht der gröfste 
in der Kenntnis der Altertümer und der antiken Schönheit' 
(HW 1, 49), ' ein Markgraf deutscher Hoheit ' (3, 250). Er nennt 
ihn wiederholt mit den griechischen Schriftstellern in einem 
Atem. Noch 1780 empfiehlt er seinem jungen Freunde Georg 
Müller, er solle 'die Griechen lesen: Xenophon, Plutarch, Winckel- 
niann' (Aus dem Herderschen Hause S. 64). Er betrachtet 
Winckelmann 'als einen würdigen Griechen, der aus der Asche 
seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten' 
(HW 3, 186). Das ' Winckelmannsche Gebäude der Kunst- 
geschichte' ist ihm 'ein griechischer Palast, an Materialien ein 
Werk der Oyklopen, an Bauart und Form ein Mächtnis der 
Götter, in Auszierung eine Arbeit der Grazien und Musen', 
welch ein grofser ergötzender Blick, der sich au der Ordnung, 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Wlnckelmann. 



R9 



Harmonie und Vollkommenheit der Teile und des Ganzen weidet ! 
Einheit und Mannigfaltigkeit! Gröfse und Schönheit! zum An- 
staunen und zur süfsen Anschauung des Schönen!' (3, 470). Er 
möchte sich an dieser Geschichte \so gern ein Ideal der Ge- 
schichte in jeder Wissenschaft gedenken' (2, 126); eine 'Ge- 
schichte der Wissenschaft, besonders der Dichtkunst des Alter- 
tums von einem zweiten Winckelmann' (4, 169) ist einer seiner 
Lieblingswünsche. 'Über die Kunst und die Schönheit der 
Griechen spricht er, dafs ein Proxenides das Gesetz geben 
würde: von ihr soll nur Winckelmann sprechen. 1 ) In ihr ist 
mir sein Name so grofs, dafs es das Ziel meiner Wunsche wäre, 
über die griechische Poesie und Weisheit das mir selbst sein zu 
können, was er in der griechischen Kunst für Welt und Nach- 
welt geworden: denn in Erklärung derselben aus ihren Ursachen 
und Gründen, in Untersuchung ihres Wesens und ihrer Zeiten 
hat ihn die griechische Muse und ihre Gesellin, die göttliche 
Grazie, gesalbet und begeistert, dafs viele, die seine Richter 
haben sein wollen, kaum verdienten die Leser desselben zu 
sein' (2, 119). 

Das 'Denkmal Winckelmanns' verweilt mit besonderer 
Liebe auf dessen ersten Schriften, die Herder den ersten tiefen 
Eindruck der Persönlichkeit gaben. Der ' Geschichte der Kunst' 
trat er bereits mit reiferem kritischen Verstände gegenüber, als 
er sie Anfang 1765 kennen lernte. Das beweisen seine Worte 
an Hamann im Februar d. J.: 'Den Winckelmann habe durch- 
gejagt und durchgekrochen. Man kann ihn lesen als den 
Künstler, den Geschichtsschreiber und den Altertumskenner; bei 
dem ersten bin ich in Absicht seiner Statuen ein maulaf tischer 
JiQyoz, im dritten habe ich ihn überhüpft, am zweiten aber 
habe genug zu lernen und den Kopf zu schütteln gehabt' 
(Hoffmann S. 9). Dies Kopf schütteln des Lernbegierigen wird 
uns noch zu beschäftigen haben; sein Herz hing nicht so sehr 
an diesem Hauptwerke Winckelmanns wie an seinen früheren 
Arbeiten. Die Miedanken von der Nachahmung' nennt er sein 
'erstes und vielleicht seelenreichstes Buch', welches unter allen 
seinen Schriften 'an Salbung und blühendem Jugendgeist immer 
die erste bleiben' werde (HW 8, 451). Ähnlich hatte er schon 

') Vgl. dazu WW 4, 24 und die Anmerkung Suphans HW 1, 538 zu 
220, 147. 



Digitized by Google 



90 



Arnold E. Berger 



1769 von demselben Buche gerühmt, es sei 'mit der reichsten 
Salbung und gleichsam in der aufwachenden Morgenröte seiner 
Empfindung gebildet' (4. 89), und er hielt damit wohl ein 
Lieblingswort Hamanns fest, der ihm ein Jahr zuvor geschrieben 
hatte, dafs er an Winckelmanns letzten Arbeiten 'die philo- 
sophische Salbung und das Mark seiner Erstlinge vermisse '.») 
Die Erkenntnis, dafs das erste Werk eines Schriftstellers in 
gewissem Sinne sein bestes sei, ist Herder an Winekelinann auf- 
gegangen: 2 ) 'alsdenn ist seine Seele noch Keim, der alles in sich 
fafst, Duft, Blüte, Baum. Früchte. Er umfafst mehr als er hat 
ahndet mehr als er weifs, schwebt aber noch in seligem Traume 
und gibt sich selbst hin'. 'Zum erstenmal arbeitet er noch un- 
befangen in dem Paradiese der Welt, die er sich selbst dichtet, 
seine Seelenkräfte sind noch unzeiteilt, und er möchte gern, wie 
die Kinder, die zu sprechen anfangen, alles auf Einmal geben, 
alles auf Einmal reden.' 'Man zeige mir Eine Stelle seiner 
späteren Schriften, wo sie Ideal, Geist ist, und ich will ihm in 
den „Gedanken von der Nachahmung'', vorzüglich in der „Er- 
läuterung" derselben den Ort zeigen, wo die Knospe oder der 
Keim schon dasteht, nur in schwebender, jugendlicher Kürze und 
Freude' (8, 451 f.) :t ) 

Herders Bekanntschaft mit diesen frühesten Schriften 
Winckelmanns ist schon für 1764 nachzuweisen. Der * schöne 
und freie Zeitraum' seines Lebens, in dem er sie kennen lernte, 



l ) Hamanns Schriften hrsg. von Friedrich Roth, Bd. 8, 383. Nach dieser 
Ausgabe ist auch weiterhin citiert. 

*) Vgl. auch HW8, 209: 'Das erste unbefangene Werk eines Autors ist 
meistens das beste; seine Blüte ist im Aufbruch, seine Seele noch Morgen- 
röte u. s. w.' 

3 ) Für den Kenner ist hier die Winckelmannsche Sprachfärbung deutlich 
zu spüren, wenn auch der urkundliche Nachweis mühsam zu gewinnen ist. 
Poch vergleiche man Wendungen wie diese: 'Auf dieser Jugend blühet die 
Gesundheit, und die Stärke meldet sich wie die Morgenröte zu einem 
schönen Tage' (WW 4, 81). 'Ein schöner Knabe, welcher wie zwischen 
Schlummer und Wachen in einem entzückenden Traum halb versenkt, 
die Bilder desselben zu sammeln und sich wahr zu machen 
anfängt' (4, 89 f.). 'Die Freude schwebet wie eine sanfte Luft, die 
kaum die Blätter rühret, auf dem Gesichte einer Leukothea' (5, '250). Bei 
angespannterem Nachsuchen dürften sich noch schlagendere i'bercinstimmungen 
ermitteln lassen, aber die Verwandtschaft des Sprachtenors erhellt wohl aus 
diesen wenigen Beispielen schon. 



DigitizBd by Google 



Der jnnge Herder und Winckelmann. Ol 

waren seine Königsberger Lehrjahre seit dem Sommer 1762. Er 
traf zusammen mit einem 'schönen Zeitpunkt der Literatur 
Deutschlands', d.h. mit dem Erscheinen der 'Briefe die neueste 
Literatur betreffend' (1759 — 65) und den Anfängen der Schrift- 
stellerei Hamanns. Ob der Kantersche Buchladen ihm die 
Bekanntschaft mit Winckelmanns Schriften vermittelt hat, ob 
ihn Kant darauf hingewiesen oder erst Hamann, das wird sich 
nicht mehr feststellen lassen; aber ganz deutlich ist es, dafs der 
Enthusiasmus, mit dem er Winckelmann auf sich wirken läfst, 
von Anfang an kein unbedingter ist, dafs er vielmehr als Kritiker 
dieser Schriften unter dem Einflufs Hamanns steht. 

Es lassen sich zunächst kaum zwei grölsere Gegensätze 
denken, als Hamann und Winckelmann. Hier der Zauber einer 
geschlossenen, willensstarken, von einem durchaus einheitlichen 
Ethos durchglühten Persönlichkeit, dort das unerquickliche Schau- 
spiel eines niemals fertigen, unklaren, unharmonischen Charakters. 
Hier ein starkes, ruhiges Ausschreiten nach sicher erfafstem Ziel, 
dort ein schlotteriges Sichgehenlassen und ein ruheloses Umher- 
schweifen. Hier Würde, Gehaltenheit, Sehnsucht nach der 
höchsten Schönheit, nach Einfalt, Stille und Gröfse, dort ein 
resignierter Cynismus, Mangel alles Mafs- und Schönheitsgefühls, 
Neigung zu krausen, bunten, verschnörkelten, ineinander ge- 
packten und barock stilisierten Gedankenmassen, die hühnische 
Schärfe und das faunische Spottlächeln des 'Ziegenpropheten'. 
Dennoch verband diese beiden Heterogenitäten der gemeinsame 
Zeitdrang zum Individuellen und Ursprünglichen, zu den leben- 
strömenden Quellen der 'Natur', der Systemhafs, der Trieb zu 
historischer Auffassung und vor allem der Glaube an die 'niederen 
Seelenkräfte', die alsbald als die höheren, als die eigentlich 
lebenzeugenden erkannt werden sollten. Beide begegneten sich 
auch in der Verehrung der Allegorie. Die Bibel ist für Hamann 
eine 'Allegorie wichtiger und prophetischer Wahrheiten, in ein- 
fache, lebhafte und erstaunend ähnliche Bilder eingekleidet'. 
'Die wahre Poesie ist eine natürliche Art der Prophezeiung' 
oder, wie er am 29. August 1765 an Herder schreibt: 'Die 
höchste poetische Kunst ist, die Allegorie in seiner Gewalt zu 
haben'. Für Winckelmann war die 'Göttergeschichte nichts als 
Allegorie'. 'Die Wahrheit, so liebenswürdig sie an sich selbst 
ist, gefällt und machet einen stärkeren Eindruck, wenn sie in 
eine Fabel eingekleidet ist: was bei Kindern die Fabel, im 



Digitized by Google 



92 



Arnold E. Berger 



engsten Verstände genommen, ist, das ist die Allegorie einem 
reiferen Alter. Und in dieser Gestalt ist die Wahrheit in den 
ungesittetsten Zeiten angenehmer gewesen, auch nach der sehr 
alten Meinung, dafs die Poesie älter als Prosa sei, welche durch 
die Nachrichten von den ältesten Zeiten verschiedener Völker 
bestätiget wird' (WW 1, 170. 168). Wenn man meinen sollte, 
Hamann, der eigensinnige Kündiger des Selbstgewachsenen, des 
natürlich Angestammten, des national und persönlich Eigenartigen 
und der 'Idiotismen', müfste den 'Griechen' Winckelmann allen- 
falls als sonderbaren Schwärmer gelten lassen — etwa wie Lichten- 
berg, dem er nichts als ein 'Enthusiast' war (Vermischte Schriften. 
Göttingen 1801—6. I, 311 f., vgl. 260 ff.), oder Diderot, der ihn 
als 'enthousiaste charmant ', als 'aimable fanatique' mit Rousseau 
zusammenstellte und ihm sogar Donquixoterie vorwarf (Salon 
1765. Les sculpteurs) — so belehrt ein Blick in die Schriften 
des Magus von dem völligen Gegenteil: er beugte sich vor der 
Gröfse dieses Mannes, weil auch er sich als seinen Schüler be- 
kennen mufste, nur dafs sein dankbares Lernen zugleich ein 
Weiterdenken war. Schon am 9. Januar 1760 schrieb er seinem 
Bruder in Riga: * Winckelmanns Gedanken von der Nachahmung 
der griechischen Werke . . . machen dem deutschen Genie in den 
schönen Künsten Ehre', und gleich darauf spricht er die frucht- 
bare, auf seinen Schüler Herder vererbte Erkenntnis aus: 'alle 
Anmerkungen des Winckelmann über die Malerei nnd Bildhauer- 
kunst treffen auf das Haar ein, wenn sie auf Poesie und andere 
Künste angewandt werden' ("Roth 3, 5 f.). Im nächsten Jahre 
gedenkt er am 7. Februar der Mendel ssohnschen Rezension seiner 
'Sokratischen Denkwürdigkeiten' im 113. Literaturbrief und fügt 
hinzu: 'Die Vergleichung der Winckelmannschen Schreibart ist 
der schmeichelhafteste Zug für mich' (3, 50). Am 17. Oktober 
1764 (3, 302) rühmt er an Herder 'die jungfräuliche Seele eines 
Virgil und die Reizbarkeit des Gefühls, welche mir den Umgang 
der Liefländer immer so augenehm gemacht und dem Winckel- 
mann ein so ei bauliches Sendschreiben 1 ) in die Feder geflöfst 
hat'. In einer Anzeige der Königsberger Zeitung von 1764 
gedenkt er der autobiographischen Aufzeichnungen Winckelmanns, 
wie sie der Schlufs des 16. Teils der Literaturbriefe gebracht 



') 'Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst', 
1763 an den jungen Lief Kinder F. Ii. von Berg gerichtet (WW 2, 379 ff.). 



Der junge Herder und Winckelmann. 



93 



hatte, als eines 'merkwürdigen Kabinettstücks dieses gelehrtesten 
Virtuosen unserer Zeit' (3. 249), und die Abhandlung von der 
Fähigkeit der Empfindung des Schönen führt er in einem 
späteren Aufsatz derselben Zeitung rühmend auf (3, 417). In 
seiner Besprechung der beiden ersten kritischen Wälder Herders 
(3, 429 ff.) hebt er hervor 'jene weise Ruhe, welche die Werke 
der Griechen atmen', die ' Winckelmann durch Nachahmung 
wirklich erreicht zu haben scheint ', und am Schlüsse wünscht er, 
dafs ein Lessing oder Herder, ihre Mufse und Talente zu voll- 
endeten Werken sammelnd, 'die Verdienste eines Winckelmann 
um den Ruhm seines Vaterlandes, um die Lauterkeit und Macht 
der deutschen Sprache, um die Wiederherstellung des griechischen 
und attischen Geschmacks an weiser Ruhe, sittsamem Nachdruck, 
sorgfältiger Nachlässigkeit, ungezwungener Würde u. s. w. über- 
treffen möchten'. Wird hier Winckelniann als bahnweisendes 
Muster aufgestellt, so mischt sich anderwärts auch leiser Tadel 
in die Anerkennung, z. B. wenn er 1766 an Herder schreibt 
(3, 360): 'Den Versuch des Winckelmann habe ich mit wenig 
Genüge lesen können ')' und etwa zwei Jahre später abermals 
an Herder: 'Winckelmann ist gar nicht der Mann seiner Jugend 
mehr. Seine historischen und praktischen Einsichten mögen zu- 
nehmen, aber ich finde nicht mehr die philosophische Salbung 
und das Mark seiner Erstlinge'. Doch seiner Verehrung des 
'grand Winckelmann' (8, 197) tut solcher Tadel wenig Eintrag: 
trauernd gedenkt er 1772 des armen 'Brandenburgers, der in 
seinen Sünden starb, weil er die gutherzige Torheit beging, einen 
Erzlügner und Erzmörder für seinen Mitgenosseii seines be- 
geisterten Geschmacks anzusehen' (4, 94), und mit einer An- 
spielung auf Herders 'Torso' für Th. Abbt fügt er hinzu: 'Hat 
der Geschichtschreiber der Kunst gar keinen Torso von Denkmal 
verdienet?' Fünf Jahre später, am 13. Oktober 1777, wiederholt 
er diese Mahnung an Herder: ' Ich wünsche Winckelmann etwas 
mehr als einen Torso, kein Fragment, sondern ein Exegi perennius 
et altius Ihrer deutschen Muse' (5, 256). 1778 führte Herder 
diese längst gehegte Absicht aus. 

>) Er meint den 'Versuch einer Allegorie besondere für die Kunst' 
(1766), Winckelmann« schwächste Arbeit. Und auch Herder, der ihm das 
Bnch geschickt hatte, hatte darüber geurteilt: 'Der erste Abschnitt ist für 
mich alles, im folgenden wenig, und das meiste handwerksmäßig schon' 
(Hoffmann, S. 26). 



Digitized by Google 



94 



Arnold E. Berger 



Schon in seiner ersten Schrift (1756) geht Hamann auf ge- 
schichtliches Begreifen aus, auch in der Folge spielt der Begriff 
der örtlichen und nationalen Bedingtheit bei ihm eine hervor- 
tretende Rolle, ohne dafs sich eine unmittelbare Abhängigkeit 
von Winckelmann darin verriete; er steht nur unter dem Ein- 
druck ähnlicher Anregungen wie dieser, und namentlich seine 
Leibnizstudien führen ihn auf die Methodik des Entwicklungs- 
gedankens immer wieder hin. Das Bedürfnis nach umfassender 
praktischer Wirksamkeit, nach erzieherischer Betätigung, das ihn 
eine Zeitlang mit ähnlicher Heftigkeit beseelte wie später seinen 
feurigen Jünger Herder, empfing seine Richtung aus dieser neu- 
erlebten Erkenntnis von der geschichtlichen Bedingtheit alles 
Gewordenen, und so schrieb er schon am 22. September 1758: 
'Unsre Erziehung mufs nach dem herrschenden Geschmacke 
der Zeit, des Landes und des Standes, zu denen wir gehören, 
eingerichtet werden' (Roth 1,304). In der Einleitung zu den 
' Sokratischen Denkwürdigkeiten' (1759) erklärt er — und man 
mufs dabei an die künftigen Arbeiten Herders denken — 'dafs 
unsere Philosophie eine andere Gestalt notwendig haben müfste, 
wenn man die Schicksale dieses Namens oder Wortes 'Philosophie' 
nach den Schattierungen der Zeiten, Köpfe, Geschlechter 
und Völker, nicht wie ein Gelehrter oder Welt weiser selbst, 
sondern als ein müfsiger Zuschauer ihrer olympischen Spiele 
studiert hätte oder zu studieren wüfste' (2, 151), und die Fort- 
setzung dieser Stelle weist deutlich auf Winckelmann: 'Ein 
Phrvgier, wie Aesop, der sich nach den Gesetzen seines 
Klima, wie man jetzt redet, Zeit nehmen mufste, klug zu 
werden.' In dieser Wendung liegt eine unverkennbare Ironie, 
und das führt uns auf den kritischen Gesichtspunkt hin, von dem 
aus Hamann den oben (S. 85) erwähnten Zwiespalt Winckelmanns 
zu verstehen und zu lösen suchte. Lehrte dieser die Natur mit 
griechischem Auge betrachten, so waren jenem die Griechen 
'durchlöcherte Brunnen'. 'Einige behaupten, dafs das Altertum 
die Albernen weise mache. Andre hingegen wollen erhärten, 
dafs die Natur klüger mache als die Alten. Welche mufs man 
lesen und welche nachahmen? Wo ist die Auslegung von beiden 
die unser Verständnis öffnet? Vielleicht verhalten sich die 
Alten zur Natur wie die Scholiasten zu ihrem Autor. Wer die 
Alten, ohne Natur zu kennen, studiert, liest Noten ohne Text' 
(2, 220 f.). Er fügt an derselben Stelle hinzu: 'Diese Frage 



" Dlyttized by tüoögle 



Der junge Herder und Winckelmann. 



05 



hat mit dem Grundsatz aller schönen Künste eine genaue 
Verbindung' und deutet damit an, woher ihm diese Erkenntnis 
geworden ist. »Sie taucht zuerst in den ' Sokratischen Denk- 
würdigkeiten ' auf, wo im Anschluis an Winckelmann die Schön- 
heit als höchstes Kunstprinzip des Altertums bezeichnet, aber 
zugleich die Gegenwart in einen entschiedenen Gegensatz dazu 
gestellt wird. 'Bei der Kunst, in welcher Sokrates erzogen 
worden, war sein Auge an der Schönheit und ihren Verhältnissen 
so gewohnt und geübt, dafs sein Geschmack an wohlgebildeten 
Jünglingen uns nicht befremden darf . . . Überdies wurden 
Schönheit, Stärke des Leibes und Geistes nebst dem Reichtum 
an Kindern und Gütern in dem jugendlichen Alter der Welt für 
Sinnbilder göttlicher Eigenschaften und Fufsstapfen göttlicher 
Gegenwart erklärt,') Wir denken jetzt zu abstrakt und 
männlich, die menschliche Natur nach dergleichen Zufälligkeiten 
zu beurteilen. Selbst die Religion lehrt uns einen Gott, der kein 
Ansehen der Person hat ' (2. 21 f.). Denkart und Sprache in 
ihren Wechselwirkungen bestimmen den Charakter eines Volkes 
im Gegensatz zu anderen und offenbaren ihn ebenso gut, als es 
ihre ' äul serliche Bildung' und 'ein Schauspiel öffentlicher Hand- 
lungen' tun kann (2, 123; damit ist eine direkte Berichtigung 
Winckelmanns gegeben, bei dem allerdings die Beschaffenheit der 
Sprache und ihrer Werkzeuge durch den 'Eintlufs des Himmels' 
bedingt erscheint und die menschliche Gestalt wie die besondere 
Denkart durch die Natur des jeweiligen Landes, während die 
tiefere psychologische Verknüpfung von Sprache und Denkart 
bei ihm noch nicht vollzogen ist). 'Wie die Natur eine gewisse 
Farbe oder Zuschnitt des Auges einem Volke eigen macht [vgl. 
WW3, 48 f.], ebenso leicht hat sie, uns unbemerkte, Modifikationen 
ihren Zungen und Lippen mitteilen können' (2, 124). Ent- 
scheidend für die Art der Sprache ist die Lebensgemeinschaft, in 
der sie wirkt: die Absicht der Mitteilung und des Verkehrs der 
Gedanken wird bestimmend für die Wahl der Wörter und die 
Bildung der Redensarten. Wer also 'in einer fremden Sprache 

>) Vgl. dazu WW 1, 9—18. — Ähnlich hat dann Klopstock das Recht 
und die Würde der christlichen Kuust gegenüber Winckelmanns Griechen- 
vergötterung betont, Seine Kritik der 'Gedanken über die Nachahmuug' im 
3. Bande des 'Nordischen Aufsehens' (vgl. dazu HW 3, 249 ff.) ist am be- 
quemsten gedruckt bei Back und Spindler 'Klopstocks sämmtliche sprach- 
wissenschaftliche und ästhetische Schriften ' Bd. 4 (Leipzig 1830), S. 126 ff. 



Digitized by Google 



96 



Arnold E. Berget 



schreibt, der mufs seine Denkungsart wie ein Liebhaber zu be- 
quemen wissen. Wer in seiner Muttersprache schreibt, hat das 
Hausrecht eines Ehemanns, falls er dessen mächtig ist'.') Vor 
allem ist die Art der Sprache ganz abhängig von den sinnlichen 
Eindrücken und der mit ihnen gebildeten natürlichen Denkart. 
' Wir wissen vielleicht selbst nicht recht, was wir in den Griechen 
und Römern bis zur Abgötterei bewundern . . . Gleich einem 
Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem 
er sich aber beschaut hat, von Stund an davongeht und vergiist 
wie er gestaltet war, ebenso gehen wir mit den Alten um . . . 
Narzifs (das Zwiebelgewächs schöner Geister) liebt sein Bild 
mehr als sein Leben' (2, 289). Wozu sollen wir Kopisten 
werden, da wir Originale sein können, Bürger eines freien 
Staates, denen kein 'ästhetischer Moses' dürftige Satzungen vor- 
schreiben darf (2, 196 f.). Auch wir haben Anteil an der gött- 
lichen Natur, in unserem Gemüt 'das Ebenbild des unsichtbaren 
Gottes', und je lebhafter diese Idee ist, 'desto fähiger sind wir, 
seine Leutseligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, 
zu beschauen und mit Händen zu greifen'. Sie lehrt uns den 
'natürlichen Gebrauch der Sinne', geläutert 'von dem unnatür- 
lichen Gebrauch der Abstraktionen'. 'Ich rede mit euch, 
Griechen, weil ihr euch weiser dünkt denn die Kammerherrn 
mit dem gnostischen Schlüssel ... Ihr wollt herrschen über die 
Natur und bindet euch selbst Hände und Füfse durch den 
Stoicismus' (2, 283 ff.). 'Die Natur wirkt aber durch Sinne und 
Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der 
empfinden?' (2, 280). Darum sind Kegeln verwerfliche Ein- 
schränkungen: was das Genie erleuchtet ist 'etwas ganz anders, 
das weit unmittelbarer, weit inniger, weit dunkler und weit ge- 
wisser als Kegeln' führt (2, 430), — ein Diderotsches Wort 
übrigens, das Hamann schon 1761 sich angeeignet hatte (Roth 



>) DemgeniüTs verlangt Herder 17GG in einem Briefe au Scheffner von 
dem Übersetzer, man müsse bei der Vergleichung mit dem Originale sehen, 
'dafs er über die Idiotismen das Recht eines Hausherrn und Ehemannes 
gehabt hat' (Lebensbild I, 2, 89). Ähnlich ist seine Ausführung in den 'Frag- 
menten' (HW I, 405; auch hier kehrt der Ausdruck 'Hausherr' wieder). Und 
dasselbe Merkwort notierte sich dann der junge Goethe in sein Straßburger 
Tagebuch: 'Wer iu einer fremden Sprache schreibt oder dichtet, ist wie 
einer, der in einem fremden Hause wohnt' (Vgl. übrigens J. Minor, 
J. G. Hamann, 1881, S. 39.) 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



97 



3, 81). als er dessen 'Theater' studierte, wovon seine Schriften 
manche bisher nicht beachtete Spuren aufweisen. 

Den Hintergrund aller dieser Ausführungen bildet die 
leidenschaftlich bekämpfte Theorie von der Nachahmung der 
würdigsten Muster, auf welche die damalige Kunstübung seit 
Generationen sich gründete. Mit den Vertretern dieser platt 
rationalistischen Theorie, dafs es nur einen vernünftigen Ge- 
schmack gebe, der zu allen Zeiteu sich gleich bleibe, zum 
mindesten jederzeit, wenn er entartet war, durch die Mittel der 
Vernunft wieder geläutert und gebessert werden könne, durfte 
zwar Winckelmann nicht ohne weiteres zusammengestellt werden. 
Was ihn hoch über jene erhob, war eben seine geniale Geschichts- 
anschauung: er beurteilte die griechische Kunst nicht nach dem 
Allerweltsmafsstab der 'Vernunft des gegenwärtigen Zeitalters', 
sondern als den idealen Ausdruck des griechischen Lebens; er 
erfüllte damit die höchste Forderung, die Hamann an den Kunst- 
richter zu stellen hatte: 'Zum Urteilen gehört, dafs man jeden 
nach seinen eigenen Grundsätzen prüft und sich selbst an die 
Stelle des Autors setzen kann. Wer ein Richter des Menschen 
sein will, mufs selbst ein Mensch werden' (Roth 3, 116). Winckel- 
mann war in seiner Seele in der Tat ein Grieche geworden. 
Aber solche Genialität läfst sich von andern nicht nachmachen, 
und wo die Griechenanbetung ohne solche Kraft des Nachlebens 
als Postulat auftritt oder gar zum Lehrsatz erstarrt, da mufs 
sie notwendigerweise in dieselbe falsche Bahn einmünden wie 
die gelehrte Nachahmungstheorie. Darum begegnete Hamann dem 
hochgeschätzten Geschichtsschreiber der Kunst dennoch mit dem 
heftigsten Widerspruch: der einzige Weg für uns, grofs, ja wenn 
es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist nicht die Nach- 
ahmung der Alten, sondern die Entfesselung der Stärke unsrer 
eignen Natur in ihrem besonderen sinnlichen Leben, in ihrer 
besonderen Denkart und Sprache, in ihrem besonderen Gefühl 
von der Welt, in ihrem Schauen des Endlichen, in ihrem 
Glauben an das Unsichtbare, Göttliche. Nicht der Zuwachs des 
Wissens kann uns auf diesen Weg leiten, nicht Abstraktionen, 
die uns klug und alt machen, sondern die Naivetät des Gefühls, 
in der sich die Wärme und die Tatkraft der Jugend erneut. 
Die Quellen der Verjüngung fliefseu nicht im klassischen Alter- 
tum: die Materialien des schaffenden Geistes sind Natur und 
Schrift, das Heil kommt von den Juden, aus dem Morgenlande, 

7 



Digitized by Google 



08 



Arnold E. Berger 



aus der Bibel, aus den ursprünglichen Zuständen des Menschheits- 
lebens, und * wahrlich, Kinder müssen wir werden, wenn wir 
den Geist der Wahrheit empfahen sollen, den die Welt nicht 
fassen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht' 
(2, 271 f.). Hamanns Schriften durchweht das Morgengefühl 
eines siegreich aufsteigenden Tages; stürmischer noch, erwartungs- 
voller und atemloser lebt das gleiche Gefühl in seinem ent- 
deckungsfrohen Schüler. Beide verschmähen es darum, mit 
Winckelmann in der Anschauung antiker Kunstoffenbarungen 
beseligt auszuruhen; sie drängen ungeduldig vorwärts: nicht 
Kopisten, sondern Originale heilst ihre Losung, und was sie er- 
wecken wollen, das sind — deutsche Klassiker. 

In der ersten selbständigen Abhandlung, die Herder ver- 
öffentlichte 'über den Fleifs in mehreren gelehrten Sprachen' 
(HW 1, 1 ff., vgl. 30. 7 ff.) erklärt er mit Anlehnung an Winckel- 
manns 4 Krläuterungen ' die Verschiedenheiten der Sprachen aus 
dem Kinflufs des Klimas: 'es schufen sich tausend Sprachen nach 
dem Klima und den Sitten von tausend Nationen. Wenn hier 
der Morgenländer unter einem hei I sen Scheitelpunkt glühet, so 
strömt auch sein brausender Mund eine hitzige und affektvolle 
Sprache fort. Dort blüht der Grieche in dem wohllüstigsten und 
mildesten Himmelsstrich auf 1 ): sein Leib ist, nach Pindars Aus- 
druck, mit der Grazie übergössen, seine Adern fliefsen von 
sanftem Feuer, seine Glieder sind ganz Nerve, seine Sprachwerk- 
zeuge fein, und unter ihnen entstand also jene feine attische 
Sprache, die Grazie unter ihren Schwestern 2 ). Die Römer, die 
Söhne des Mars, sprachen stärker und holten erst aus Griechen- 



l ) Vgl. 'die kühlen Winde aus der See überstrichen die wollüstigen 
Inseln im ionischen Meere und die Seegestade' WW 1, 134; 'das attische Ge- 
biet genol's einen reinen nnd heitern Himmel, welcher feine Sinne 
wirkte' 140. 

") Za der Pindarstelle vgl. WW5, 247. Zum Weiteren: 'Wenn die 
Natur bei dem ganzen Baue des Körpers wie bei den Werkzeugen der Sprache 
verfähret, so waren die Griechen aus einem feineu Stoffe gebildet ; Nerven tind 
Muskeln waren aufs empfindlichste elastisch und beförderten die biegsamsten 
Bewegungen des Körpers' 1, 138. Dazu aus Herders erster Königsberger 
Schulrede: 'Est totum corpus nervus, est tota anima ignis ac flamma etc." 
Auch sonst verrät sich in dieser lateinischen Bede (HW 30, 1 ff.) die Lektüre 
Winckelmanus: 'nti ex multarum Crotoniatarum facie Zeuxis imaginem effinxit' 
(30, 5) beruht auf WW 4, 62. Herder bringt das in den 'Fragmenten' wieder 
(HW1, 144). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



99 



land Blumen, ihre Mundart zu verschönern (vgl. W 1, 138. 
4, 10 ff.). Noch männlicher redet der kriegerische Deutsche; der 
muntre Gallier erfindet eine hüpfende und weichere Sprache, der 
Spanier gibt seiner ein gravitätisches Ansehen, sollte es auch 
blofs durch Schälle sein' (vgl. WW 1,1331). Aber alsbald 
nimmt der Schüler Hamanns das Wort: der Gelehrte, der fremde 
Sprachen kennt und in seiner eignen ein Barbar bleibt, ist 
nichts als ein lächerlicher Allwisser. Wir sollen unsem Geist 
bereichern und beweglich erhalten an dem Studium fremder 
Sprachen, aber der Leitfaden durch ihr Labyrint sei unsere 
Muttersprache. Ihr sind die Erstlinge unseres Fleifses zu opfern, 
denn niemand kann grofs werden in einer fremden Sprache. 1 ) 

Die fragmentarische Abhandlung über die Ode (HW 30, Gl ff.) 
knüpft an die nämlichen Ausführungen Winckelmanns an. Die 
Ode wird ein 'Proteus unter den Nationen' genannt, wie Kant 
(Hartenstein 2, 279) den Geschmack in seiner Wandelbarkeit 
einen 'Proteus' nennt. Sie zeigt überall ein anderes Gesicht: 
'die Empfindung des Morgenländers ist, wie sein Klima, hitzig.' 
'Durch Umwege kamen die Griechen hinter den Vorhang der 
Morgenländer und ihrer Schüler, der Ägypter' (vgl. dazu I, 4, 3 ff. 
und die bekannten Ausführungen Winckelmanns). Das 'wol- 
lüstige, mäfsige Klima' der Griechen 'kühlte ihre Oden meistens 
zu einzelnen sanften Empfindungen ab'. Hier läfst Herder 
einige Sätze über die Dithyrambe einfliefsen, die sich mit seiner 
Rezension über Willamovs Dithyramben (HW1,68) nahe be- 
rühren. Er eignet sich den Ausdruck ' bacchischer Parenthyrsus ' 

l ) Satzbau und Ausdruck zeigen Hamanns Weise. Entlehnungen im 
einzelnen sind z. B. : 'so weinte Alexander am Grabe Achills nach dem Ruhm 
des Überwinders; an Alexanders Bilde schuf sich Cäsar zum Helden und Peter 
an der Säule des Richelieu zum Schöpfer von Rnfsland' (1, 5), womit zu ver- 
gleichen ist Hamann 2, 17: 'Wenn Cäsar Tränen vergiefst bei der Säule des 
macedonischen Jünglings (vgl. auch 4, 270) und dieser bei dem Grabe Achills 
mit Eifersucht an einen Herold des Ruhmes denkt' und 2, 13 f.: 'Der Ge- 
schichte der Philosophie ist es wie der Bildsäule des französischen Staats- 
ministers ergangen ... ein Monarch, der Name eines ganzen Jahr- 
hunderts, gab die Unkosten zum Denkmal . . . Ein Schöpfer seines Volks.' 
Ähnlich Herder 1, 25: 'War Peter der Grofse nicht ein wahrer Patriot, da er 
als der Name und das Wunder unsres Jahrhunderts der Vater seines alten 
und der Schöpfer eines neuen Vaterlandes wurde? . . . was war's, das seine 
Hände um die Säule des Richelieu schlug?' Das Bild von Alexander und 
Cäsar auch HW 2, 266. Zu HW 1, 6 vgl. Hamanns Ausführungen bei Roth 
2, 123. 

7* 



Digitized by Google 



100 



Arnold E. Berger 



an (32, 64. 78 f.«; vgl. 1, 311. 323. 543). einen ursprünglich rhe- 
torischen Kunstausdruck, den Winckelmann unter dem Wider- 
spruch Lessings in die Sprache der bildenden Kunst einführte 
(vgl. Blümner, Lessings Laokoon. 1876. S. 314). Wie sehr sich 
'in der Kunst die griechische Empfindungsart des Schönen von 
der unsrigen unterschied' (:*2, 65) hatte er eben erst von 
Winckelmann gelernt. 'Die Ader der Römer war trockner und 
kälter.' Auch das Wort 'Nimm meine gläsernen Augen, die ich 
von den Hörnern borgte . . . und Horaz wird dir ein Gott 
scheinen' ist nur eine ironische l T mdeutung eines berühmten 
Wortes des Nikomachus bei Winckelmann (1, 7). Die Besonder- 
heit der nördlichen Nationen in der Empfindung bestimmt ihre 
Oden noch näher: der Italiener ward, durch Vermischung der 
Sieger und Besiegten, ein freier Mutloser, ein weicher Liebhaber, 
der 'Petrarchs zeigte'. 'Der Gallier, dessen Empfindung ein 
fliegendes Jucken und seine Bewegung ein hüpfender 
Tanz 2 ) ist, singt Witz statt Empfindung, und selbst sein schwer- 
fälliger Rousseau hüpfende Oden.' Die Britten sind 'voll 
bardischer Züge' (vgl. WW 3, 63), nur die deutsche Ode hat 
einen unbestimmten Mischcharakter. Auch hier tritt der Ha- 
mannsche Standpunkt entschieden hervor: unsere Gegenstände 
mufs unsere deutsche Ode behandeln; lafst uns unsere Menschen 
nach unserem Gesicht malen, ohne poetische Farben aus einem 
fremden Himmelsstrich zu holen. Aber von Winckelmann hat 
er gelernt, Stilepochen abzugrenzen. Er sucht den Ursprung 
der Ode in dem unmittelbar ausbrechenden subjektiven Affekt; 
in der Folge wurde sie mehr objektiv, das verminderte Gefühl 
wurde durch die Phantasie ersetzt , doch blieb diese noch am 
Individualfall haften. Es folgte die rührende, die bewundernde 
Ode, die immer kälter, betrachtender, allgemeiner wurde, bis sie 
den Schein der Empfindung und die individuelle Bestimmtheit 
verlor, um eine moralische Predigt über einen allgemeinen Satz 



») Das 'freche Fener' und die 'Franchezza' (32, 79) sind von Winckel- 
mann geprägte Ausdrücke (vgl. WW 1, 34). 

«) Nach Winckelmann meldet sich die Fähigkeit der Schönheitsempfin- 
dung in der Jugend 'wie ein fliegendes Jucken in der Haut ' (WW 2, 388). 
Herder wiederholt dies Bild HW 8, 227. 325. Von den Galliern berichtet 
Winckelmann (WW 1, 133) das Wort Julians, dafs 'zu seiner Zeit mehr 
Tänzer als Bürger in Paris gewesen'. In der Abhandlung 'über den 
Fleifs u.s. w.' redet darum Herder von dem ' tänzerischen Gallier ' (HW30.7). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



101 



zu werden. Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten, zuletzt 
wissenschaftliche Reimer. 'Schöpfer, Zauberer, Künstler und 
Handwerker' bezeichnen die Stufenfolge der Odendiehtung. 
'Diese vier Gattungen der Dichtkunst sind die Alter 
der Menschheit: das erste empfindet, das zweite denkt mecha- 
nisch, das dritte erfindet, das vierte denkt durch Freiheit.' 'Des 
eigentlichen Dichters Trieb ist Wut, seine Worte Pfeile, sein 
Ziel das ganze Herz; dies ist das Göttliche, Unaussprechliche 
der Dichtkunst. Gemildert ist sein Zweck Rührung und sein 
Trieb Aufweckung. Noch mehr geschwächt heifst sein Stachel 
Vergnügen und seine Absicht die Neigung zu gefallen. Die 
entfernteste uneigentliche Triebfeder ist Grundsatz und sein 
Endzweck Nutzen' (32. 7(5). Herder unterscheidet die Ode des 
Affekts und die Ode der Handlung. 'Handlung der Ode ist das, 
worin uns selbst Winckelmanns allegorischer Parrhasius nicht 
erreicht, und wir die Alten kaum erreichen' (32, 77; vgl. 1, 221). 
Diese Bemerkung geht auf die Darstellung des atheniensischen 
Volkes in einem allegorischen Gemälde, von der Winckelmann 
wiederholt redet (WW 1, 55 f. 202. 2, 472). Aus ihm stammt 
auch die Erwähnung der spartanischen Tänze, der 'zärtlichen 
Lieder nackter Mädchen' (vgl. WW 1, 15. 4, 57). aus ihm 'jene 
stille Gröfse, die in den Statuen der Alten rührt', die aber 
nicht der Ode, sondern der Epopöe zukommt. Und der Satz, 
dafs die niederländischen Maler ihre Landschaftsstücke dem 
Öl und dicken Himmel zu danken haben (32, 81), ist der 
Erstlingsschrift Winckelmanns entnommen (WW 1, 54; vgl. auch 
die Bemerkung über den 'dicken Himmel' Thebens WW 1, 140). 

Auch in dem ' Versuch einer Geschichte der lyrischen Dicht- 
kunst' (32, 85 ff.) sucht Herder die Frage nach dem Ursprung 
der Poesie zu lösen, ' denn so wie der Baum aus der Wurzel, so 
mufs der Fortgang und die Blüte einer Kunst aus ihrem Ur- 
sprung sich herleiten lassen. Er enthält in sich das ganze Wesen 
seines Produktes, so wie in dem Samenkorn die ganze Pflanze 
mit allen ihren Teilen eingehüllet liegt; und ich werde unmög- 
lich aus dem späteren Zustande den Grad von Erläuterung 
nehmen können, der meine Erklärung genetisch macht.' Hier 
fällt zum ersten Male das inhaltsvolle Wort 'genetisch', von dem 
unten noch zu sprechen sein wird. Ebenso wenig wie die 
bildende Kunst — das eben hatte ja Winckelmann gelehrt — 
ist die Dichtkunst auf einmal entstanden; sie fing an mit elenden 



Digitized by Google 



102 



Arnold E. Berger 



Versuchen, schlechten Spielen, aus denen ziemlich spät Hand- 
griffe wurden, noch langsamer Künste, sehr spät Kegeln und 
noch später Wissenschaft. Mit Entschiedenheit wendet sich 
Herder gegen die Ansicht vom göttlichen Ursprung der Poesie 
wie gegen die andere, dafs alle Nationen sie von einem Volke 
entwandt hätten. Er ist noch ganz mit Winckelmann einig, 
wenn er sagt: 'man hat soviel Lehrgebäude von der Wanderung 
der Künste und Wissenschaften, dafs man weiter kommt, wenn 
man keines annimmt und in jedem Volk selbst den Samen 
sucht, der die Künste und Wissenschaften hat hervor- 
bringen können'. Nach Winckelmann (WW 4, 72) schufen 
die alten Künstler 'die Gegenstände heiliger Verehrung, welche, 
um Ehrfurcht zu erwecken, Bilder von höheren Naturen ge- 
nommen zu sein scheinen mufsten. Zu diesen Bildern gaben die 
ersten Stifter der Religion, welche Dichter waren, die 
hohen Begriffe'. Ähnlich Herder (32,101): 'Die Dichter, die 
damals zugleich alles, Priester und Regenten, Gelehrte und 
Helden waren ', suchten des göttlichen Namens würdig zu werden, 
ihren Ruf zu unterstützen und den Glauben des Volkes zu 
nähren (vgl. 1,310). Weltweise gab es sehr spät; 'diese selbst 
entstanden aus Dichtern, dichterisch sprachen sie ' und brauchten 
die göttliche Anbetung des Pöbels zu ihrem Vorteil. Die da- 
malige Art der Weltweisheit 'kleidete die Wahrheit in Er- 
dichtungen' ('Allegorieen ' hatte Winckelmann gesagt). 'Not- 
wendigkeit und Bedürfnis ist die Mutter der Dichtkunst, und 
die Religion ist eine von den ersten Bedürfnissen, die ihre Er- 
findung notwendig machte' (32. 105). So hatte auch Winckel- 
mann behauptet, dafs die Kunst unter allen Völkern auf gleiche 
Art entsprungen sei, indem bei allen 'der erste Same zum Not- 
wendigsten vorhanden gewesen', und 'obgleich die Kunst, so 
wie die Poesie, als eine Tochter des Vergnügens angesehen 
werden kann, so ist gleichwohl nicht zu leugnen, dafs das Ver- 
gnügen der Menschlichkeit ebenso notwendig ist, als diejenigen 
Dinge, ohne welche sie nicht bestehen kann; und man kann be- 
haupten, dafs die Malerei und die Bildung der Figuren 
oder die Kunst, unsre Gedanken zu malen und zu bilden, älter 
sei, als dieselben zu schreiben ... Da aber die ersten 
Bildungen mit Figuren der Gottheiten scheinen angefangen zu 
haben, so ist die Erfindung der Kunst verschieden nach 
dem Alter der Völker und in Absicht der früheren oder 



Der junge Herder und Winckelmann. 



103 



späteren Einführung des Götterdienstes' (WW 3, 6). Aus 
der Furcht leitet Herder mit Hume die Religion her: durch 
Gebete, Opfer, Gebräuche mufste die zürnende Gottheit gewonnen 
werden. Da solche Gebete aber nicht Einzelnen überlassen 
blieben, sondern vom ganzen Volke ausgingen, so mufsten sie 
notwendig Gesänge mit rhythmischen Mafsen sein (32, 107). An 
den sinnlichen Fall einer Gefahr z. B. knüpften sie an, sie waren 
also voll lebendiger Handlung. Orpheus malte z. B. in seinen 
Hymnen die Nacht nicht 'mit aller ihrer dunkeln Pracht' (vgl. 
die Darstellung der Nacht bei Winckelmann 2, 549), sondern er 
besang sie als Gebärerin der Götter und Menschen, als den 
Ursprung aller Dinge, die Hervorführerin der Sterne u. s. w. 
Die Grazien beschreibt er nicht, wie die neueren Dichter 'bis 
auf den Nagel am Fufs'. sondern er zeigt sie in reizvollem 
Tanze (vgl. WW 2, 519. 3, 186. 4, 121). ' Alles lebt und tut 
Taten' (112). 'Leidenschaft und Handlung ist die Seele der 
Dichtkunst' (122), dieser Hamannsche Satz wird schliefslich an 
der religiösen Poesie der alten Hebräer veranschaulicht. Wie 
hier, so wird auch in dem Fragment 'über die verschiedenen 
Religionen ' (HW 32, 145 ff.) mit Winckelmann der ' politische 
Zweck der Religion' betont, und ein Lieblingsbild Herders 
erscheint hier zum ersten Male: er wünscht sich 'Phlegma 
und Feuer', um sich an einer Geschichte der Religion zu ver- 
suchen. So beginnt auch eins seiner gleichzeitigen Gedichte: 
'Stirb, Phlegma! — du mein Lied sei Feuer!' (HW 29, 24G). 
In den Fragmenten rühmt er von Winckelmann, 'wie er seine 
Werke, so wie Raphael seine Gemälde, mit Feuer entwarf und 
mit einem glücklichen Phlegma vollendete' (HW 1, 218). Und 
aus Winckelmann hat er diese Wendung entlehnt (vgl. 'Man 
mufs mit Feuer entwerfen und mit Phlegma ausführen' 
W T W 1, 255; 'Entwirf mit Feuer und führe mit Phlegma aus' 
5, 224), der sie aber seinerseits an der zweitgenannten Stelle 
auf einen 'brittischen Dichter' zurückführt, womit Roscommon 
gemeint ist ('To write with fury, but correct with flegme', 
Essay on poetry). An oben bereits angezogene Winckelmannsche 
Gedankengänge erinnert es ferner, wenn in einem weitereu 
Entwurf Herders (32, 148) davon ausgegangen wird, dafs die 
Völker in ihrer Kindheit sich ähnlicher sind, als in späteren 
Zeiten ausgebildeter Charaktere: -so lange sie das Notwendige 
suchen ... so enthüllet sich bei allen einerlei Gestalt der Seele 



Digitized by Google 



104 



Arnold E. Berger 



und fast auf einerlei Art', die älteste Poesie ist überall 'theo- 
logisch -philosophisch -historische Nationaltradition in sinnlicher 
bildervoller Sprache '. 

In dem schwungvollen Aufsatz, der Herders Ideal vom 
Kanzelredner umschreibt (HW 32, 3 ff.), begegnen mancherlei 
Wendungen, die an Winckelmann erinnern: * Redner Gottes! 
grofs im Stillen, ohne poetische Pracht feierlich, ohne 
ciceronianische Perioden beredt'. 'Meine ganze Seele ist 
Auge', 1 ) 'dieser stille Ton der Seele . . . gleich einem stillen 
See, der auf einen belebenden sanften Hauch des Abendzephyrs 
wartet' (vgl. Winckelmann 4. 137: ; die Stille ist derjenige 
Zustand, welcher der Schönheit, sowie dem Meere, der eigent- 
lichste ist, und die Erfahrung zeiget, dafs die schönsten Menschen 
von stillem gesitteten Wesen sind'). Ganz aus Winckelmanns 
Seele geschöpft muten aber die folgenden Worte Herders an: 
'das Anschauen gebiert Wollust, denn ich fühle es, dafs ich 
die Grofsheit und Würde und Einfalt fafse, die die schöne 
Natur ist; und jedes neue Anschauen gebiert neue Wollust, so 
lange ich neue Züge entdecke, wodurch ich mich der ganzen 
Idee nähere, die der Künstler dachte'. Unter den nun- 
mehr oft bei Herder wiederkehrenden Winckelmannschen Schlag- 
worten 'Stille,*) Würde, Einfalt, Gröfse' erscheint hier zum 
ersten Male die -Grofsheit' (vgl. WW 3, 82. 4,27.209. 5,224. 
232. 236. 248. 250 u. s. w.), gleichfalls in Herders Sprachschatz 
fortan übernommen (vgl. HW 32, 533). 

Der erste Entwurf über das Problem 'wie die Philosophie 
zum besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann' 
(HW 32, 31 ff.), enthält nur geringe Spuren der Winckelmann- 
lektüre: 'siehe sie mit den Augen des Menschen, und sie wird 
dir eine Venus scheinen (vgl. oben S. 100), aber nicht jene 
himmlische Venus, die Schwester der Weisheit, sondern die 
irdische, die Schwester der Gelehrsamkeit' (diese Unter- 
scheidung beruht auf WW 2, 518. 4, 113 f.). 'Sein Brustbild, 
verstümmelt wie Dagon (vgl. Hamann, Roth 7,62), und Hände 

») Vgl. indessen Suphans Bemerkung zu 'ganz Ohr', 'ganz Seele' u. b. w. 
H\V4.508f. 

') 'Sei in mir, Stille!' heifst es schon in einem Gedicht aus dem März 
1764 (HW29, 8; vgl. 31, 10). 'Die innerliche Gemütsruhe' wird 31, 15 ge- 
priesen. Ganz durchzogen von diesem Winckelmannschen Grundakkord ist 
die Bückeburger Predigt über die 'stille Gröfse Jesu' (31, 312 ff.). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



105 



und Kopf sind von Wohlthaten der Neueren dazugesetzt, wie die 
meisten römischen Statuen. Diese betrieben Viele, aber nicht 
Winckelmann'. Letztere Bemerkung" zielt auf eine ganz bei- 
stimmte Ausführung Winckelmanns (WW 6, 346 f.). Die 32, (50 
angezogene Behauptung Longins, dafs Poesie älter sei als Prosa, 
war auch von Winckelmann als eine 'alte Meinung' bezeichnet 
worden (vgl. oben S. 92). 

Die Rigaer Einführungsrede 'von der Gratie in der Schule' 
(HW 30, 14 ff.) ist allerdings vom Geiste Shaftesburys beherrscht 
(vgl. F. J. Schmidt, Herders pantheistische Weltanschauung. 
Diss. Berlin 1888, S. 10 f. Hatch in den Studien zur vgl. Litt. 
G. I, 1901, S. 112 f.), und ihr pädagogisches Ideal deckt sich mit 
der ' iuoral grace ' des englischen Philosophen, wie sie neuerdings 
von Pomezny hübsch beleuchtet worden ist ('Grazie und Grazien 
in d. d. Litt, des 18. Jhs.' 1900, S. 44). Aber in die Fassung des 
Begriffs sind doch auch hier Winckelmannsche Farben ein- 
geschlossen, denn was er hier 'unter dem menschlichen Bilde 
eines Lehrers und eines Schülers zeichnen' will, ist das, 'was 
die Griechen, die unnachahmlichen Griechen mit dem Namen der 
himmlischen Venus benannten'. Das deutet auf eine der 
berühmtesten Stellen der Kunstgeschichte, von der zwiefachen 
Gratie: 'Die eine ist. wie die himmlische Venus, von höherer 
Geburt und von der Harmonie gebildet und ist beständig und 
unveränderlich, wie die ewigen Gesetze von dieser sind ... Die 
zwote Gratie ist, wie die Venus von der Dione geboren, mehr 
der Materie unterworfen, sie ist eine Tochter der Zeit, und nur 
eine Gefolgin der ersten, welche sie ankündiget für diejenigen, 
die der himmlischen Gratie nicht geweihet sind. Diese läfst 
sich herunter von ihrer Hoheit und macht sich mit Müdigkeit, 
ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieselben werfen, 
teilhaftig; sie ist nicht begierig zu gefallen, sondern nicht un- 
erkannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Gesellin aller Götter, 
scheinet sich selbst genugsam und bietet sich nicht an, sondern 
will gesuchet werden; sie ist zu erhaben, um sich sehr sinnlich 
zu machen, denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild. 
Mit den Weisen allein unterhält sie sich, und dem Pöbel erscheinet 
sie störrisch und unfreundlich; sie verschliefset in sich die Be- 
wegungen der Seele und nähert sich der seligen Stille der gött- 
lichen Natur ' (WW 5, 245 f.). So sagt auch Herder von seiner 
Gratie, dafs sie 'das Gesicht heiter macht und los von den 



Digitized by Google 



106 



Arnold E. Berger 



stürmischen Affekten, die die Stirn verdunkeln' (30, 17), 
sie 'bestreue Gedanken mit Einfalt'. Noch deutlicher wird 
die Anlehnung an Winckelinann in dem Bruchstück einer Ab- 
handlung über die Gratie in der Schule (HW 30, 29 ff.). 'Die 
griechische Draperie — hatte Winckelinann (WW 1, 30) gesagt 

— ist mehrenteils nach dünnen und nassen Gewändern ge- 
arbeitet, die sich folglich, wie Künstler wissen, dicht an die 
Haut und an den Körper schliefsen und das Nackende desselben 
sehen lassen. Das ganze oberste Gewand des griechischen 
Frauenzimmers war ein sehr dünner Zeug; er hiefs daher Peplon, 
ein Schleier.' Von diesem Satze 1 ) macht Herder folgende An- 
wendung: 'Selbst die Wahrheit, der doch ihre nackte Unschuld 
statt aller Keize sein sollte, selbst diese mufs einen leichten 
Schleier sich gleichsam wie einen seidnen Nebel umwerfen, 
damit ihre Schönheiten blofs durchschimmern, und alsdenn be- 
zaubern sie erst'. 'Die Griechen setzten sogar unter andern 
einen Preis: wer mit der meisten Grazie küssen könnte, und die 
ehrwürdigsten Richter schämten sich nicht darüber zu urteilen' 

— Herder entlehnt diesen Satz aus dem 4. Buch der Kunst- 
geschichte: -an dem Feste des Philesischen Apollo war auf den 
gelehrtesten Kul's unter jungen Leuten ein Preis gesetzet' (WW 
4, 8; vgl. 1, 110). Wenn Herder meint, einige werden den Namen 
der Grazie verwechseln 'mit einer Schulaktrice, einer Tänzerin 
oder einer Hofmeisterin in Komplimenten' (30, 31), so erinnert 
das an Winckelmanns Spott, über 'die bei den Neueren übliche 
Tanzmeistermäfsige Gratie' (WW 4, 157). Zu dem Satze 
'Apelles hatte schon eine Grazie, die seinen Pinsel leitete, und 
Parrhasius, der Freund des Sokrates, ward durch sie unsterblich' 
(HW 30, 31) ist zu verweisen auf WW 5, 249. 7, 107. 'In 
Winckelmanns Geschichte der Kunst — fährt Herder fort — ist 
ihr, dieser Göttin der Keize, ein Altar von Marmorsteinen auf- 
gebauet, und Winckelinann, der verehrungswürdige Enthusiast 
[vgl. Diderots Wort, oben S. 92], der sich in ihre griechische 
Schönheit bis zur weisesten Narrheit verliebt hat, betet vor 
ihr an.' Dafs 'Plato vor ihr niederkniet' (HW 30, 32), hat 
Herder gleichfalls aus Winckelinann entnommen (WW 5, 246). 
Dafs 'Sokrates die drei Gratien Athens meifselte' ist eine 
Reminiscenz an die Oesersehe Vignette am Schluls von Winckel- 



') Er klingt wieder HW 1, 162 (45). 223 (153). VgL 8, 22 f. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



107 



manns ' Gedanken ' (vgl. S. 44 des Neudruckes von 1885). ' Die 
Grazie, die Pallas auf den Mund des Ulyfs ausgolV (30, 32) ist 
wörtlich entlehnt aus WW 5, 247: 'Dieses war die Gratie, welche 
Pallas über den Ulysses ausgofs', und eben daher stammen 'die 
Töchter des Jupiters, von der Harmonie geboren, nackt wie die 
Wahrheit, voll der edlen Einfalt, die sich der seligen Stille 
des Olymps nähert; ihre Locken fliegen unter immergrünenden 
Kränzen hervor, Kränze sind in ihren Händen, ihre Hände sind 
zusammen um einander geschlungen' (30, 33). 

In der Abhandlung 'Haben wir noch jetzt das Publikum 
und Vaterland der Alten ' (HW 1, 13 ff.) erinnert die Bemerkung 
über den Ursprung der bildenden Kunst an das erste Kapitel 
des Winckelmannschen Werkes: 'Jenes Mädchen, das den Schatten 
ihres Liebhabers an der Wand mit einer Kohle umrifs, um sein 
Bild zu haben, war ohne ihren Willen die Erfinderin der Malerei. 1 ) 
Jener Grieche, der einen Stamm behieb, oben rot färbte und ihn 
statt der Füfse unten von einander sägete, schnitzte die erste 
Götzenstatue.' Und mit einem originellen Nachklang eines be- 
rühmten Rousseauschen Schlagwortes aus dem 'Discours sur 
rorigine de Tinegalit^' fährt Herder fort: 'Und jener Hausvater, 
der seine Familie in einen Kreis von Zelten sammelte und einen 
Zaun umherzog, war der erste König, der ein Publikum stiftete'. 
Winckelmann hatte in der Verfassung der griechischen Staaten 
eine Ursache ihrer Kunstbltite gefunden, die Freiheit war dort 
die Mutter aller grofsen Begebenheiten gewesen (WW 4, 12 f., 
vgl. 6,4. 72. 96. 123. 157. 171. 308 u. s.w.). Herder führt dieses 
Bild weiter aus und kommt zu dem Schlufse, dafs das Publikum 
der Alten ausgestorben sei sowohl in Absicht der Regierung wie 
in Absicht der Redner 2 ) und Schriftsteller. Aber trotz der ver- 
änderten politischen Anschauungen, trotz der veränderten Religion 

') Vgl. HW 8, 41 und Herders anmutiges Gedicht 'Die Erfinderin der 
Künste' HW29, 123, sowie die Anmerkung dazu ebd. S. 726. Über Herders 
Neigung zu Paramythien Suphans Bemerkungen HW 2,369; Haym, Herder 
1, 164 Anm. 

s ) Hamann (Roth 2, 219) hatte von den alten Rednern gesagt: 'Sie 
legten Begebenheiten zum Grunde, machten eine Kette von Schlüssen, die in 
ihren Zuhörern Entschlüsse und Leidenschaften wurden'. Dem setzt 
Herder entgegen: der geistliche Redner habe heilige Entschlüsse auf eine 
ganze Lebenszeit zu erregen, 'Entschlüsse, die nicht im Taumel der 
Leidenschaft, sondern in einer heitern stillen Seele [das Winckel- 
mannsche Schlagwort!] aufblühen müssen'. 



Digitized by Google 



108 



Arnold E. Berger 



haben wir noch, wie die Alten, ein Vaterland, für das es süfs 
ist zu sterben, dessen süfser Zuname Freiheit ist, wenn auch 
eine gemäfsigtere Freiheit, als die des Altertums. Auch hier 
arbeitet Herder im wesentlichen mit Gedanken Shaftesburys 
(vgl. Hatch a. a. 0. S. 91 ff.). 

Herders Vorbericht zu der 'Parallele zwischen den grie- 
chischen und französischen Tragödienschreibern ' (HW 32, 140 ff.) 
spricht nachdrücklich eine aus Winckelmann gewonnene Er- 
kenntnis aus: 'Jede Bekanntschaft mit den Griechen, diesen 
Meistern des Theaters, den Lieblingen der tragischen Melpomene 
und den Erstgebornen der Minerve, bildet, da sie die nächste 
Stelle nach dem Ideal einnehmen, zur Einfalt, zur Stärke 
der Leidenschaft, zur Schwere des tragischen Ausdrucks'. 'Lieb- 
linge der Minerva' nennt Herder die Griechen wiederholt (z. B. 
1, 28"). 2, 113), der Ausdruck stammt aus Winckelmanns 4. Buch 
(WW 3, 58). Aber sofort hören wir wieder den Schüler Hamanns: 
es ist lehrreich, die überschätzten Franzosen gegen die Griechen 
zu halten, doch noch lehrreicher, den Gesichtskreis zu erweitern 
und neben 'die handelnden Griechen und die sentimen tsvollen 
Franzosen den malenden Britten zu setzen; wollten die Musen, 
wir hätten von allen drein gleichviel gelernt!' 

Anklänge an Winckelmann sind auch in den fragmentarischen 
'Betrachtungen über das verschiedene Urteil von der mensch- 
lichen Schönheit' (HW 32, 15 ff.) zu spüren. Der Begriff der 
Schönheit verliert sich vielfach in den Geschlechtstrieb (vgl. 
WW 4, 40), sodafs man oft 'statt der Juno eine schöne Wolke 
oder statt der entflohenen Gratie ihren Gürtel' hält. 'In dem 
Klima, wo die Natur zu schwach ist, schöne Köpfe von aufsen 
zu bilden ', erzeugt auch das Gehirn keine Schönheitsbilder. Die 
'griechischen Wettspiele über die schönste Person und den 
schönsten Kufs' werden abermals erwähnt. 

Diese Betrachtungen setzen sich fort in der geistreichen 
Abhandlung 'Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der 
Schönheit der Seele?' (HW 1, 43 ff.), welche in der Hauptsache 
von Kants 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und 
Erhabenen' abhängig ist,») aber auch Anregungen von Shaftes- 



') Tgl. C. Jaskulski, I ber den Einflufs der vorkritischen Ästhetik 
Kants auf Herder (Ztschr. f. d. Oesterreich. Gymn. 51, 1900, S. 193 ff.), eine teils 
tibertreibende, teils unvollständige Darstellung, die ihren Gegenstand zu 



DigitizecTby Google 



Der junge Ilerder und Wrackelmann. 



109 



burys Moralphilosophie ') und Winckelmann verarbeitet hat. Ein 
Winckelmannscher Satz in Hamannscher Prägung eröffnet die 
Betrachtung: 'Die Alten, insonderheit die alten Griechen, hielten 
so viel auf die edle Bildung des Körpers, dafs ihre Weisen . . . 
dieselbe für ein Sinnbild göttlicher Eigenschaften und 
für Fufsstapfen von der Gegenwart der Götter er- 
klärten' (vgl. oben S. 95). 'Hat es doch Völker gegeben, bei 
denen Adel des Geistes und Schönheit des Körpers beinahe ein 
unterscheidendes und allgemeines Merkmal ihres Charakters ge- 
wesen ' — Herder denkt natürlich an die Griechen — 4 und gibt 
es doch noch Völker, bei denen die Schönheit und Häfslichkeit 
nichts seltnes ist, weil eine von beiden allgemein ist' — er 
meint einerseits die Georgier und Circassier, anderseits die 
Chinesen, Kalmücken und Neger, denn er fährt fort: 'ine ich 
mich nicht, so habe ich diesen Einfall in Montesquieu, Montagne 
und Beaumelle gelesen', und wir fügen hinzu: bei Kant, Hume 
und Winckelmann (vgl. WW 1, 12. 135. 4, 40 f.). Herder findet 
den in Frage stehenden Satz bei Plato mit 'edler Einfalt' 
verteidigt. Und gleichfalls einer Winckelmannschen Prägung 
bedient er sich, wenn er vom 'Gewächs des menschlichen 
Leibes' redet. 2 ) Die Winckelmannsche Technik der Beschreibung 
von Statuen wird unverkennbar nachgebildet: 'Siehe jenen Mann, 
dessen starker Körper von seiner starken Seele zeigt. Ein- 
förmig ist der Umrifs seines Körpers, in seiner Gestalt ist 
wohlgebildete Form, Freiheit in der Stellung, Macht in 
der Brust, die Leichtigkeit in den Beinen, die Stärke 
in den Schultern. So wird auch sein Geist sein, der sich mit 
diesem Körper geformt hat. Siehe! Aufrichtigkeit ist in 
seiner Stirn, die Vernunft zwischen den Augen, die Ge- 
sundheit in seinen Wangen, die Lieblichkeit auf seinem 
Munde, sein männliches Feuer in den Augen: siehe, das ist der 
Spiegel seiner Seele.' Merkwürdigerweise steht dieser Satz bei- 



isoliert betrachtet. Welche Stelle den beiden Abhandinngen sowie den 
Winckelmannschen Schriften in der Entwicklungsgeschichte der physio- 
gnomischen Studien nnd der induktiven Ästhetik zukommt, gedenke ich in 
meinem Winckelmannbuck nachzuweisen. 

•) Vgl. Hatch a. a. 0. S. 105 f. 

*) 'Gewächs' für 'W r uchs' W r W 7 3, 2. 57. 69. 4,7. 46. 59. 63. 65 ff. 

72. 81. 89. 93. 110 f. 115. 119. 123 u. s. w. Auch Goethe, Heinse, Sturz, 
Forster u. a. bedienen sich des Ausdruckes. 



Digitized by Google 



110 



Arnold E. Berger 



nahe wörtlich bei Rafael Mengs 'Gedanken über die Schönheit 
und den Geschmack in der Malerei' (Zürich 1762). In der Aus- 
gabe von 1774 heifst es dort S. 33 f. wie folgt: 'Die Ein- 
förmigkeit in Umrissen, die Gröfse in der Gestalt, die 
Freiheit in der Stellung, die Schönheit in den Gliedern, die 
Macht in der Brust, die Leichtigkeit in den Beinen, 
die Stärke in Schultern und Armen, die Aufrichtigkeit 
in der Stirne und Augenbrauen, die Vernunft zwischen 
den Augen, die Gesundheit in den Backen, die Lieblich- 
keit in dem Munde'. Als die gemeinsame Quelle war zu- 
nächst Winckelmann zu vermuten, doch vermochte ich eine 
gleichlautende Stelle bei diesem bisher nicht nachzuweisen; somit 
dürfte Herder aus Mengs geschöpft haben.«) Mit Winckelmannschem 
Griffel zeichnet er auch das Bild des 'schönen Frauenzimmers': 
'Das sanft gesenkte Profil ihres Gesichts, die zarte Völligkeit 
ihrer Bildung, die geistige Natur in ihrem ganzen Wesen ver- 
kündigen einen ebenso schönen Geist. Siehe! dieser wohnt in 
ihren Augen, auf ihrer Stirn, den Wangen, den Lippen'. Auf 
Winckelmann beruft er sich für den Satz: 'nur die mittleren 
Gegenden sind die Werkstätten der Natur, wo sie die Schönheit 
des Körpers und Geistes gemeinschaftlich zur Reife bringen, aus- 
bilden und erheben kann' (vgl. WW 4, 6). Die drei Stufen des 
Geschmacks an menschlicher Schönheit, die Herder hier unter- 
scheidet, decken sich mit den von Kant angenommenen (Jaskulski 
a. a. 0. S. 203 f.), aber er erläutert sie mit Hilfe Winckelmannscher 
Erwägungen: die erste Geschmacksstufe 'findet die Schönheit in 
der Farbe, etwas, was zwar immer die Schönheit erhebt, aber 
nie sie ausmacht' (vgl. 'die Farbe trägt zur Schönheit bei, 
aber sie ist nicht die Schönheit selbst, sondern sie erhebet die- 
selbe überhaupt und ihre Formen', WW 4, 49 t). Der zweite 
Grad würdigt die 'feine regelmäfsige Bildung', die einen ebenso 
regelmäfsigen Geist verspricht, 'der vielleicht stille wie ein 
stilles Meer an einem Sommerabende, sanft, keiner grofsen 
Leidenschaft fähig'. 'Die dritte und höchste Stufe der Schön- 
heit ist der geistige Reiz, die Anmut und Grazie, die 
alles vorige belebt.' Der Schlufs der Abhandlung weist auf 
Winckelmann hin, der 'auf den Flügeln seiner Einbildungskraft 
in der Statue des Apollo im Belvedere zu Rom so unendliche 



') Herder zitiert diese Schrift von Mengs z.B. 1,399. 4,89; vgl. 4,508. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



111 



Schönheiten geistiger Gottheit findet, dafs er sich bis zur Ent- 
zückung erhebt'. 

Herders 'Fragmente über die neuere deutsche Literatur' 
knüpfen bekanntlich an die Literaturbriefe an. Wie Winckelmann 
sein Werk mit der Bemerkung einleitete, seine Geschichte der 
Kunst sei keine blofse Erzählung der Zeitfolge und der Ver- 
änderungen in derselben, seine Absicht sei zugleich, 'einen Ver- 
such eines Lehrgebäudes zu liefern', so erklärt im Gegenteil 
Herder, 'die Briefe über die N. Literatur haben kein Lehr- 
gebäude 1 ) liefern wollen, doch aber nennen sie es ein Ge- 
mälde der Literatur in den letzten Jahren' (HW 1, 144). Ein 
vollständigeres Gemälde ist es, das ihm selbst vorschwebt, ein 
Gemälde, 'wo kein Zug ohne Bedeutung auf das Ganze wäre', 
ein Gemälde, das 'die Natur des Titian ['sein Fleisch ist Wahr- 
heit und Leben' WW 2, 420J mit der Grazie des Oorreggio ['in 
ihr bestund der Vorzug des Apelles und des Correggio in neueren 
Zeiten' WW 1, 257; 'Grazia t'orregiesca' WW 5, 252] und der 
bedeutungsvollen Idea des Raphaels [vgl. WW 1, 16. 4,64] zu 
verbinden suchte'. Diesem pragmatischen Gemälde müfste eine 
Geschichte der Literatur zugrunde liegen, auf die es sich stützte. 
'Auf welcher Stufe befindet sich diese Nation? und zu welcher 
konnte und sollte sie kommen? Was sind ihre Talente, und wie 
ist ihr Geschmack? Wie ihr äufserer Zustand in den Wissen- 
schaften und Künsten? Warum sind sie bisher noch nicht höher 
gekommen, und wodurch könnte ihr Geist zum Aufschwünge 
Freiheit und Begeisterung erhalten ? Alsdenn rufe der Geschicht- 
schreiber der Literatur aus: Wohlan, Landesleute, diese Bahn 
laufet und jene Abwege und Steine vermeidet; so weit habt ihr 
noch, um hierin den Kranz des Zieles zu erreichen! Man stelle 
ihnen die Alten als Vorläufer, die Nachbarn als Nebenbuhler 
vor und suche die Triebfeder des Nationalstolzes so rege zu 
machen, als man das Nationalgenie untersucht hat'. Also was 
Herder sich zur Ergänzung der Literatlirbriefe wünscht, ist in 
der Tat ein 'Lehrgebäude' der deutschen Literatur, zwar nicht 
im Winckelmannschen, aber im Hamannschen Sinne: zur Er- 
ziehung deutscher Klassiker. In der Abhandlung über die Ode 
(oben S. 100 f.) hatte Herder die Methode Winckelmanns auf die 



>) Herder braucht dies Wort schon früher (HW 1, 74. 32, 124), ferner 
1, 294. 2, 123 ff. 135 u. s. w. Vgl. SuphanB Anmerkung HW 1, 535 zu S. 74. 



Digitized by Google 



112 



Arnold E. Berger 



Geschichte der Dichtkunst übertragen und in ihr vier Stilepochen 
unterschieden (WW r>, 210 f.). Mit der gleichen Methode sucht 
er jetzt in Probleme der Sprachgeschichte einzudringen und 
schreibt ein Kapitel 'von den Lebensaltern einer Sprache' 
(1,151 ff.), denn die Gesetze der Veränderung sind überall die 
gleichen : bei dem einzelnen Menschen, bei dem ganzen Menschen- 
geschlecht, in jeder Nation, in jeder Familie, sogar in der toten 
Welt: vom Schlechten zum Guten, zum Vortrefflichen, dann 
wieder zum Schlechteren und Schlechten, — das ist der Kreis- 
lauf aller Dinge. Jede Kunst, jede Wissenschaft keimt, trägt 
Knospen, blüht auf und verblüht. 

Die älteste Sprache sind Töne und Geberden, unmittelbar 
ausbrechende Leidenschaften. Winckelmann hatte die Ver- 
schiedenheit der Sprachen und Mundarten aus der Verschieden- 
heit der Sprachwerkzeuge, diese wieder aus der Verschiedenheit 
des Klimas erklärt: in kalten Ländern sind die Nerven der 
Zunge starrer und weniger schnell als in wärmeren; daher 
haben alle mitternächtlichen Sprachen mehr einsilbige Wörter, 
mit Konsonanten überladen, deren Aussprache andern Nationen 
schwer oder unmöglich fällt (WW 1, 135 f. 3, 47 ff.). Herder, 
mit den Anschauungen Blackwells und Hamanns vertraut, 
charakterisiert zwar die älteste Sprache auch als 'einsilbig, 
rauh und hoch', aber nicht den ungeübten Redewerkzeugen 
schreibt er das zu, sondern den stärkeren Leidenschaften, die 
im Naturstande unmittelbarer hervorbrechen: der primitive 
Mensch sprach nicht, sondern 'tönte'. Die Furcht, die Hume 
an den Anfang der Religionsentwickelung gestellt hatte, stellt 
Herder auch au den Anfang der Sprachentwickelung. Entsetzen, 
Furcht und Verwunderung schwanden, je vertrauter man mit 
den Gegenständen wurde. Man gab ihnen Namen, die von der 
Natur abgezogen waren, die Sprech werk zeuge wurden biegsamer, 
die Accente weniger schreiend. Man sang und nahm Geberden 
zu Hilfe. Das ganze Wörterbuch war noch sinnlich. Die Sprache 
trat in das Jünglingsalter, Feuer und Wildheit mäfsigten sich, 
der Gesang Hofs lieblicher. Man nahm auch unsinnliche Begriffe 
auf, die man aber mit sinnlichen Namen nannte: die Sprachen 
waren voll von Bildern und Metaphern. Nicht nur Blackwell 
und Hamann, sondern auch Winckelmann hatte ja hervorgehoben, 
was Klopstock bestritten hatte, dafs die Poesie älter als die 
Prosa sei und früher zur Vollkommenheit gelangte (WW 1, 168 f. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



113 



4, 31). Es folgt das männliche Alter der Sprache, das Zeitalter 
der schönen Prosa. 'Je mehr die Dichtkunst Kunst wird, je 
mehr entfernt sie sich von der Natur' (HW l, 154). Ähnlich 
hatte Winckelmann erklärt: 'Der ältere Stil war auf ein Systema 
gebaut, welches aus Regeln bestand, die von der Natur ge- 
nommen waren und sich nachher von derselben entfernt hatten 
und idealisch geworden waren' (WW 5, 235). Und wie dieser 
gesagt hatte, dafs 'die Natur sich verliere unter Regeln und 
Vorschriften', so auch Herder: 'je mehr Regeln eine Sprache 
enthält, desto mehr verliert die wahre Poesie'. Das hohe 
Alter der Sprache weifs statt der Schönheit blofs von Richtig- 
keit, 'diese entziehet ihrem Reichtum,') wie die Lacedämonische 
Diät die attische Wohllust verbannet' (vgl. WW 1, 139). Das 
ist das philosophische Zeitalter der Sprache. Poesie und Prosa 
ist also nicht ein willkürlich geschaffener, sondern ein historisch 
gewordener Unterschied. Wir stehen jetzt im Zeitalter der 
Prosa, also in der Mitte zwischen dem Sinnlichen und dem 
Richtigen, zwischen dem Schönen und dem Vollkommenen; und 
wie wir die Gunst dieser Stellung nutzen müssen, wird nunmehr 
beredt entwickelt. 2 ) Eine Winckelmannsche Unterscheidung wird 
aufgenommen mit dem Satze (HW 1, 167): 'die Alten sprachen 
durch Bilder, wir höchstens mit Bildern; und die bildervolle 
Sprache unsrer schildernden Dichter verhält sich zu den ältesten 
Poeten wie ein Exempel zur Allegorie, wie eine Allegorie zum 
Bilde in einem Zuge'. Fast wörtlich kommt Herder im 
'Torso' darauf zurück: 'Freilich ist die Einfalt der Alten der 
erste Vorzug ihres Stils, dafs sie nicht in Bildern reden, 
sondern Bilder geben (HW 2, 278)'. Winckelmanns Satz 
lautet: 'Die griechischen Dichter von Homerus an reden nicht 
allein durch Bilder, sondern sie geben und malen auch 
Bilder, die vielmals in einem einzigen Wort liegen und 
durch den Klang desselben gezeichnet und wie mit lebendigen 
Farben entworfen werden' (WW 3, 59), während 'die Dichter 



') Vgl. Hamanns bekannte« Wort (Roth 2, 151): 'Die Reinigkeit einer 
Sprache entzieht ihrem Reichtum, eine gar zu gefesselte Richtigkeit 
ihrer Stärke und Mannheit'. 

*) Abhängig von diesen Ausführungen Herders ist, oft bis auf den 
Wortlaut, die Abhandlung von Lenz 'Über die Bearbeitung der deutschen 
Sprache im Elsafs' (Schriften hrsg. v. Tieck 2, 318 ff.), ebenso die auch von 
Hamann beeinflußte 'Über die Vorzüge der deutschen Sprache' (ebd. 2, 326 £f.). 

8 



Digitized by Google 



114 



Arnold E. Berger 



jenseits der Gebirge durch Bilder reden, aber wenig Bilder 
geben' (G3). Von den Morgenländern hatte Winckelmann 
geurteilt: 'bei jenen sind die figürlichen Ausdrücke so wann 
und feurig als das Klima, welches sie bewohnen, und der Flug 
ihrer Gedanken übersteiget vielmals die Grenzen der Möglich- 
keit' (WW 3, 58). Herder weist auf den arabischen Dichter, 
welcher mit der Fülle seiner Synonymen 'durch ein Wort 
malen und durch diese mit einem Zuge entworfne Bilder viel- 
seitiger sprechen' kann, als wir (108). 

Und wie Winckelmann seine Untersuchungen über die 
geschichtlichen Grundlagen und über das Wesentliche der Kunst 
durch seine herrlichen Beschreibungen der Denkmäler para- 
digmatisch erläuterte, so ergänzt Herder jetzt seine theoretischen 
Ausführungen über Sprache und Stil durch die Aufstellung 
grofser Muster. Die Heine der neun ' Originalschriftst eller ', die 
'die Ehre unsrer Literatur' sind, eröffnet aber eine begeisterte 
Anerkennung Winckelmanns, dessen Werke 'der Unsterblichkeit 
würdig und der Name unsres Jahrhunderts sind' (HW 1, 219; 
vgl. Hamann, Roth 2, 13: 'ein Monarch, der Name eines ganzen 
Jahrhunderts'). Herder rühmt von ihm dasselbe, was Winckelmann 
von Raphael rühmt: dafs er 'die besten Blüten jeder antiken 
Schönheit in seine Seele gesammelt'. Er ist 'einfältig im Vor- 
trag, natürlich in der Ausführung, erhaben in den Schilderungen'. 

Das Muster eines echten Kunstrichters, wie es Herder im 
Eingang der zweiten Sammlung aufstellt, scheint aus dem Geiste 
Winckelmanns entworfen zu sein. Dieser hatte die Archäologie 
aus dem trüben Dunkel antiquarischer Notizengelehrsamkeit auf 
die helle Höhe der freien Anschauung, der ästhetischen Würdigung 
und der geschichtlichen Erkenntnis gehoben. Vor jedem Kunst- 
werk suchte er in sich die Idee zu erneuern, die in der Seele 
des Künstlers gewirkt hatte, und von daher alle Einzelheiten 
gegen das Ganze abzuwägen. Ist er hierin ganz der hingebende 
Schüler, so wird er eben dadurch zu dem grofsen Lehrer seiner 
Zeitgenossen : er unterrichtet über die Fähigkeit der Schönheits- 
empfindung, über ihr Wesen und ihre Ausbildung, er zeigt, wie 
man die Kunstwerke zu betrachten, Geschmack und Urteil zu 
schulen habe, und in beständiger Verbindung dieser beiden 
Methoden führt er sein grofsartiges Gebäude auf, Geschichts- 
darstellung und Kunstlehre in eins fassend. In denselben drei 
Richtungen hat sich nach Herder die Wirksamkeit des Kunst- 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



115 



richters zu bewegen: 'gegen Leser, gegen Schriftsteller und 
gegen das ganze Reich der Literatur überhaupt'. Dem 
Leser sei er erst Diener, dann Vertrauter, dann Arzt, d. h. er 
bilde sein Gefühl, seine Einsicht, seinen Geschmack. Dem 
Schriftsteller sei er Diener, Freund, unparteiischer Richter. 
'Suche ihn kennen zu lernen und als deinen Herrn aus- 
zustudieren, nicht aber dein eigner Herr sein zu wollen.' So 
hatte Winckelmann von den Kunstwerken der Alten gesagt: 
'man mufs mit ihnen wie mit seinem Freunde bekannt ge- 
worden sein' (WW 1, 7), man mufs sich ihnen nähern 'mit der 
Hoffnung viel zu finden', so wird man 'viel suchen' (WW 1,245). 
Statt 'krüppelhafte und tote Gerippe von Auszügen' zu geben, 
fährt Herder fort, soll der Kunstrichter ein Buch 'bis auf Herz 
und Nieren zergliedern' und (wie Winckelmann) 'ein Pygmalion 
seines Autors werden'. Der ganzen Literatur endlich sei er 
Schmelzer oder Handlanger oder Baumeister, ein Mitbürger im 
Reiche der Wissenschaften. 'Ein kritisches Werk, das in allen 
diesen drei Absichten grofs bliebe, was wäre das für ein Schatz 
einer Nation!' Mit andern Worten: ein Winckelmann in Absicht 
auf die Literatur. 

Ein Muster solchen Kunstrichtertums legt Herder sogleich 
vor: er fragt nach der Möglichkeit der Nachahmung fremder 
Dichter. Bevor er in diese Erörterungen eintritt, verkündet er 
noch einmal mit einem Winekelmannschen Wort das befreiende 
Verdienst der Literaturbriefe: 'die Quelle des guten Geschmacks 
ist geöffnet, man komme und trinke!' (HW 1, 253; vgl. WW 1,6: 
'die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet; glücklich ist wer 
sie findet und schmecket'). Er handelt zuerst über die Nach- 
ahmung der Morgenländer, dann der Griechen; und hier fordert 
er sogleich die Übertragung des Verfahrens der Kunstgeschichte 
auf die Geschichte der Poesie: 'wo ist aber noch ein deutscher 
Winckelmann, der uns den Tempel der griechischen Weisheit 
und Dichtkunst so eröffne, als er den Künstlern das Geheimnis 
der Griechen von ferne gezeigt? Ein Winckelmann in Absicht 
auf die Kunst konnte blofs in Rom aufblühen, aber ein Winckel- 
mann in Absicht der Dichter kann in Deutschland auch hervor- 
treten, mit seinem römischen Vorgänger einen grofsen Weg 
zusammen tun' (HW 1, 293 f.). Deutlicher noch hat Herder den- 
selben Gedanken dann in dem unvollendeten Wäldchen über die 
Kunstgeschichte ausgesprochen (4, 216). So oft er auf Winckelmann 

8* 



Digitized by Google 



Arnold E. Berger 



zu reden kommt, scheint er sich auch dessen feierlich getragener 
Sprache zu bedienen, auch hier ist das leuchtende Bild der 
griechischen Schönheitswelt ganz in die verklärenden Farben 
Winckelmannscher Sentimentalität getaucht (1, 285 f.). Das Pro- 
gramm einer solchen Geschichte der griechischen Poesie, wie es 
Herder jetzt entrollt, ist mit geringen Abänderungen der Winckel- 
mannschen Vorrede zur Kunstgeschichte (WW 3, 1 f.) entlehnt: 
'Die Geschichte der griechischen Dichtkunst und Weisheit, zwei 
Schwestern, die nie bei ihnen getrennt gewesen, soll den Ur- 
sprung, das Wachstum, die Veränderungen und den Fall 
derselben nebst dem verschiedenen Stil der Gregenden, 
Zeiten und Dichter lehren und dieses aus den übrig ge- 
bliebenen Werken des Altertums durch Proben und Zeug- 
nisse beweisen. Sie sei keine blofse Erzählung der Zeit- 
folge und der Veränderungen in derselben, sondern das 
Wort Geschichte behalte seine weitere griechische Be- 
deutung, um einen Versuch eines Lehrgebäudes liefern 
zu wollen.' Daran schliefst sich eine Aufzählung der wichtigsten 
Winckelmannschen Gesichtspunkte: 'Man untersuche nach ihrem 
Wesen die Dichtkunst der Griechen, ihren Unterschied von 
den übrigen Völkern und die Gründe ihres Vorzugs in 
Griechenland; hier würde sich ein Ozean von Betrachtungen 1 ) 
darbieten: wiefern ihr Himmel, ihre Verfassung, Freiheit, 
Leidenschaften, Regierungs-, Denk- und Lebensart, die 
Achtung ihrer Dichter und Weisen, die Anwendung, 
das verschiedene Alter, ihre Religion und ihre Musik, 
ihre Kunst, ihre Sprache, Spiele und Tänze u. s. w. sie zu 
der hohen Stufe erhoben haben, auf der wir sie bewundern 
(HW 1, 294)'. Im folgenden nimmt aber wieder der Schüler 
Hamanns das Wort: eine solche Erkenntnis der griechischen 
Poesie würde uns von den elenden Nachahmern der Griechen 
befreien. MitWinckelmann berührt er sich in der (Blackwellschen) 
Behauptung, dafs die Sprache Homers 'göttlich, neu, aber im 
ganzen verständlich' gewesen, 'weil damals noch nicht ein 



») 'Ein Ozean von Betrachtungen, in den sich blofs ein Kenner der 
Alten, ein geschmackvoller Kunatrichter und, ich möchte beinahe sagen, selbst 
ein Dichter wagen kann' erinnert an Hamann (Roth 2, 122) : 'Ein Weltmeer 
von Beobachtungen, die ein gelehrter Philosoph auf einfache Grundsätze und 
allgemeine Klassen bringen könnte.' Vgl. auch HW 1,5: 'Aber welch ein 
grenzenloses Meer sehe ich hier vor mir.' 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Wtockelmunn. 



117 



Unterschied zwischen der Sprache der Weisen und des Volks 
war' (HW 1,298; vgl. W4, 32. 6,126). Aus dem 5. Buche 
von dessen Kunstgeschichte (WW 4, 89 f.) schreibt er die köst- 
liche Schilderung des jugendlichen Bacchus aus (HW 1,319 f.). 
In Formeln der bildenden Kunst und Winckelmannschen Wen- 
dungen bewegt sich auch die folgende Vergleichung Anakreons 
und Gleims: 'Anakreons Bilderchen nähern sich meistens einem 
kleinen Ideal von Schönheit und Liebe; und wenn sie dies nicht 
erreichen wollen, so sieht man ein feines Porträt'. 'Die erste 
Gattung schwingt sich auf zur feinen Idee der Wohllust über- 
haupt; die zweite, die in die Umstände eines Individualfalls 
gräbt, nähert sich der ersten, und wo sie ihr nachbleibt, gibt 
sie sich eine Art von Bestimmtheit, Spuren der Menschlichkeit, 
die wie ein Grübchen im Kinn, der Eindruck des Fingers der 
Liebe, wie das Lispeln des Alcibiades selbst mit zur Schönheit 
wird' (HW 1,330 f.; vgl. dazu 1,50. 4001 und Winckelmanns 
Bemerkungen über 'sinnlich gemachte Grübchen' WW 1, 19. 
4,41). Die Griechen 'hatten ihre guten Ursachen, bei ihren 
olympischen Bildsäulen lieber auf Schönheit als Ähnlichkeit 
zu sehen (vgl. Winckelmanns Satz über das griechische Gesetz, 
'die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen' 
WW1, 17; 'in allen diesen Betrachtungen war die Schönheit 
allezeit die vornehmste Absicht der Künstler' WW4, 106). Da- 
her ist im Alten mehr Einfalt' (HW 1, 331; vgl. WW 1, 31 f.). 
'Beide Dichter sind 'Söhne der Grazie', allein der Grieche malt 
mehr eigentlichen Reiz, dieser öfter Schönheit,' Auch an Gleims 
Kriegsliedern rühmt Herder die 'edle Einfalt' (HW 1, 336). In 
der anschliefsenden Abhandlung über die Idylle werden wieder- 
um nach Winckelmanns Methode vier Zeitalter unterschieden: 
erst Leidenschaft, dann Empfindung, dann Beschäftigung, endlich 
tote Malerei sind ihre stilistischen Kennzeichen. Diese vier Zeit- 
alter entsprechen ungefähr den vier Lebensaltern der Sprache, 
wie Herder sie früher abgegrenzt hatte, und Theokrit und 
Gefsner gehören ganz verschiedenen Zeitaltern an, sind also un- 
vergleichbar. 

Auf einem grofsartig entworfenen Geschichtshintergrunde 
sucht die dritte Sammlung der Fragmente das Eindringen und 
die Ausbreitung des römischen Geschmackes in Deutschland zu 
verfolgen. Einige Züge zu diesem Bilde scheint Kant geliefert 
zu haben (vgl. Hartenstein II, 279 f.). Auch die Renaissance hat 



Digitized by Google 



118 



Arnold E. Berger 



nach Herder weniger den Geist der Alten als dessen äufsere 
Schale erneut: man 'lernte, was die Alten gedacht, statt wie 
sie zu denken; lernte die Sprache, in der sie gesprochen, statt 
wie sie sprechen zu lernen' (HW 1, 370; vgl. 416: 'der eigent- 
liche Geist der Weltweisheit ist nicht, wie ich glaube zu wissen, 
was andre vor uns gedacht und gesagt, sondern es sich zu 
eigen zu raachen, wie sie es gedacht und gesagt'; auch 4, 59: 
'wir haben so viel zu lernen, was andre gedacht, und endlich 
lernen wir selbst nichts als: lernen'). Nicht nur mit Kant war 
Herder darin einig, dafs man 'nicht Gedanken, sondern denken 
lernen' müsse (Hartenstein 2, 314), sondern auch bei Winckel- 
mann hatte er gelesen: 'Gelehrt sein, das ist: zu wissen, was 
andere gewütet haben, wurde spät gesucht', und im griechischen 
Altertum 'war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nämlich: viel 
Bücher zu kennen ' (WW 4, 20) ')• So erlag seit dem 16. Jahr- 
hundert vollends das Denken der Gelehrsamkeit, das Erfinden 
dem Nachahmen; der ganze Zuschnitt der Wissenschaften, der 
Literatur, der Bildung ward römisch und ist es noch. Dieser 
gelehrte Pedantismus ist eine Hemmung des Genies. Der 
' deutsche Bücherstil ' mute umgebildet werden durch Erforschung 
der älteren Zeitalter in ihrer ' nervenvollen Stärke', die Sprache 
mute zurückgeleitet werden zum 'Urbilde ihrer selbst'. Und 
diese Erkenntnis mufs schon in der Erziehung der Jugend wirk- 
sam werden, denn 'die erste Farbe, die unsrer Denkart auf- 
getragen wird, verliert sich nie', und es kommt auch in diesem 
Punkte 'auf den ersten allmächtigen Eindruck an; ist 
dieser verfehlet, so ist alles verloren'. Wie eine ähnliche Stelle 
lehrt (HW 1, 50; vgl. auch 1, 6. 400. 401), fürst diese Beobach- 
tung auf Montesquieu; Herder konnte sie aber auch bei Winckel- 
mann finden (WW 4, 41 f.). 'Das ist doch einmal gewils, dafs 
die Römer auf einer andern Stufe der Kultur gestanden, als wir, 
dafs wir sie in einigen Stücken hinter uns haben und in andern, 
wo sie vor uns sind, nicht nachahmen können' (HW 1, 382). 
Auch in den Kern der Wissenschaften ist dieser lateinische Geist 
eingedrungen, Latein war Jahrhunderte lang das vehiculum der 
Scholastik, diese hat eine wissenschaftliche Schulsprache, eine 
systematische Terminologie ausgebildet, in der Wort und Begriff 



') Hertier hat den ganzen Winckelmannschen Passus nochmals ausge- 
schrieben HW 2, 139 f. in einem langen Centu aus dessen Schriften. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



110 



sich ineinander verwebt haben, so dafs dem Denken damit ein 
schädliches Joch auferlegt war, denn statt Sacherklärungen be- 
gnügte es sich fortan mit Worterklärungen. Thomas Abbt hatte 
das 'einen Aktienhandel mit Worten' genannt und im 271. Lite- 
raturbrief schon den glücklichen Ausdruck geprägt, den Hamann 
uud Herder sich alsbald aneigneten, 'dafs hundert Gedanken am 
Ausdrucke selber haften und kleben' 1 )- Hier knüpft Herder 
seine geniale Auseinandersetzung über das Verhältnis von Ge- 
danke und Ausdruck an (HW 1, 384 ff.). 

Haym hat nachgewiesen (Herder I, 42 ff.), welchen Anteil 
Kants analytische Methode an diesen Ausführungen hat; ich 
möchte hier zeigen, inwiefern sie durch Winckelmann angeregt 
worden sind. Herder legt dar, wie überall 'bei den sinnlichen 
Begriffen, bei Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten und in 
der klaren Sprache des natürlichen Lebens' der Gedanke aller- 
dings am Ausdruck 'klebe* (HW 1, 394). Daraus ergibt sich fin- 
den Dichter, der zumeist aus dieser Quelle schöpfen mufs, dafs 
sich für ihn Gedanke zum Ausdruck verhalten soll nicht wie 
der Körper zu seinem Kleide [so Meier 2 ] oder zur Haut [so 
Abbt] — denn ; die Farbe und glatte Haut macht nie die Schön- 
heit vollkommen aus' (1,3% f.; vgl. dazu das entsprechende 
Citat aus Winckelmann oben S. 110) — sondern Gedanke und 
Ausdruck verhalten sich wie Seele und Körper: die Empfindung 
schafft sich den Ausdruck, wie der Geist sich den Körper baut. 
Diese für die Genieepoche vorbildliche Ausführung, welche auf 
den jungen Goethe hinreifsend wirkte, trägt die Spuren ihres 
Ursprungs noch deutlich an sich: sie ist dem Autor aufgegangen 
an der bildenden Kunst und an der Lektüre Winckelmanns. 

Dieser hat die Kunstlehre um einen höchst fruchtbaren 
ästhetischen Begriff bereichert, indem er nämlich seine Betrach- 
tung nicht blofs auf den Gegenstand in seiner mehr oder 
minder gelungenen Nachahmung von Wirklichkeit oder Wirklich- 
keiten richtete, sondern hinter dem Gegenstand das Erlebnis des 
Künstlers suchte; dieser methodische Vorgang objektivierte sich 
ihm in einem neuen ästhetischen Begriff: die Seele des Kunst- 

>) Vgl. dazu Mendelssohns Bemerkung über die falsche Objektivierung 
abstrakter Begriffe im 22. Literaturbrief. 

*) Ähnlich einmal Winckelmann: 4 Die Bekleidung ist hier gegen das 
Nackende wie die Ausdrücke der Gedanken, d.i. wie die Einkleidung der- 
selben, gegen die Gedanken selbst' (WW 5, 8ü). 



Digitized by Google 



120 



Arnold E. Berger 



werks. Die weitverzweigte Vorgeschichte dieses Begriffs darzu- 
legen, behalte ich mir für eine künftige Untersuchung vor, auch 
die Ausbildung dieses Begriffes durch Winckelmann selbst kann 
ich hier noch nicht verfolgen; es genüge einstweilen der Hinweis, 
dafs der in Rede stehende Begriff bereits in Winckelmanns Erst- 
lingsschrift klar erfafst ist, denn die Beschreibung der Sixtinischen 
Madonna daselbst schliefst mit folgenden Worten: 'Die Zeit hat 
allerdings vieles von dem scheinbaren Glänze dieses Gemäldes 
geraubet, und die Kraft der Farben ist zum Teil ausgewittert; 
allein die Seele, welche der Schöpfer dem Werke seiner 
Hände eingeblasen, belebet es noch itzo' (WW1,39; vgl. 
auch 1, 34: 'sie verlangen eine Seele in ihren Figuren, die wie 
ein Komet aus ihrem Kreise weichet'). Erst nachdem Winckel- 
mann in andächtigem Schauen den geistigen Mittelpunkt eines 
Kunstwerks erfafst hat, jenes centrale Erlebnis, aus dem die 
Konzeption des Künstlers geboren wurde, geht er an die Er- 
klärung des Einzelnen und weist nach, wie in jedem Zuge der 
Gestalt die notwendige Beziehung auf jenes formgebende Ganze 
organisch enthalten ist. An diesem schöpferischen Gedanken 
Winckelmanns, an der Technik seiner Beschreibungen, die auf 
ihm beruht, ging Herder, dessen Denken von dem Gesetz der 
Analogie beherrscht war, die grofse Erleuchtung auf, dafs es 
sich ebenso verhalte in Sprache nnd Dichtung, und er verkündet 
diese ihn selbst beglückende Entdeckung in der Form eines 
' platonischen Märchens ' '), das gleichsam aus Winckelmannschen 
Gefühlstönen zusammengewebt ist (HW 1, 397 f.). 

'Aus dem seligen Reich der Götter ward die Empfindung, 
wie die Seele des Plato, heruntergesandt in den Schoofs der 
irdischen einfältigen Natur. In dem Schoofs dieser gesunden und 
starken und fruchtbaren Mutter sollte die Bewohnerin des 
Himmels einen schönen und blühenden Körper sich zum Wohn- 
hause bereiten; daher nahm sie das zarteste und feinste Geblüt 
ihrer Mutter zur sanften Hülle und ward die Schöpferin des 
Gebäudes rings um sich. Kein Sturm widriger Wallungen und 
kein Blitzstrahl von ungesunden Zuckungen hinderte ihr Gewebe, 
in welches sie ohne Gefühl gewaltsamer Störungen ihr Bild 
voll ruhiger Stille eintrug als das Bild einer Freundin der 



>) Eine Andeutung dieses Märchens findet sich bereits in der Rede über 
die Schönheit (HWl,44f.). 



Digitized by Google 



Der jnnge Herder und Winckelmann. 



121 



Götter und Gespielin der Göttinnen. Sie vollendete ihre 
Schöpfung, sie brachte die Frucht zur Reife, sie vollführte den 
Pallast ihrer Wohnung: ihr gelang das Bild ihrer selbst, das 
von ihr zeugen sollte. Kurz, der himmlische Gedanke formte 
sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, 
sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter; er ward in 
ihrem Schoofse reif ohne gewaltsame Gähningen und mit einer 
stillen Gröfse vollendet. Er wand sich seiner Gebärerin sanft 
vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die 
Grazien, und Göttinnen lächelten ihn an. Nun steht dieser 
Körper vor dir; willst du ihn als ein totes Kunststück betrachten, 
blofs seine Farbe lieben, blofs seinen Putz anbeten, seine 
Nägel an den Füfsen bewundern und umarmen eine kalte Bild- 
säule, willst du im Ausdruck ohne Gedanken Schönheit 
finden, — dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Be- 
trachter! Nein, siehe diesen Körper an als ein Sinnbild der 
Seele, die ihm blofs so viel körperliche Reize gab, als er- 
f Odert wurden, um ihn deinen irdischen Augen sichtbar und 
schön darzustellen. Begnüge dich also nicht mit gramma- 
tischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und 
des toten Rhytmus; denn wenn du trockne Richtigkeit suchest, 
wo Schönheit dich erfüllen soll, so liesest du wie ein Mefs- 
künstler und Handwerker oder Tagelöhner. Aber siehest du 
den Ausdruck als ein Geschöpf, das sich die Empfindung ge- 
söhaffen, als ein Sinnbild, in dem sich ihr Bildnis abdrucket, 
siehest du den ganzen Ausdruck als einen Boten des Gedankens 
und als den Pallast, den seine ganze Gröfse erfüllet, so wirst 
du mit den Augen sehen, mit denen Plato sich der un- 
körperlichen Schönheit aus dem Reiche der Geister er- 
innerte ['denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild' 
WW 5, 246], mit denen Winckelmann siehet, wenn er bei dem 
Apoll im Belvedere, oder dem Herkules im Torso oder dem 
Laokoon oder der Niobe ins Reich unkörperlicher Ideen gerät, 
du wirst mit dem Auge deine Hand leiten, mit welchem Mengs 
die Schönheit siehet.' Die im Druck hervorgehobenen Worte 
deuten die wichtigsten Beziehungen zu Winckelmann an; wich- 
tiger als diese Einzelheiten sind die beiden Grundgedanken, die 
sich am schlagendsten zusammenfassen lassen in dem berühmten 
Winckelmannschen Satze: 'Die höchste Schönheit ist in Gott, 
und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, 



Digitized by Google 



122 



Arnold E. Berger 



je gemäfser und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten 
Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Ein- 
heit und Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet, Dieser 
Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer 
gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu 
zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstände der 
Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Kreatur' 
( W W 4. 52 f.). Wörtlich benutzt ist in der Herderschen Aus- 
führung ferner eine Stelle aus Winckelmanns Beschreibung des 
Apoll: 4 Der Künstler hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal 
gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu 
genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sicht- 
bar zu machen' (WW 0,260)'). Und auch weiterhin nimmt 
Herder die Ausdrucksweisen der bildenden Kunst zu Hilfe: 
4 Wenn die Stärke der Gedanken sich mit dem starken Aus- 
drucke paaret, so steht ein Bild vor mir, wo der einförmige Um- 
rifs des Körpers für mich blofs ein Zeuge jenes Gedankens ist, 
der sich denselben formte'. Wohnt aber die Seele 'in einem 
wüsten, ungestalten Hause, wo sie wie aus einem dunkeln, un- 
regelmäfsigen Kerker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke 
und Adern wie unreine Kanäle sich erheben und sichtbar fort- 
laufen', 2 ) so mufs uns der Traum des Plato beifallen: in dies 
Gefängnis ward der Gedanke gesandt zur Strafe für die in der 
Oberwelt begangenen Verbrechen. Auch das folgende Bild ist 
erst aus Winckelmann ganz zu verstehen: der Originalschrift- 
steller bildet sich das Ganze des Gedankens in seinem Geiste, 
' stellet jeden Teilbegriff schnell an seinen Platz, in sein gehöriges 
Licht, zu seinem eigentümlichen Zweck, in allem erforderlichen 
Gleichmafse, das Bild schaffet sich in seinem Kopf und tritt, 
vollständig an Gliedmafsen und gesund an der Farbe, mit 
glänzenden Waffen hervor und wird Ausdruck ' (HW 1, 402). Es 



') Herder kommt zu diesem Gedanken zurück in einem Fragment Uber 
Baumgartens Denkart: 'Seine philosophischen Lehrbücher sind in ihren Vor- 
zeichnungen gleichsam ganz Geist, der nur soviel Materie angenommen, 
als zur Sichtbarkeit nötig war' (HW 82, 189). Und von der Bildhauerei 
sagt er: 'Da wohnet eigentümlich jene unsichtbare Vollkommenheit, die sich 
in der Materie offenbart und von dieser nur so viel nahm, um sich fühl- 
bar zu machen' (HW 4, 75). Ähnlich HW 8, 151 f. 

*) 'Ein Gewebe von strickmäfsigen Adern' WW2,386. 390. Vgl. 
dazu W W 4, 53. 87. 89. 95. 4, 105 f. 5, 269 f. 7, 78 u. s. w. HW 2, 134. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



123 



ist eine Wiederholung der Winckelmannschen Kunstlehre in nuce. 
angewandt auf die Sprache: das geistige Urbild, das Ideal be- 
stimmt die Ordnung und Auswahl der Teile und formt sich so 
den kongruenten Ausdruck, in dem es erkannt werden will. 

Frau von Stael hat Winckelmanns Kunstgeschichte eine 
Poetik aller Künste genannt, und dafs sich aus diesem Apercu 
eine ganze Abhandlung entwickeln läfst, soll mein Buch über 
Winckelmann demnächst erweisen. In dieser tief eingreifenden 
Darlegung Herders über Gedanke und Ausdruck findet jene Be- 
obachtung der Französin eine ihrer wichtigsten Bestätigungen. 
Aber auch hier entlehnt die Geniezeit von Winckelmann mehr 
die Methode als das Ergebnis; die Schatzkammer des Dichters 
kann nur seine Muttersprache sein, ein Originalschriftsteller 
im hohen Sinne der Alten ist immer ein Nationalautor. So 
bekämpft denn Herder auch den kritiklosen Gebrauch der alten 
Mythologie in der neueren Dichtung. Winckelmann hatte den 
Künstlern die Allegorie empfohlen, weil er die geistige Leerheit 
aus der Kunst verdrängen wollte, der Pinsel des Künstlers 'soll 
in Verstand getunkt sein ', er soll ' mehr zu denken hinterlassen, 
als was er dem Auge gezeigt'; das erreicht er, wenn er 'seine 
Gedanken in Allegorieen nicht versteckt, sondern einkleidet' 
(WW 1, 61 f.). Er verlangte deshalb eine allgemein festgestellte 
Allegorieensprache, ein Werk, 'welches aus der ganzen Mythologie, 
aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der ge- 
heimen Weltweisheit vieler Völker, aus den Denkmalen des 
Altertums auf Steinen, Münzen und Geräten diejenigen sinnlichen 
Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Begriffe dich- 
terisch gebildet werden. Dieser reiche Stoff würde in gewisse 
bequeme Klassen zu bringen und durch eine besondere An- 
wendung und Deutung auf mögliche einzelne Fälle zum Unter- 
richt der Künstler einzurichten sein' (WW 1, 58). Einen solchen 
Versuch hat Winckelmann bekanntlich später selbst geliefert. 
Schon Klopstock hatte in seiner Besprechung der Erstlingsschrift 
Winckelmanns gegen diese Forderungen triftige Einwände er- 
hoben. Auch Herder leugnet eine so allgemein verständliche 
Bildersprache, und wiederum beruft er sich auf die Geschichte: 
was war die Mythologie bei den Alten? Geschichte des Vater- 
lands, der Vaterstadt, Familien- und Ahnenstolz, Religion, 
Allegorie, personifizierte Natur, eingekleidete Weisheit. Und 
was ist sie uns? toter Bilderkram. Aber man belausche die 



Digitized by Google 



124 



Arnold E. Berger 



Griechen bei dem Schaffen ihrer Einbildungskraft, nnd an ihrer 
Mythologie als einer unvergleichlichen poetischen Heuristik lerne 
man, selber zum Erfinder zu werden, die Kunst des Allegorisierens, 
der Belebung des Stoffes, der uns umgibt, mit dichterischem 
Geiste. 

Man kann den Standpunkt Herders, wie ihn die erste Auf- 
lage der 'Fragmente' vertritt, durch dies Kennwort bezeichnen: 
Winckelmann berichtigt durch Hamann. In der zweiten Auflage 
der 'Fragmente' ist aber die Entfernung von Winckelmann 
stärker geworden. In der Untersuchung über den Ursprung der 
Dichtkunst (vgl. oben S. 101), die hier hineingearbeitet ist, taucht 
das bedeutsame Wort 'genetisch' auf, und der frühere Roman 
von den vier Lebensaltern der Sprache vertieft sich hier zu 
einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu ergründen. Zwischen 
Winckelmann und Herder ist Leibniz getreten. Ich kann hier 
nur die wichtigsten Tatsachen kurz andeuten, an denen dieser 
denkwürdige Fortgang Herderschen AVeltverständnisses deutlich 
wird. Von der literarischen Grundfrage, die das gesamte künst- 
lerische Hervorbringen seit dem Zeitalter des Opitz beherrschte, 
war der junge Schriftsteller ausgegangen. In die Erörterung 
dieser rein literarischen Frage hatte sich die leidenschaftliche 
Heftigkeit eines bis dahin verkannten und mifshandelten Innen- 
vermögens eingedrängt: das Hamannsche Pochen auf die 'niederen 
Seelenkräfte', die aber vor Gott die höchsten sind, und in denen 
der wirkende Wert des Menschen sein stärkstes Organ besitzt. 
Von Kant überkam Herder die analytische Methode, welche die 
Begriffe, die uns 'sinnlich klar', aber — vom Standpunkt der 
Erkenntnis betrachtet — 'verworren zugleich mit den Worten 
überliefert sind', durch fortgesetzte Abstraktionen deutlich dar- 
zustellen und zu zergliedern hat. Jedoch die analytische Me- 
thode hat ihre Grenzen: Kant hatte vor einer Reihe von Be- 
griffen Halt gemacht, die er als 'unauflöslich' bezeichnete, z.B. 
Gedanke oder Vorstellung, Raum, Zeit, Dazu gehören auch 
wegen ihres subjektiven Ursprungs die einfachen Gefühlsbegriffe: 
gut, schön, häfslich, böse, erhaben u. s. w. Ist das logische 
Denken gegenüber diesen unauflöslichen Begriffen ohnmächtig, 
so lag darin erst recht eine Aufforderung, ihnen den Primat 
gegenüber dem Intellekt zuzuerkennen. Das war in der Tat die 
Ansicht Hamanns. War aber diese Unzulänglichkeit des Ver- 
standes gegenüber den 'qualitates occultae' anerkannt, so war 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmanii. 



125 



weder eine Ethik noch eine Ästhetik als Wissenschaft möglich. 
Diese notwendige Folgerung hatte denn auch Herder in der oben 
erwähnten Abhandlung, 'dafs und wie die Philosophie für das 
Volk nutzbar zu machen sei', mit Entschiedenheit gezogen, in- 
dem er die Philosophie schlechthin verwarf und an ihre Stelle 
die Anthropologie setzte, die nicht Logik, Moral, Politik, Meta- 
physik zu lehren, sondern 'die Menschen im Selbstdenken und 
im Gefühl der Tugend' zu bilden habe: man mufs so spät als 
möglich die 'höheren' Seelenkräfte reifen lassen. Aber eine 
solche Unterschätzung der Verstandeserkenntnis konnte Herders 
geistiger Anlage für die Dauer unmöglich genügen, gerade seine 
hervorstechend geschichtliche Richtung widerstrebte ihr. Und 
war denn nicht eine ausgleichende Vermittelung jener beiden 
Gegensätze, die Hamann so scharf geschieden hatte, ihm in der 
Tat durch die eigene innere Erfahrung gegeben? War nicht 
immer das Gefühl ihm der Same der Erkenntnis gewesen? 
jenes sich einsinnende, einschmiegende Gefühl, das sich für einen 
Augenblick ganz in den Gegenstand, dem es sich hingab, zu ver- 
wandeln wufste, um dann wieder frei über ihm zu schweben und 
die dunkle Gewilsheit intuitiven Empfindens zur Klarheit der 
Vernnnftanschauung hinaufzuläutern? Wuchs nicht sein ganzes 
Forschen aus den aufwallenden Ahnungen des erregten Gefühls 
hervor? empfand er nicht bei allen Entdeckungen, die er machte, 
bei allen Aussichten, die sich plötzlich auf taten, einen 'inneren 
Schauder', arbeitete er nicht mit jener schmerzlich süfsen 
'Zeugungsbrunst', die ihm kaum genug Ruhe liefs, die Fülle der 
inneren Gesichte zu ordnen und zu klären? Fand er nicht 
dieselbe Seelenfähigkeit fortwährend in sich wirksam, mit der 
einst der primitive Mensch sich die Sprache erfand — jene 
, Reflexion' oder 'Besonnenheit', welche ,in dem ganzen Ozean 
von Empfindungen, der durch alle Sinne rauscht, eine Welle ab- 
sondert, sie anhält«, die Aufmerksamkeit auf sie richtet ' und ihre 
flüchtige Dauer zur sinnlichen Klarheit des perlenden Tropfens 
verdichtet? Nein: Gefühl und Verstand können unmöglich in 
ihrem Wesen sich entgegengesetzt sein: es sind nicht Unter- 
schiede der Art, sondern nur Unterschiede des Grades der 
Klarheit. 

Was ihn die eigene innere Erfahrung so deutlich lehrte, 
das brachte ihm zugleich ein kongenialer Geist in einem System 
von bewundernswertem Aufbau entgegen. Dieser Geist hiefs 



Digitized by Google 



Arnold E. Berger 



Leibniz. Schon in Königsberg war Herder mit dessen Philo- 
sophie bekannt geworden, aber die geschlossenste Darstellung 
seiner Seelenlehre trat erst 1765 in den 'Nouveaux essais' ans 
Licht, und Herders Schriften weisen sogleich deutliche Spuren 
dieser Lektüre auf, die ich aber hier nicht verfolgen will. Für 
unsem Zweck genügt es, zwei Tatsachen hervorzuheben, die für 
das Verhältnis Herders zu Winekelmann entscheidend werden: 
zur Grundlage aller Geisteswissenschaften wird ihm nunmehr 
die Psychologie, und es wird Ernst gemacht mit dem univer- 
salen Entwicklungsgesetz, mit der genetischen Betrach- 
tung aller geschichtlichen Phänomene. Herder hatte sich schon 
in Königsberg mit dem Problem der Kausalität in einer Weise 
abgefunden, die ihn von Kant entfernte und zu Leibniz hin- 
führte. Nämlich — so hatte er von Kant gelernt — das analy- 
tische Verfahren ist nur unter der Voraussetzung möglich, dafs 
alle unsere Begriffe, sobald sie einen Zusammenhang bilden, im 
Verhältnis der logischen Identität stehen, d. h. dafs immer die 
Folge schon im Grunde enthalten ist. Nun gibt es aber nach 
Hume ein Begriffsverhältnis, in dem das nicht der Fall ist; das 
ist die Kausalität. Ursache und Wirkung sollen angeblich in 
einem logischen Zusammenhang stehen, dennoch ist es unmöglich 
eine bestimmte Wirkung ans einer bestimmten Ursache durch 
die analytische Methode zwingend zu entwickeln. Das Kausali- 
tätsverhältnis ist demnach kein logisches Verhältnis. Gegen 
diesen Kantschen Schlufs sträubte sich Herders religiöse Natur; 
diese erhob das Postulat, dafs das Kausalitätsverhältnis kein zu- 
fälliges, sondern ein notwendiges sei, und um diesem Postulat zu 
genügen, eignete er sich den Leibnizschen Begriff der Kraft an: 
wenn ich von der Folge zurückgehe auf die bewirkende Ursache, 
so reicht dazu die logische Analyse (der Folge) allerdings aus; 
will ich aber umgekehrt von der Ursache zur Folge fortschreiten, 
so mufs ich der Ursache zugleich die (ihrem Wesen nach uner- 
klärbare) Kraft substituieren, die die Folge als ihre sichtbare 
Erscheinung setzt, d. h. aber: Wirkung und Ursache sind jetzt 
nicht mehr logisch, in meinem konstruierenden Intellekt ver- 
knüpft, sondern real, im Zusammenhang der lebendigen Wirk- 
lichkeit. Herder bemerkte den Trugschluß; nicht, den er damit 
beging, er bemerkte nicht einmal, dafs er so zum philosophischen 
Dogmatiker wurde, während Kant immer entschiedener den Weg 
zum Kriticismus einschlug; ihm war dieser Begriff der genetischen 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



127 



Kraft nicht nur eine unentbehrliche Hilfskonstruktion zur ein- 
heitlichen Zusammenfassung von tausend Einzelbeobachtungen, 
sondern zugleich eine unabweisbare Folgerung aus der eignen 
inneren Erfahrung und eine Befriedigung seines religiösen Bedürf- 
nisses. Denn er verstand unter der genetischen Kraft fortan die 
Fähigkeit, unter diesen und keinen andern Lebensbedingungen 
sich die Welt, so weit sie irgend erreichbar ist, zu assimilieren 
und alles Assimilierte wiederum in diese und keine andern Taten 
oder Handlungen zu verwandeln, die an der Stelle, wo wir 
stehen, notwendig und Manifestationen eines Immanent -Göttlichen 
sind. Wie auf diesem Grunde seine Weltansicht sich erhob, wie 
neben Leibniz der Engländer Shaftesbury dabei sein wichtigster 
Helfer wurde, das ist hier nicht auszuführen; aber doch mutete 
der philosophische Standpunkt hier kurz umschrieben werden, 
von dem er nunmehr seine — durchweg mit der gröfsten Ehr- 
erbietung geführten — Angriffe gegen Winckelmann ') richtete. 
Er war mit Leibniz darin einig, dafs es keinen Dualismus von 
Materie und Geist, von Leib und Seele, von Gefühl und Er- 
kenntnis gebe, vielmehr nur eine kontinuierliche Stufenfolge 
perzipierender Substanzen: alle Monaden tragen die Vorstellungen 
des ganzen Universums in sich, doch verworren. Allen wohnt 
das Streben inne, die unbewufsten Vorstellungen bewirfst zu 
machen; die Klarheit der Vorstellung ist aber abhängig von dem 
örtlichen und zeitlichen Standpunkt jeder Monade, d. h. ihre 
Vorstellungen werden immer unklarer, je femer ihr die Dinge 
liegen, auf die sie sich beziehen. So entsteht eine universelle 
Einheit von unendlich fein differenzierten dynamischen Ab- • 
stufungen: jedes einzelne Wesen hängt zusammen mit der ganzen 
Welt, die Gegenwart ist von der Zukunft voll, und voll auch 
von dem Vergangenen, und Gott liest 'in dem Kleinsten der 

') Auch Winckelmann steht unter Lcibnizschem Einflufs, wie schon 
v. Fürstenberg gesehen hat (Briefe von und an Klopstock herausg. v. Lappen- 
berg. 1867. S. 265). Es erinnert auch an die Leibnizsche Psychologie, wenn 
er etwa bemerkt, dafs die Fähigkeit der Schbnheitsempfindung bei angeheuder 
Jugend wie jede Neigung 'in dunkele und verworrene Rührungen eingehüllet' 
sei (WW2, 388), dafs 'die ersten Eindrücke die stärksten sind und vor der 
Überlegung vorhergehen', dafs 'die allgemeine Rührung, welche uns auf das 
Schöne ziehet, dunkel und ohne Gründe' sein kann (395 f.)- Aber im übrigen 
sind die Leibnizschen Anregungen bei ihm anderswo zu suchen, und der Ent- 
wicklungsgedanke ist ihm eben noch nicht in seiner vollen Tragweite auf- 
gegangen. 



Digitized by Google 



128 



Arnold E. Berger 



Substanzen die ganze Folge der Dinge der Welt'. Jede deutlich 
erkannte Vorstellung kann wieder auf den Grund der Seele hin- 
absinken und undeutlich werden, d. h. jedes Urteil kann durch 
Übung wieder zum Gefühl werden. Jede Blüte, die zur Frucht 
reifte und verfiel, kann wieder zum Samenkorn werden und neue 
Keimkraft entfalten. Durch solche philosophischen Einsichten 
gewann Herders Methode der Geschichtsbetrachtung eine aufser- 
ordeutliche Vertiefung: aus der historischen Erklärung Winckel- 
manns ging ihm die historische Entwicklung hervor, aus dem 
Pragmatismus die genetische Betrachtung. Und Winckelmann 
mufste sich gefallen lassen, sogleich von diesem neuen Stand- 
punkt geprüft zu werden (H\V 2, 112 ff.). 

Die zweite Auflage der ersten Sammlung der Fragmente 
brauche ich nur zu streifen: Nachklänge aus Winckelmann sind 
auch hier zu bemerken, doch keine neuen Anknüpfungen von 
erheblicher Bedeutung (z. B. IIW 2, 31 unten; 44 im Anfang von 
Abschnitt 9; 97 u. s. w.). Eine Bemerkung in Winckelmanns 
* Versuch einer Allegorie ' (' die Sonne hat in den alten und in 
den mehresten neuen Sprachen eine männliche Benennung, wie 
der Mond eine weibliche u. s. w.' WW2, 442 f.) gibt ihm die An- 
regung zu einem kleinen Exkurs über die Idiotismen des gram- 
matischen Geschlechts (HW 2, 49); auf dieselbe Frage, die 
übrigens auch im 62. Literaturbrief schon gestreift wurde, kam 
er dann noch einmal einige Jahre später zurück in der Rezension 
der Ossiantibersetzung von Denis (HW 5, 326 f.). Die Umarbeitung 
der zweiten Sammlung bringt die Abrechnung mit Winckelmann, 
allerdings mit dem Bewufstsein, dafs von ihrem strengen Richter 
dasselbe gilt, was Herder in einem Briefe an Scheffner (Lebens- 
bild 1, 2, 191) von Lessing sagt: 'er sitzt auf Winckelmanns 
Schultern und sieht also gröfser und weiter.' 

Die Griechen sind die 'Lieblinge der Minerva' (vgl. oben 
S. 108), die ersten und einzigen, bei denen sich Kunst und Wissen- 
schaft wie zu einem Staate gebildet, ein unerreichbares Muster 
in allem, was sie besafsen. Doch wo sind Völker und Zeiten 
vor ihnen, die Jahrtausende, in denen der menschliche Stand 
sich erzog, wo die ursprünglichsten Formen des menschlichen 
Geistes? Was wissen wir denn von dieser Geschichte des Alter- 
tums, als was wir durch die Griechen wissen? und was wissen 
wir durch diese, als was sie wissen konnten und uns wissen 
lassen wollten? Wir sollen alles Altertum durch das Medium 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



129 



der griechischen Geschichte sehen und sehen also nichts als — 
Griechen und Barbaren. Denn die Griechen schrieben Geschichte 
nicht als Weltbürger für alle Zeiten und Völker, sondern für 
Griechen, mit griechischer Feder, auf griechischen Glauben, mit 
griechischem Auge, oft als Feinde, immer als Fremde. Die Frage, 
welchen Platz die griechische Nation gegen andere Völker und 
Zeiten habe, ist ungelöst. Man nuifs die griechische Geschichte 
also als eine 'orthographische Projektion der ältesten Welt- 
historie studieren — ein schweres und kaum angefangenes 
Studium' (115). Deshalb ist uns die alte jüdische Urkunde ein 
unschätzbares Denkmal des Altertums; hätten wir nicht das 
Alte Testament, so wären wir in der Geschichte des Altertums 
ganz Griechen. Die Literaturgeschichte hat für uns in Griechen- 
land ihren strahlenden Aufgang, und doch kann die Geschichte 
des menschlichen Verstandes dort nicht erst begonnen haben. 
Was die Griechen von anderen Ländern empfingen, war gewifs 
nur 'roher Same, der sich nach ihrem edlen Boden, unter ihrem 
schöneren Himmel, an ihrer klaren Pierischen Quelle in eine 
bessere Natur veredelt', auf jedem Gebiete der Literatur gaben 
sich die Griechen eine Originalmanier. — aber welcher Barbar 
hätte wohl eine nach griechischer Art gewollt? 'Wer, der das 
Klima, die Sprache, die Regierung, die Lebensart, die Geschichte, 
die Lokal umstände Griechenlands nicht hatte und nicht haben 
wollte, wer von ihnen hatte und wollte seiner Zeit und seines 
Orts eine Mythologie, Poesie, Philosophie, Politik, Musik, Rednerei 
und Kunst nach griechischer Denkart?' 'Könnte also derechte 
Geschichtsschreiber das barbarisch nennen, was den Griechen 
dafür galt?' Darf er ein Lieblingsvolk haben, nach dessen Vor- 
urteilen er alles abmifst? Um die Ungeschicklichkeit dieses 
Standpunktes zu erweisen, wählt Herder 'das gröfste Beispiel', 
aber auch 'das verzweifeltste von allen': die griechische Kunst, 
in der Winckelmann 'das Ideal aller göttlichen und menschlichen 
Schönheit findet und mit griechischem Geiste preiset'. 

Winckelmann ist unter den Griechen ein Grieche, aber auch 
unter den Ägyptern ein Ägypter? und unter den anderen Un- 
griechen auch ihr Zeitgenosse und Landsmann? Nein: sein 
Auge ist das eines Griechen, sein Ideal das der griechischen 
Schönheit, nach dem er alles mifst und schätzt, das ihn blind 
macht gegen die Verdienste anderer Völker. Kr ist in diesem 
Verfahren grofs, und doch ist es •willkürlich und bequem'. Der 



Digitized by Google 



130 



Arnold E. Berger 



Hauptzweck seines Werkes ist freilich die Geschichte der 
griechischen Kunst, das Wesen ihrer Schönheit, folglich eine 
Lehrgeschichte; aber könnte sie nicht gleichwohl unparteiisch 
sein, hätte er nicht dennoch z. B. von den Ägyptern reden 
müssen, als hätte er die Griechen nie gesehen? Und können 
die Griechen wirklich die ersten Erfinder der Kunst heifsen? 
verrät nicht ihre älteste Geschichte zu viele Spuren, dafs Fremde 
in dem Laufe ihrer Erfindungen ihnen vorgetreten, Fremde sie 
aus manchem Bedürfnis gerettet, ja bei ihnen die Kultur erweckt 
und beschleunigt haben? So fehlt bei Winckelmann die Kette 
der Mitteilung zwischen den einzelnen Völkern, sein Werk zer- 
fällt fast in so viel Teile, als er Völker beschreibt, doch wir 
sehen nicht den grofsen (rang der Kunst über alle Völker und 
Zeiten hin. Herder wählt ein anschauliches Beispiel. Die regel- 
mäfsigen, aber eckigen, harten, übertriebenen Linien des alt- 
griechischen Stils hatte Winckelmann erklärt als 'auf ein 
Systema von Regeln gebaut', denn die Wissenschaft in der Kunst 
gehe vor der Schönheit voraus und müsse als auf richtige Regeln 
gebaut mit einer genauen und nachdrücklichen Bestimmung zu 
lehren anfangen. Herder fragt sehr richtig, wie denn nach dem 
natürlichen Wachstum einer werdenden Kunst sogleich an die 
ersten rohen Versuche die Wissenschaft grenzen könne, und ob 
denn die strengste Wissenschaft in der Kunst allemal vor der 
Schönheit vorausgehen müsse? Nein, weder in Kunst noch in 
Poesie pflegt sich die Schönheit aus der Regelwissenschaft 
hervorzudrängen, sie ruht blofs auf dunklen, aber desto 
mächtigeren Begriffen des Augenscheins. Begreiflich wird aber 
alles, wenn wir ein fremdes Regelsystem untergeschoben 
annehmen, auf dem die Griechen fortbauten: der ältere 
griechische Stil ist der herübergenommene ägyptische. 
'Von wem bekamen sie Kultur, Gesetze, Götter, Wissenschaften, 
Künste? die älteste griechische Geschichte ist voll davon: durch 
fremde Kolonieen'. Winckelmanns Kunstgeschichte ist mehr 
'Lehrgebäude', als es eine Geschichte sein darf. Und nun deckt 
Herder die Fehler Winckelmanns in der Besprechung der 
ägyptischen Kunst auf; nicht was ihnen zu den Griechen fehlte, 
will er, Herder, ermitteln, sondern das, worin sie Ägypter 
waren, das Ungriechische, was ihnen zu ihrem nationalen Stil 
gut und notwendig war. Es folgt eine Reihe geistvoller Be- 
richtigungen Winckelmanns, und genial ausgeführt ist der 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Wiuckelmaun. 



131 



originelle Einfall (HW 2, 133 f.), einen Ägypter das Wort er- 
greifen zu lassen, der in ein griechisches Museum eintretend von 
Stellung, Handlung, Bewegung und Ausdruck dieser Denkmäler 
aufs äufserste erschreckt, gerührt und verwirrt wird, aber am 
Ende beängstigt und zurückgestofsen von diesem verewigten 
Einerlei der handlungslosen Handlung und der sich nicht be- 
wegenden Bewegung sich wieder beruhigt seinen grofsen, regungs- 
losen Götterbildern zuwendet, die ihn mit tiefer, schweigender, 
ungestörter Kuhe empfangen: nur in der Ruhe wohnt Ewigkeit. 
Herder ist hier in der Tat 'mit den Ägyptern ein Ägypter' ge- 
worden. 1 ) Es wäre nun zu untersuchen, wie die Griechen das, 
was sie von anderen Völkern empfangen, so vortrefflich 'in ihr 
gesunderes Blut zu verdauen gewufst haben'. 'Sie, die selbst 
im Nachahmen Original waren', seien uns Muster, alles An- 
geeignete in unsere eigenste Natur zu verwandeln. Damit lenkt 
Herder wieder zur Literatur hinüber, und die Fortsetzung seiner 
Betrachtungen bietet für unseren Zweck keine Ausbeute mehr. 

Bevor wir von den 'Fragmenten' Abschied nehmen, seien 
noch eine Anzahl einzelner Stellen vermerkt, in denen auf 
Winckelmaun Bezug genommen ist. Dem Stil Mosers wird die 
Geschicklichkeit gewünscht, 'die wassersüchtige Fülle in einen 
Körper zu verwandeln, wo volle, gesunde Adern unter einer 
feinen Haut sich verbergen' (HW 1, 221; vgl. dazu z. B. WW 1, 18). 
Bei Gelegenheit Hamanns bemerkt Herder, dafs 'Erfindung und 
Zeichnung Früchte der Denk- und Sehart' seien und verdeutlicht 
das an dem Beispiel zweier Maler, des Barocci und Guercino. 
Jener malte 'grünes Fleisch' (HW 1,229; vgl. 'Barocci, dessen 
Fleisch ins Grünliche fällt' WW 2, 392), dieser ein 'trauriges 
Kolorit' (vgl. WW 2, 393: 'das Kolorit, welches . . . stark, trübe 
und vielmals traurig im Guercino erscheint ').' 2 ) Auf die Sprache 
überträgt Herder gern die Terminologie der bildenden Kunst. 
So spricht er z. B. von der Ordnung zerstückter Bilder, die man 
'in der Perspektive eines Gleichnisses zeichnen' müsse (1, 271); 
oder von Klopstocks 'Malereien auf der Oberfläche' (1, 296); von 
Homer rühmt er, dafs er 'jede Schönheit seiner Bildung tief 
eindrückt und seine Ideen nicht malt, sondern mit lebendigen 
Körpern umhüllt, die von Morgenröte strahlen' (297). Wenn 

») Verkürzt nahm Ilerder diese Ausführungen in die Schrift 'Auch eine 
Philosophie' hinüber (in den Abschnitt über die Ägypter). Vgl. auch HW8,yö. 
*) Herder kommt darauf zurück HW 8, 251. 

d* 



Digitized by Google 



132 



Arnold E. Berger 



man den Ausdruck 'vor dem Gedanken behandelt, so wird leicht 
jene tote Bildsäule des Stils daraus, die ohne Fehler und ohne 
wahrhaftig eigne Schönheiten, ohne Leben und ohne Charakter 
dasteht ' (1, 414). Er verlangt eine Darstellung Herodots aus 
seinem Zeitalter heraus, 'nicht wie ein Schattenumrifs an der 
Wand, sondern im lebenden Bilde', und je mehr er Herodot 
kennen lernt, desto ehrerbietiger nähert er sich ihm 'wie jener 
antiken Bildsäule des Janus, der mit einem Antlitz ins Land der 
Poeten zurück, mit dem andern in eine neue Welt hinsieht, in 
ein werdendes Zeitalter der Prosa' (2,85). Vgl. ferner: 'ohne 
Religion wäre sein Bild ein Schattenrifs ' (32,9). Von charak- 
teristischen Wortbildungen, die Herder aus Winckelmann ent- 
lehnte, haben wir 'Grofsheit', 'Gewächs' und 'Lehrgebäude' 
kennen gelernt. Dahin gehört auch 'Stand' (für 'Stellung'), eiu 
bei Winckelmann sehr häufiger Ausdruck, den Herder z. B. 2, 125 
sich aneignet. Das bei Hamann, Herder, Goethe, Sturz u. a. 
beliebte, aus der Bibelsprache entlehnte 'schmecken' im Sinne 
geistigen Geniefsens begegnet bei Winckelmann wiederholt 
(WW 9, 70. 257. 382). Auf die Schreibweise des jungen Herder 
hat wohl neben Hamann Winckelmann den stärksten Einflufs 
geübt, doch würde ein solcher Nachweis eine eigene stil- 
geschichtliche Untersuchung erfordern. 

In der Denkschrift für Baumgarten, Heilmann und Abbt 
(HW 32, 175 ff. 2, 251 ff.) überträgt Herder seine psychologisch- 
kulturgeschichtliche Methode auf das Feld biographischer Dar- 
stellung. Auch hier umschwebt ihn der Genius des Schöpf ers 
der Kunstgeschichte. 'Ich habe — so schrieb dieser 1757 aus 
Rom (WW 9, 228) — einige Zeit her fast mit niemand als mit 
dem Plato, meinem alten Freunde, gesprochen'. Er hatte 
schon als Schulmeister Gleichnisse aus dem Homer 'gebetet' und 
den 'Göttlichen' zu wiederholten Malen 'mit aller Applikation' 
ganz durchgenossen. Schon 1757 wurde er in der griechischen 
Gelehrsamkeit nach seinem eigenen Geständnis 'für den Gröfsten 
in Rom gehalten' (WW 9, 231), in der Lektüre der Alten hatte 
er sich vom Geiste des Griechentums erfüllen und durchdringen 
lassen, er war in der Tat mit den klassischen Kunstwerken 
'wie mit seinem Freunde vertraut' geworden. Auch Herder 
sitzt am Grabe jener drei teuren Verstorbenen, er hält ihre 
Schriften in der Hand und er liest, in der Stille ihr Andenken 
feiernd. Er liest, wie wenn er Stimmen hört aus den Gräbern, 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



133 



er hört ihre Stimmen, wie wenn ihr Bild vor ihm seh wehte. 
Ihr Geist nimmt die geschriebenen Worte zu seiner Hülle und 
erseheint ihm und wirkt in seine Seele. Er fühlt einen Strahl 
des Lichtes in ihm aufgehen, in seinen Adern einen sprühenden 
Feuerfunken, sein Herz schlägt, er wird 'ihr Freund, ihr 
Schüler, ihr Nacheiferer'. Er bekennt, dafs ihn bei dem 
Andenken dieser Männer eine 'stille Gröfse' fesselt. Das 
Idealbild, wie es in seiner Seele lebt, sucht er nun als Künstler 
vor die Augen der Menschen zu stellen, an ihren Gräbern 'ihr 
Denkmal in der Stille zu errichten'. Auf ein 'Denkmal' war es 
abgesehen, der Fragmentist hat nur einen 'Torso' geschaffen. 
Aber mit welcher Begeisterung hat er sein Ideal dennoch hin- 
gestellt: 'Ist das Bild im Kopfe entworfen, so können freilich 
aus der Kammer des Herzens Säfte heraufwallen, um dasselbe 
mit Farben zu tuschen und auszumalen, die einem trockenen 
Kopfe nicht gefallen dürfen'. Vielleicht ist es kein 'ikonisches', 
sondern ein 'Idealbild', was er entwirft, aber doch darf er ver- 
sichern, 'dafs die Andacht, mit der er schreibt, nie die Stille 
wegstürme, mit der er denkt'. Die methodischen Hauptsätze 
dieser Schrift wurzeln in der Leibnizschen Psychologie, sie ver- 
leugnen aber auch die Beziehung zu "Winckelmann nicht. 

Eine Menschenseele ist ein Individuuni im Reiche der Geister, 
sie empfindet also nach der einzelnen ' Bildung ' und denket nach 
der Stärke ihrer Organe. Ihre Denkart ist gleichsam ein ganzer 
Körper, in dem die Naturkräfte die spezifische Masse sind, 
welcher die Erziehung des Menschen Gestalt und Figur mitteilet. 
Nach gewissen Jahren der Formung kann das spätere Lernen 
selten die ganze Gestalt der Glieder verändern, um so mehr aber 
bewirken, 'diesem Körper uusrer Denkart Kolorit und Stellung 
und Gewand zu geben'. Wer uns eine menschliche Seele ge- 
wissermafsen als plastisches Kunstwerk, als körperliche Er- 
scheinung darzustellen verstünde, der hätte mehr geleistet, als 
Parrhasius (vgl. oben S. 101) und Aristides ('der Maler der Seele', 
vgl. WW 1, 55 f. 202. 6, 113. HW 8, 107). Wie ein Maler die eigenen 
Züge seines Gegenstandes aufspürt, um ihm seine Gestalt vom 
Antlitz zu reifsen, so mufs der Biograph 'die Originalstriche seines 
Autors studieren' und dies wahre Bild an seinen wahren Platz 
im Range der Geister stellen. 1 ) Und weifs er sein Bild auch 

') Wenn er fordert, dafs der Biograph der Vertraute der Geheimnisse 
seines Helden sein und ihn doch 'fremd wie ein müfsiger Zuschauer' müsse 



Digitized by Google 



131 



Arnold E. Herger 



redend zu machen, dafs es in die Seele spricht und sich mitteilt, 
so wird er ein Wundertäter, denn die wahre Weisheit pflanzt 
sich 'wie durch einen Kufs aus dem entkleideten Geiste des 
Andern' in den unsrigeu. Das Bewußtsein unser selbst ist ja 
lebendig, aber verworren; doch wohl erkennen wir uns und fahren 
aufser uns, 'wenn ein Bild unser selbst, unser zweites Ich, uns 
aufstöfst\ Dann erkennen wir uns 'wie in der platonischen 
Erinnerung aus dem himmlischen Reich der Geister'. So war 
es Winckelmann mit den Kunstwerken der Alten ergangen, in 
denen er sein Gemiitsideal 'Einfalt und Stille' herrlich ver- 
wirklicht fand, ähnlich war es Herder mit Winckelmann selbst 
bisweilen ergangen, so erging es ihm auch mit Abbt, der ihm 
'Gedanken aus seiner Seele entwandt zu haben' schien. Daher 
das Gefühl der Kongenialität als erste Forderung der biographischen 
Kunst. — Auch in dieser Denkschrift entlehnt Herder charakte- 
ristische Vergleiche aus der bildenden Kunst. Er lobt Baumgarten 
wegen seiner 'harten und festen Andeutung der Begriffe ' (2.93). 
und dieser 'ungekünstelte viereckige Umrifs, der auf nichts als 
Wahrheit geht', gewährt mehr Vergnügen, 'als alle Hogarthschen 
Schönheitslinien', 'als aller Stil, der sich krümmet und windet, 
mit Farben spielt '. Sein Stil hat Ähnlichkeit mit dem der altera 
Bildhauerei, 'da die Zeichnung nachdrücklich, aber hart, mächtig, 
aber ohne Grazie war, und wo der starke Ausdruck die Schönheit 
verminderte' (wörtlich entlehnt aus Winckelmanns 8. Buch: 
WW 5, 225). Aus Winckelmann entlehnt Herder auch den Satz, 
der die Eigenart des Baumgartenschen Stils begründen soll: 
'Wie in Erlernung der Musik und [der] Sprachen dort die Töne 
und hier die Silben und Worte scharf und deutlich müssen an- 
gegeben werden, um zur reinen Harmonie und zur flüssigen Aus- 
sprache zu gelangen, ebenso führet die Zeichnung nicht durch 
schwebende, verlorene und leicht angedeutete Züge, sondern durch 
männliehe, obgleich etwas harte und genau begrenzte Umrisse 
zur Wahrheit [und zur Schönheit] der Form' (wörtlich nach 



beobachten können, unparteiisch und doch mit einem 'kleinen Grad von ver- 
liebter Schwärmerei' (2, 260), so klingt das an au Hamanns 'Sokratische Denk- 
würdigkeiten' (Roth 2, 10), wo vorgeschlagen wird, die Philosophie nach den 
Schattierungen der Zeiten. Köpfe, Geschlechter und Völker historisch zu ver- 
folgen, aber 'nicht wie »in Gelehrter oder Weltweiser selbst, sondern als ein 
mttfsiger Zuschauer ihrer olympischen Spiele' (vgl. übrigens WW 4, 32 f.), 
und dazu gehöre 'ein wenig Schwärmerei und Aberglauben'. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



135 



WW 5. 234). Und wiederum mit einer Winckelmannschen 
Wendung findet Herder, 'dafs ihm das B<*zeiehnungsvermögen 
zugewogen wäre und nur ebenso viel, als zur äufsersten 
Richtigkeit nötig war' (vgl. 'der Ausdruck wurde der Schönheit 
gleichsam zugewogeu' WW 4, 138. 7, 195 f.). Wenn Herder vor- 
schlägt, die Ästhetik Baumgartens auf die Einfalt und Mäisigung 
des Aristoteles und Longin zurückzuführen, so meint er, dafs sie 
damit 'Manches an Dunst und überflüssigem Ansatz' ver- 
lieren, aber auch an Wesen und Schönheit gewinnen müsse (vgl. 
dazu in Winckelmanns 'Gedanken': 'Die Körper erhielten durch 
diese Übungen den grofsen und männlichen Kontur, welchen die 
griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und 
überflüssigen Ansatz' WW 1, 10). In dem Torso für Abbt 
wird der griechische und der moderne Frosastil fein gegen ein- 
ander gehalten: der griechische Stil sagt alles deutlich und 
klar, in sprechenden Bildern; der moderne deutet an, spielt mit 
einer reicheren Fülle von Beziehungen und läfst mehr erraten, 
als er ausspricht. Um das zu verdeutlichen, greift Herder nach 
Winckelmannschen Prägungen. Der erste Vorzug des Stils der 
Alten ist 'ihre Einfalt, dafs sie nicht in Bildern reden, sondern 
Bilder geben und jedes so weit ausführen, als sie es brauchen, 
und wenn sie bei diesem Bilde sind, ganz in demselben zu sein 
wissen' (2, 278; vgl. dazu oben S. 113). Diesem griechischen Stile 
'des ganzen einfältigen Ausdrucks' steht der moderne gegenüber 
als 'der Stil der Verkürzungen'. Winckelmann hatte ge- 
warnt, in starken Verkürzungen die Schönheit zu suchen, 'denn 
sie verbergen, was sichtbar sein sollte' (WW 2, 423 f. 4, 233), aber 
nach Herder pafst dieser Stil mehr für unsere Zeit, in der es 
nur wenigen glücken dürfte, 'dieser griechischen Grazie so zu 
opfern 1 ), dafs sie alles, was sie sagen, ganz sagen'. Bei dem 
Stilisten Abbt, bei dessen ' Hogarthschen Schönheitslinien mit 
sanften Wellen, reizenden Schlängelungen, abwechselnder Farbe ' 

») Auch dies ein Lieblingsausdruck Herders, den er bei Winckelmann 
finden konnte (z. B. WW 2, 417. 4, 136. 5. 247 u. ö.). Herders Jugendgedicht 
'Ein Opfer den Gratien heilig', 1764, also vor der Lektüre der Kunstgeschichte 
entstanden, ist von Winckelmauns Grazienbegriff noch nicht berührt, allenfalls 
in den Versen 'die Stirn sei hoch, die Lippen mit Suada begossen, jeder 
Gedanke des Haupts geformt nach hoher Einfalt' ist ein Wiiiekehuannscher 
Klang zu spüren. Der Kommentar E. Naumanns (Festschrift zur lüüjähr. Jubel- 
feier des Kgl. Friedr.- Wilh.- Gymnasinms zu Berlin. 1897. S. 64 ff.) war mir 
nicht zugänglich. 



Digitized by Google 



136 



Arnold E. Berger 



verweilt er mit besonders geschäftiger Liebe, ist es doch eine 
oratio pro domo, in der er seinen eigenen eigensinnigen 'Stil der 
Verkürzungen* zu verteidigen hatte. Wie trefflich Winckelmann 
die Maxime auszuüben verstand, dal's man mit Feuer entwerfen 
und mit Phlegma ausführen müsse, das hatte Herder hoch an 
ihm gerühmt (oben S. 103), gewifs nicht ohne heimlichen Neid, 
denn verräterisch klingen seine Worte an Ilamann (Hoffmann 
S. 31): 'Ich gestehe gern, dafs ich das Phlegma eines homme 
d' esprit noch gar nicht mit dem Enthusiasmus des Genies zu 
verbinden weifs'. Auch in dem Aufsatze über das Schuldrama 
(IIW 2, 311 ff.) treffen wir auf eine Winckelmannsche Spur. Im 
Hinblick auf Lessings 'Philotas' fordert er statt 'Schuldrama' 
oder • Kindeidrama ? das 'Jünglingsdrama': Jünglingscharaktere 
und Jünglingssituationen von Jünglingen vorgestellt. Im Jünglings- 
alter lebt recht die Bühne: hier der Funke zu Leidenschaften 
und die Anlage zu Verwickelungen, hier die freiesten Charaktere, 
hier Gut und Böse wie es ist, hier die Lieblingslaunen der Unart, 
Biegsamkeit und Härte, hier endlich die lebhafteste Teilnehmung. 
Cm Äufserung des Geistes, die Leidenschaft der Charaktere ist 
es zu tun : ' in welchen Lebensaltern wird sie wohnen ? in denen, 
da der Keim sprofset oder ausgebreitet dasteht; in dem, wo 
sich die Knospe auftut oder blühet, im Jüngling- oder im 
Mannesalter. Nun kann das Jünglings- sich nahe an das Knaben- 
alter herabneigen und das Männliche sich nahe ans betagte Alter 
erheben, aber weder der wahre Knabe noch der abge- 
storbne Greis kann als ein solcher das Hauptsujet und eine 
durch sich wirkende Triebfeder des Ganzen werden. Wohl aber 
Mann und Jüngling!' 'Und so wie hier der kriegerische Jüngling, 
Knabe an wildem Feuer und Mann an Heldenmut, kann es so 

nicht in jeder Form der Denkart Jünglinge geben, in denen 

die ganze menschliche Seele in aller Jugendkraft wirkt, der als 
kindischer Mann und als männliches Kind, als ein ausschweifender 
Liebenswürdiger und als ein liebenswürdiger Ausschweifender 
alle unsre Zurückerinnerung wecket, den Rest unsrer 
Jugendkräfte aufruft und uns sympathetisch in die Jugendfreuden 
und kindischen Heldentaten der Morgenröte unsres Lebens 
zaubert?' Herder wäre selbst durch das Lessingsche Trauerspiel 
nicht auf diesen wunderlichen Einfall gekommen, wenn ihn nicht 
Winckelmanns Lehre vom Götterideal darauf geführt hätte, 'jener 
Zustand einer ewigen Jugend und des Frühlings des Lebens, 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



137 



wovon uns selbst das Andenken in späteren Jahren 
fröhlich machen kann'; 'ein schönes jugendliches Gewächs 
erweckete Zärtlichkeit und Liebe, welche die Seele in einen 
süfsen Traum der Entzückung versetzen können' (WW 4, 72). Die 
Darstellung der frühen Kindheit und des greisen Alters wurde 
der bildenden Kunst von Winckelmann wie von Lessing (und 
später von Goethe) verwehrt. Das Ideal männlicher Jugend ver- 
einigt aber nach Winckelmann 'die Stärke vollkommener Jahre 
mit den sanften Formen des schönsten Frühlings der Jugend', 
'es zeigt Stärke, Kühnheit, Feuer und Männlichkeit im Keime, 
gemildert durch den unschuldigen Reiz der Jugend', und selbst 
'die Gottheiten im männlichen Alter werden durch solch eine 
idealische Jugend verjüngt' (WW 4, 80 f. 94 f. 6,305). Sogar die 
Vergleiche vom sprossenden Keim, von der aufblühenden Knospe 
und der Morgenröte sind aus Winckelmann genommen (vgl. 
WW 4, 81. 112. 6, 313). 

Die Gedankenfäden der 'Fragmente' und des 'Torso' spinnen 
sich in die 'Kritischen Wälder' hinüber (vgl. HW 3, VIII f.). 
Der Entwurf eines Wäldchens über Winckelmanns Geschichts- 
werk hat sich erhalten (HW 4, 201 ff.); wir haben einiges daraus 
bereits aus der 2. Auflage der 'Fragmente' kennen gelernt. Wie 
weit kann eine Geschichte 'Lehrgebäude' sein? um diese Frage 
dreht sich die Erörterung zunächst. Herder sucht sie durch eine 
vergleichende Kritik der griechischen Historiker und mit Hinblick 
auf 'den gröfsten Geschichtschreiber unter den Neueren', auf 
Hume zu lösen. Er hat diese Betrachtungen in dem 'Denkmal 
Winckelmanns' (1778) wieder aufgenommen. Eine Geschichts- 
darstellung mufs zugleich Lehrgebäude sein, denn man kann die 
plane Folge der Begebenheiten nicht erzählen, ohne ihr inneres 
Verhältnis, ihren pragmatischen Zusammenhang aufzusuchen. 
Das Band zwischen Ursache und Folge wird aber nicht gesehen, 
sondern geschlossen, und diese Schlufskunst ist nicht mehr Ge- 
schichte, sondern Philosophie. So sind Geschichte und Lehr- 
gebäude eigentlich grundverschieden, sind vollends verschieden, 
wenn eine grofse Reihe Begebenheiten zu Einer Absicht, in 
Einem Plan mit einer gewissen Übereinstimmung der Teile ver- 
knüpft werden. Ein solches Lehrgebäude nach dem Mafsstabe 
Eines Verstandes kann unmöglich in allem einfache und klare 
Geschichte sein. Dann wird der Geschichtsschreiber zum ' Schöpfer, 
Genie, Maler, Künstler'. Haym hat bemerkt (1,225 f.), dafs 



Digitized by Google 



138 



Arnold E. Berger 



Herder hier auf Anregungen Abbts in den Literatlirbriefen, 
Kants und Humes fufst; er hätte hinzufügen dürfen, dafs auch 
Hamann gelegentlich einen ähnlichen Standpunkt geltend macht 
an Stellen wie diese: 'Einen Körper und eine Begebenheit bis 
auf ihre ersten Elemente zergliedern, heifst Gottes unsichtbares 
Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen. Wer 
Mose und den Propheten nicht glaubt, wird daher immer ein 
Dichter wider sein Wissen und Wollen, wie Button über die 
Geschichte der Schöpfung und Montesquieu über die Geschichte 
des römischen' Reichs' (Roth 2, 17). Wenn aber Herder erklärt, 
die Geschichte sei die beste, 'in welcher, was in ihr Geschichte 
und Lehrgebäude sei, als ganz verschiedenartige Dinge zwar 
verbunden, aber auch kenntlich unterschieden und der Grad an- 
gegeben werde, was der Verfasser als Geschichte geschöpfet und 
als Lehrgebäude hinzugedacht habe', so können vor dieser 
Forderung nicht nur Winckelmann und Hume, sondern auch 
seine eigenen geschichtsphilosophischen Arbeiten nicht bestehen. 
Im 'Denkmal' führt er denn auch den Nachweis, dafs 'eine 
Geschichte der Kunst, die ganz und wahr und vollständig sei', 
überhaupt nicht geschrieben werden könne; dafs die Methode 
Winekelmanns. aus den bekannten Nachrichten und Denkmälern 
Unterscheidungszeichen zwischen Völkern, Zeiten, Klassen, Stil- 
arten festzusetzen, danach zu ordnen und zu beschreiben und so 
idealische historische Lehrgebäude zu liefern, die einzig mögliche 
sei. Kleine Fehler in Nebensachen können auch einem Werke 
nicht schaden, welches nicht eigentliche absolute Geschichte ist, 
aber gröfser ist der Schaden, sobald in den Unterscheidungs- 
zeichen, in den National- und Kunstcharakteren gefehlt ist. Und 
in reiferer Ausführung nimmt er hier die oben besprocheneu 
Einwendungen gegen den Griechenstandpunkt Winekelmanns 
wieder auf. Die Griechen sollen sich ihre Kunst selbst erfunden 
haben, einem fremden Volke nichts schuldig sein? Dafs jedes 
Volk sich selbst Kunst erfinden könne, ist zweifellos, aber ist es 
historisch erweislich, dafs sie ein jedes sich erfunden habe? 
Kunst und Kunst ist nicht dasselbe. Klötze, Hölzer, viereckige 
Steine sind keine Kunst und brauchten keine zu werden. Die 
Frage ist also: wer schuf zuerst ein Kunstwerk als solches? 
wer stellte das Mechanische der Kunst fest und gab davon 
Vorbild? wer leitete auf die Idee, die Kunst etwa zum Gottes- 
dienst zu brauchen, und ging also in Gewohnheit und Anwendung 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



139 



derselben vor? Die Erfindung ist immer nur ein Kind der 
äufsersten Notdurft: so lange es irgend angeht, behilft sich 
ein Volk mit Tradition, Erbteil, Nachahmung und Lernen.') 
Jedes Volk kann sich Sprache, kann sich Götter erfinden, 
aber hat es dieselben erfunden? Die griechischen Götter stammen 
nach Herodot aus Ägypten (vgl. WW 1, 170); konnten sie nach 
Griechenland kommen ohne den Begriff der Bilder und Gestalten, 
unter denen sie verehrt wurden? Asieu und Ägypten hatten 
Abgötterei, Kunst und Baukunst, da Griechenland noch in 
Barbarei lag. Der alte griechische Stil ist der ägyptische (gegen 
WW 3, 14. 7, 3). Die ägyptische Kunst ist 4 wahrscheinlich nur 
aus den Mumien entstanden', ihre Statuen sind Bilder der Toten, 
ihre Tempel heilige Katakomben. Das fragmentarische Wäldchen 
führt iu seiner glücklichen Ergänzung Winckelmanns noch weiter 
und bereichert seine Methode mit einem neuen fruchtbaren 
Begriff. Der unleugbare Einflufs des Klimas auf die Bildung 
der Schönheit wird von Winckelmann überschätzt, denn unter 
einerlei Klima gibt es so verschiedene Bildungen, als es Provinzen 
und Menschengeschlechter gibt; es müfste ja dann auch Länder 
der Schönheit ohne Ausnahme geben, die Schönheit könnte auch 
nicht in einem Lande ausarten und allmählich verschwinden u.s. w. 
Die tätig bildende Ursache der Schönheit ist die menschliche 
Seele selbst, die sich im Mutterleibe einen Körper bildet (vgl. 
dazu das platonische Märchen HW 1, 45). Sie wirkt diese Bildung 
durch ein weit näheres Medium als das Klima, durch das Medium 
der Generation. Es gibt Geschlechter, in denen die Schönheit 
erblich ist, ein solches waren die Griechen; und wie sie sich 
ihres edlen Stammes bewufst waren, lehren ihre Mythen und 
ihre Dichter, welche ihre Leibesschönheit von den Göttern ab- 
leiteten. Die Schönheitsgestaltung war ihr Nationaleigentum, 
nach dem sie auch ihre Schönheit«- und Kunstideen bildeten. 
Bei allen Völkern ist das Siegel der Nation, der Gattung, des 
Geschlechts ungleich kenntlicher als das Gepräge des Klimas. 2 ) 
Nichts beeinträchtigt diesen Nationalcharakter mehr als Wanderung 
und Vermischung, die z. B. die nordischen Nationen ihrer Bildung 
beraubten. Winckelmann hätte, statt nach dem griechischen 
Nationalbegriffe zu urteilen, besser gezeigt, wie die Griechen 

') Auch Hamann (Roth 2,2(50) bestreitet den Gemeinplatz , dafs die 
Notdurft 'eine Erfinderin der Bequemlichkeiten und Künste' »ei. 
*) Vgl. dazu HW 8, 48. 



Digitized by Google 



140 



Arnold E. Berger 



'vor allen andern ihre Begriffe der Schönheit genutzt, erhöht 
und gebildet' haben. Den Nachweis, 'warum unter allen Völkern 
kein einziges in Bildung und Ideen der Schönheit Griechenland 
geworden', hat Winckelmann nicht erbracht; alles Verdienst der 
Griechen hält nicht schadlos für die Frage: 'wie vieles von dem 
Ruhme dieses Volkes beruht auf ihrer vorteilhaften Stelle?' wie 
sind sie in der Kette der Mitteilung der Kultur die Gröfsten 
geworden, die sich die Vorwelt zu eigen machten und die Nach- 
welt mit ihrem Vorbild erfüllten? Winckelmann ging mehr auf 
eine historische Metaphysik des Schönen aus den Alten, ab- 
sonderlich den Griechen aus. als auf wirkliche Geschichte. 

Die beiden Wäldchen gegen Klotz (HW 3, 189 ff. 305 ff.) ent- 
halten geistvolle Anwendungen der eben entwickelten Methode 
auf die Geschichte der Literatur und der Münzen. Von Homer 
sind wir durch zwei Jahrtausende getrennt : Juden und Christen, 
Morgenländer, Franzosen, Briten, Italiener und Deutsche haben 
'unser Gehirn von der griechischen Denkart weggebildet'. "Wie 
gelehrt mufs also ein Auge sein, um Homer ganz in der Tracht 
seines Zeitalters zu sehen; wie gelehrt ein Ohr, ihn in der 
Sprache seiner Nation so ganz zu hören, und wie biegsam eine 
Seele, um ihn in seiner griechischen Natur durchaus fühlen zu 
können. Klotz hatte die alberne Behauptung aufgestellt, dafs 
Homer durch Einführung lächerlicher Episoden, wie der des 
Vulkan und Thersites, der Würde des Epos Eintrag getan habe. 
Was aber den Vulkan betrifft, so war das homerische Götter- 
ideal nichts weniger als das Ideal höchstvollkommener, geistiger, 
allerhöchster Wesen. 'Sie haben alle ihren Charakter, der nach 
Körper und Seele, nach Stärke und Denkart, nach Würde und 
Neigungen, nach Ansehen und Verrichtungen so bestimmt ist, 
als die Namen, die sie führen, oder die Partei, die sie im homerischen 
Gedicht nehmen' (HW 3, 207. vgl. 8,37. 50 f.). Herder fufst hier 
auf Winckelmann, welcher festgestellt hatte, dafs die Bildung 
der Gottheiten 'unter allen griechischen Künstlern dergestalt 
allgemein bestimmt war, dafs dieselbe scheint durch ein Gesetz 
vorgeschrieben gewesen zu sein' (WW 4, 135); und diese Typen 
standen so fest, dafs mau die einzelnen Gottheiten schon aus 
dem kleinsten Teile ihres Gesichts zu erkennen vermochte: so 
würde man Apollo schon an der Stirn, Juppiter an den Haaren 
seiner Stirn oder an seinem Bart erkennen können, wenn sich 
Köpfe fänden, von denen weiter nichts erhalten wäre (vgl. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



141 



\VW 4, 96). Herder überträgt diesen formalen Idealtypus in die 
Poesie und folgert: 'Wie bei den alten Künstlern die Bildung 
jedes Gottes ihr eigentliches Ideal, ihre Gestalt bis auf Bart 
und Haupthaar hatte, so sind auch im Homer ihre Charaktere 
gleichsam eine Reihe von eigentümlichen Brustbildern, von 
Wesen, wo jedes aus sich, wo keins wie ein drittes handeln 
mufs\ 'Man streiche in der ganzen Iliade alle Namen der 
Götter und Göttinnen aus; ich will jedes von ihnen aus 
ihren Reden und Handlungen erraten; und es kann aus 
Homer eine solche Galerie von dichterischen Idealen seiner 
Götter erbauet werden, als Winckelmann seine Ideale derselben 
aus der Kunst aufstellet'. Von diesem Standpunkt aus sucht 
Herder die Szenen des Vulkan zu rechtfertigen und zu zeigen, 
dafs auch die Szene des Thersites durchaus an ihrem rechten 
Ort stehe und in ihrem Kolorit national griechisch sei. Der 
echte Kunstrichter braucht eben 'mehr als des Nikomachus 
Auge, um Helena anzuschauen' (HW 3, 233; vgl. oben S. 100). 
Nach Winckelmann (WW 4, 239) macht Herder die Bemerkung, 
dafs den Griechen das Pferd als ein sehr würdiges Geschöpf 
und Pferdeverrichtungen für sehr edle Hantierungen galten, uns 
aber nicht mehr: wir können demnach unseren Gott nicht mehr 
als Rosselenker bilden, wie die Griechen den Juppiter (3, 254). 
Der Satz 'wenn Allegorie Wahrheit einkleiden soll, damit sie 
mehr einnehme und stärkeren Eindruck mache, so mufs sie die- 
selbe nicht verdecken und den Augen wegstehlen' (3, 205) beruht 
auf Winckelmanns 'Gedanken' (WW 1, 62). Auch das charak- 
teristische Winckelmannsche Bild vom 'fliegenden Jucken in der 
Haut' bringt Herder hier wieder (3,268; vgl. oben S. 100); er 
kommt noch einmal mit ausdrücklicher Beziehung auf Winckel- 
mann darauf zurück in der Schrift 'Vom Erkennen und Em- 
pfinden'. Klotz hatte vorgeschlagen, an Stelle der Mythologie 
Allegorieen einzuführen, Herder aber verwirft jetzt diesen Vor- 
schlag, den er früher (HW 1, 451) selbst gemacht hatte. — Auch 
in der ' Schamhaf tigkeit ' hielten die Griechen ' eine gewisse schöne 
Mitte zwischen Morgenländern und Römern. Die asiatische Hitze, 
in etwas abgekühlt durch die europäische Mäfsigkeit, bestimmte 
den mittleren Ton einer warmen Liebe, einer sanften Wohllust, 
der Materien dieser Art bei ihnen durchgängig zu charakterisieren 
scheint' (HW 3, 290; vgl. WW 3, 58 ff. 4, 511). Bei ihnen bildete 
sich, wie Winckelmann gezeigt hatte, 'eine eigene Sittlichkeit 



Digitized by Google 



142 



Arnold E. Berger 



des Nackten' aus (298). Die Auslegung einer Horazischen Ode 
nach Seele, dichterischer Absicht, individuellem Ton. Harmonie, 
in der 'jeder Gedanke von seiner Stelle Stärke empfängt' (3, 330), 
verfährt durchaus nach dem Muster, welches Winckelmann für 
die Auslegung von Kunstwerken aufgestellt hatte (vgl. oben 
S. 119 f.). Auch in der vergleichenden Geschichte des 'Münz- 
geschmacks' begegnen uns Anknüpfungen an Winckelmann: 
,Das griechische Auge suchte Schönheit, eine griechische Seele 
Weisheit in Schönheit, und so ward auch ihre Münze der Schön- 
heit und der schönen Weisheit, der Allegorie, gewidmet' (3,390; 
vgl. WW 1, 32 u. ö., über die Münzen z. B. 4, 133 f. 5, 211 ff.). 
Kultur, Kunst und Weisheit überkamen sie von den Ägyptern, 
von denen sie auch die reichste, bedeutendste Bildersprache, die 
auf der Welt gewesen, erbten. Es fehlt uns noch 'eine wahre 
Geschichte der Allegorie, die das insonderheit zeigt, wie aus 
der bedeutungsvollen Bilderlehre Ägyptens die schöne Ikonologie 
Griechenlands zum Teil geworden' (397). Wie zu solchem Zweck 
Winckelmanns Buch über die Allegorie genutzt werden könnte, 
wird von Herder anziehend entwickelt (411 ff.). 1 ) 

Der mit der Untersuchung über das Thema 'Geschichte 
und Lehrgebäude' gewonnene Standpunkt findet eine weitere, 
höchst lehrreiche Anwendung in dem 'historischen Spaziergang' 
über die Keichsgeschichte (3. 402 ff.), in dem aber unmittelbare 
Beziehungen auf Winckelmann ebenso wenig zu erkennen sind, 
wie etwa in der späteren Abhandlung über die deutschen Bischöfe 
(HW 5, 070 ff.). Überhaupt ergeben die Schriften der nächsten 
Jahre für unseren Zweck nur noch weniges. In der Preisschrift 
von den Ursachen des gesunkenen Geschmacks (1775) und der 
anderen vom Einflufs der Regierung auf die Wissenschaften 
(1780) treten unter den geschichtlichen Lebensbedingungen die 
Freiheit, der Gemeingeist, die Öffentlichkeit des Lebens mit 
ähnlichem Nachdruck hervor, wie bei Winckelmann; wir hören, 
,dafs die kühnsten, göttlichsten Gedanken des menschlichen 
Geistes in Freistaaten empfangen, die schönsten Entwürfe und 
Werke in Freistaaten vollendet worden'. In der 'Archäologie 
des Morgenlandes' ruft Herder vor dem von Longin einst be- 
wunderten Akte der Lichtschöpfung aus : ' Welche Stille ! welche 



l ) Einige direkte Winckelmannzitate sind in den Anmerkungen zn 
HW 3 bereits ermittelt, vgl. zu S. 3ö3. 374. 478. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



143 



erhabene Gröfse!' und gleich darauf noch einmal: 'welche stille 
edle Gröfse!' (HW 6. 7). Er bewundert die 'stille Gröfse', mit 
der der Schöpfer schafft (8), und bei der Schöpfung der Himmels- 
lichter hat er wieder das Wort bereit: '0 wer in dieser Ein- 
falt nicht Gröfse fühlt!' (9). Die von Herder entdeckte Ur- 
hieroglyphe ist übrigens eine vollkommene Allegorie nach dem 
Sinne Winckelmanns; verlangte dieser doch von einer solchen 
drei Eigenschaften: Einfalt, die aus ihr fliefsende Deutlichkeit, 
und Lieblichkeit (WW 2, 484 f. 1, 186 f.), und 'wo ist eine kind- 
lichere Einfalt und lieblichere Vaterstimme als in diesem 
Stück!' ruft Herder aus (HW 6, 328). Das herrliche Buch 'vom 
Geist der Ebräischen Poesie' erinnert im Titel an Montesquieu, 
in Methode und Behandlung an Winckelmanns Geschichtswerk; 
man braucht nur den Entwurf des Buches nach seiner ersten 
Ankündigung (11, 215) mit Winckelmanns Vorrede zu vergleichen. 
Wie Winckelmann durch sein historisches 'Lehrgebäude' das 
innerste Wesen der Kunst aufschliefsen wollte, so läfst Herder 
den prophetischen Geist der Bibel aus seiner Zeit heraus vor 
unseren Augen entstehen; und wie Winckelmann wird auch 
Herder hier unwillkürlich zum Dichter: er gerät tiefer denn je 
in jenes seherhafte Pathos, jene gehaltene Feierlichkeit der 
Sprache, mit der sein grofser Vorgänger seine Geheimnisse zu 
verkünden pflegte. 1 ) Das Schriftchen 'Auch eine Philosophie' 
(5, 475 ff.) folgt dem Faden der Entwicklung aus der Kindheit 
des Menschengeschlechts, dem Zeitalter der Patriarchen, in sein 
Knabenalter, die ägyptische Periode, wobei der Verfasser die 
Polemik gegen Winckelmann aus der 2. Auflage der 'Fragmente' 
in Kürze wiederholt. Er schildert das Nationalleben der Phönizier, 
er borgt die warmen Farben der W r inckelmannschen Palette 
zu einer mit glücklicher Hand leicht hingeworfenen Skizze 
griechischer Schönheitsbildung und versucht auch hier in Er- 
gänzung seines Vorgängers die Verbindungsfäden mit dem Ganzen 
der Weltgeschichte aufzudecken. Die Kömerzeit ist ihm das 
Mannesalter der Menschheit Überall ist sein erstes Axiom, dafs 
nichts sich ausbilde, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt und 
Schicksal Anlafs gibt. Jede menschliche Vollkommenheit ist 
national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. 



') Haym (Herder 2, 171 f.) hat den Zusammenhang mit Winckelmann 
näher begründet. 



144 



Arnold E. Berger 



Überall zieht die menschliche Natur soviel Glückseligkeit an, als 
sie kann, aber niemals ist sie Gefäfs einer absoluten unwandel- 
baren Glückseligkeit (505; vgl. Winckelmann 4,52: 'Vollkommen- 
heit, für welche die Menschheit kein fähiges Gefäfs sein kann).') 
Alles ist Zweck und Mittel zugleich. 

Seit dem Jahre 1709 treten die unmittelbaren Einwirkungen 
Winckehnanns in den Schriften Herders immer mehr zurück. 
Die alten Excerptenbücher, die bei seinen ersten Arbeiten wohl 
meist aufgeschlagen neben ihm lagen, waren nunmehr ausgenutzt 
bestimmte Anknüpfungen, direkte Entlehnungen im einzelnen 
waren also fortan so gut wie ausgeschlossen. Hatte sich doch 
das beste, was ihm Winckelmann geboten hatte, fast schon in 
sein eigen Fleisch und Blut verwandelt; hatte er doch, seitdem 
ihm die Bedeutung des genetischen Gedankens aufgegangen war, 
zu Winckelmann ein Verhältnis gewonnen, welches weniger dem 
des lernbegierigen Schülers, als dem des Nacheiferers, des er- 
gänzenden Berichtigers und meisternden Kritikers glich, welches 
ihn im Besitze gröfserer und selbsterworbener Reichtümer jeden- 
falls des Bedürfnisses überhob, von Jenem noch weiter zu borgen. 
Freilich wo ihn sein Weg nach Griechenland führt, da wird er 
sich immer wieder der unvergleichlichen Leuchte bedienen, die 
Winckelmann vorangetragen ; und wo er ihm auf seinem eigensten 
Gebiete, auf dem der bildenden Kunst, begegnet, da wird er 
immer der begeisterte Jünger bleiben, dem das Schönheitsideal 
des Meisters, 'edle Einfalt und stille Gröfse', so tief sich ins 
Herz geprägt hatte, dafs es ihn nicht losliefs, bis er die psycho- 
logisch-genetische Formel dafür gefunden hatte. Auf diese Ge- 
dankenreihen müssen wir schliesslich noch einen Blick werfen, 
ohne sie an dieser Stelle irgend erschöpfen zu können. 

'Homes Grundsätze der Kritik mit der Psychologie der 
Deutschen vermehrt und alsdann unter das Volk zurückgeführt, 
das in seinen Lehrsätzen des Schönen, es sei in Kunst oder 
Wissenschaft, der Naturempfindung noch am treuesten blieb, 
nach der Naturempfindung dieses Volkes hellenisiert : das wäre 
Ästhetik ! ' So hatte Herder in der Denkschrift auf Baumgarten 
das Programm der Ästhetik formuliert (HW 32, 192). Eine ge- 
schichtliche Darstellung der Herderschen Ästhetik, wie ich sie 



') Vgl. 'weil das menschliche Gefäfs keiner Vollkommenheit und also 
auch keines Zeicheiis derselben fähig ist' HW 8, 65. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



145 



vorbereitet habe, kann hier nicht mitgeteilt werden, nur den 
Anteil Winckelmanns an Herders bedeutungsvollen Arbeiten zu 
dem eben formulierten Thema kann ich andeuten, werde mich 
also auf die Ästhetik der Skulptur beschränken müssen. Was 
an Material dazu vorliegt, sind das erste und das vierte kritische 
Wäldchen sowie die Gedanken zur 'Plastik'. 

Das Wäldchen über Lessings 'Laokoon' (HW 3, 1 ff.) beginnt 
mit einer feinsinnigen Parallele Lessings und Winckelmanns in 
ihrem schriftstellerischen Charakter. Dal's unfähige Kunstrichter 
Winckelmann herabzusetzen gewagt, dafs sie sich dafür sogar 
auf Lessing berufen zu dürfen geglaubt hatten, wird für Herder 
der Anlafs zu gerechterer Abschätzung und Abgrenzung der 
besonderen Verdienste beider. Wie Herder bei Winckelmann 
gelesen hatte: 'nach des Demokritus Vorgeben sollen wir die 
Götter bitten, dal's uns nur glückliche Bilder vorkommen, und 
dergleichen Bilder sind der Alten ihre' (WW 1, 150), so Ist auch 
für ihn Lessings Laokoon 'eine der angenehmen Erscheinungen 
gewesen, um welche Demokritus die Götter bat als um die 
Seligkeit seines Lebens'. 'Wie an den Ufern eines Gedanken- 
meeres, wo auf der Höhe desselben der Blick sich in den Wolken 
verliert', so steht er an Winckelmanns Schriften und 'über- 
schaut' (3, 11), und dabei klingt wohl der Winckelmannsche Satz 
in ihm nach: 'so wie der Anblick der unermefslichen Fläche des 
Meeres und das Schlagen der stolzen Wellen an den Klippen des 
Strandes unsern Blick ausdehnet und den Geist über niedrige 
Vorwürfe hinwegsetzet, so konnte im Angesicht so grofser Dinge 
und Menschen nicht unedel gedacht werden' (WW 4, 19; vgl. 
3, XXIII). Herder verhehlt auch hier seine uns schon bekannten 
Einwendungen gegen Winckelmanns einseitigen Griechenstand- 
punkt nicht, aber im ganzen steht er gegen Lessing auf Winckel- 
manns Seite, wie von Haym (Herder 1. 233 ff.) längst nach- 
gewiesen ist, dessen Ausführungen keiner Ergänzung bedürfen. 
Die Liebe für Winckelmann äufsert sich am Ende des Schriftchens 
noch einmal in einer rührenden Totenklage um den zu früh Ent- 
rissenen. 

Mit der Neubegründung der Ästhetik, wie sie Herder ge- 
fordert hatte, wird im vierten Wäldchen (HW 4, 1 ff.) Ernst 
gemacht: aus Homes Grundsätzen entlehnt er die Methode, die 
er 'mit der Psychologie der Deutschen vermehrt' (d. h. mit seiner 
aus Leibniz gewonnenen Grundlehre von der stufenförmig sich 

10 



Digitized by Google 



146 



Arnold E. Berger 



entwickelnden Einheit des geistigen Lebens), die er schliefslich 
'unter die Griechen zurückführt, hellenisiert ', d. h. — in der 
Plastik — zum Ideale Winckelmanns entwickelt. 

Die scharfsinnige polemische Auseinandersetzung mit der 
Riedeischen Ästhetik, die den ersten Abschnitt füllt, braucht 
uns hier nicht zu beschäftigen. In reiferer Form sind die gleichen 
Grundbegriffe neun Jahre später in der Schrift 'Vom Erkennen 
und Empfinden' entwickelt worden. 1 ) Auch für den zweiten 
Abschnitt, in dem Herder eine sensualistische Begründung der 
Ästhetik versucht, verweise ich auf Hayras treffliche Würdigung, 
um mich auf die Frage zu beschränken, inwiefern diese neue 
Methode der Ästhetik von Winckelmann abhängig ist. Home 
hatte das 2. Kapitel seines Werkes mit der Bemerkung begonnen: 
'Die schönen Künste sind alle bestimmt, dem Ohr und Auge 
Vergnügen zu geben; sie lassen sich niemals herab, die andern 
Sinne zu ergötzen.' Diesem Satz widerspricht Herder: 'Drei 
Hauptsinne gibt es, mindestens für die Ästhetik drei, ob es gleich 
gewöhnlich ist, ihr nur zwei, das Auge und Ohr, einzuräumen. 
Jeder von diesen Sinnen hat eigentümliche erste Begriffe, die er 
liefert und die den andern blofs appropriiert werden ' (4, 54). 
'Der dritte Sinn ist am wenigsten untersucht und sollte vielleicht 
der erste sein, untersucht zu werden: das Gefühl. Wir haben 
ihn unter den Namen der unfeinern Sinne verstofsen, wir bilden 
ihn am wenigsten aus, weil uns Gesicht und Gehör, leichtere 
und der Seele nähere Sinne, von ihm abhalten und uns die 
Mühe erleichtern, durch ihn Begriffe zu bekommen; wir haben 
ihn von den Künsten des Schönen ganz ausgeschlossen und ihn 
verdammet, uns nichts als unverstandne Metaphern zu liefern, 
da doch die Ästhetik, ihrem Namen zufolge, eben die Philo- 
sophie des Gefühls sein sollte' (48). Schon hier springt die 
Unklarheit des Gesichtspunkts hervor, die auch in den weiteren 
Ausführungen nirgends überwunden wird: Herder spricht ganz 
im Sinne der älteren Physiologie vom Tastsinn als dem fühlenden 
Sinn, aber die temperamentvolle Darlegung gleitet fortwährend 
von da in das Gebiet des 'Gefühls' hinüber; er fafst die Sache 
durchaus naturwissenschaftlich an, empirisch und experimentell, 



') Es scheint noch nicht bemerkt worden zu sein, dafs das groise Citat 
HW 4, 39 f. ans Diderots Abhandlung von der dramatischen Dichtkunst ent- 
lehnt ist (vgl. Leasings Werke, hrsg. von B. Boxberger 8, 464). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



147 



aber unversehens tiberkommt ihn der schöne Eifer, der die auf- 
steigende Generation damals beherrschte: er wird zum beredten 
Anwalt der 'niederen Seelenkräfte \ Die Brücke zwischen Tast- 
sinn und Gefühl im psychologischen Sinne wird dadurch her- 
gestellt, dafs allen Sinnen 'Gefühl zu Grunde liegt' und der 
Tastsinn als der älteste und treueste aller Sinne angesehen wird. 

Das Gesicht kann uns nach Herder nichts zeigen als 
Flächen und Farben. Alles was körperlicher Raum, sphärischer 
Winkel, solide Form ist, begreifen wir nur durch das Gefühl. 
Aus Optik und Logik getraute sich Herder diesen Satz zu be- 
weisen, wenn nicht drei Beispiele redender wären, als alle 
Demonstrationen: der Blindgeborene Diderots, der blinde Saunder- 
son, der geheilte Blindgeborene Cheseldens. Das Gefühl ist das 
Organ aller Empfindung anderer Körper: wie sich die Fläche 
zum Körper verhält, so das Gesicht zum Gefühl, und es ist nur 
eine gewohnheitsmäfsige Verkürzung, wenn wir Körper als 
Brächen sehen und das durch das Gesicht zu erkennen glauben, 
was wir in unserer Kindheit nur durch das Gefühl sehr langsam 
lernten. Der Sinn des Gefühls, der so sehr vom Gesicht ver- 
kürzt und verdrängt ist, mufs wieder in seine alten Rechte 
treten, damit man zum sicheren Begriffe körperlicher Wahrheit 
komme. 

Herder ist in diesen Ausführungen von zahlreichen Vor- 
gängern abhängig, aber neben den theoretischen Vorgängern ist 
ihm Winckelmann gleichsam als Paradigma wichtig geworden. 
Übrigens sind auch Winckelmanns Schriften nicht ganz ohne 
theoretische Beobachtungen über Sinnesorgane; seine oft ge- 
standene Sehnsucht nach tieferer Naturerkenntnis führte ihn 
darauf hin. Er achtete auf die Verschiedenheiten der Zungen- 
nerven und der Sprachwerkzeuge bei den einzelnen Völkern 
(z.B. WW 3, 47 ff.), auf den Einflufs der Ernährung, überhaupt 
auf die Abhängigkeit der Bildung der Organe von den Ein- 
wirkungen der Aufsenwelt, er erkannte es als einen Vorzug der 
Griechen, dafs 1 ihre Sinne durch schnelle und empfindliche Nerven 
in ein feingewebtes Gehirn wirkten ' (3, 59), und stellte die Ver- 
mutung auf, 'dafs bei Künstlern, sowie bei allen Menschen, der 
Begriff der Schönheit dem Gewebe und der Wirkung der Ge- 
sichtsnerven gemäfs sei, so wie man aus dem unvollkommenen 
und vielmals unrichtigen Kolorit der Maler zum Teil auf eine 
solche Vorstellung und Abbildung der Farben in ihrem Auge 

10* 



Digitized by Google 



118 



Arnold E. Bergfir 



schliefsen mufs ' (4, 42 f.). Aber nicht nur in Nachahmung der 
wahren Farbe ihrer Vorwürfe sind die Künstler verschieden, 
auch in der Bildung des Schönen, weil ihr Auge ebenso wenig 
wie bei üngelehrten immer richtig ist. ' Es ist aber Richtigkeit 
des Auges eine Gabe, welche vielen mangelt, wie ein feines Gehör 
und ein empfindlicher Geruch. Unser Auge wird vielmals durch 
die Optik und nicht selten durch sich selbst betrogen' (2,891). 
Über den Zusammenhang von Gesichts- und Tastsinn finden sich 
allerdings bei Winckelmann nur dürftige Andeutungen. ' Ist die 
Anlage zur Richtigkeit (des Auges) vorhanden, so wird dieselbe 
durch die Übung gewifs: der Herr Kardinal Alexander Albani 
ist imstande, blofs durch Tasten und Fühlen vieler Münzen zu 
sagen, welchen Kaiser dieselben vorstellen' (2,304).') 'Derjenige, 
welcher eine bräunliche Schönheit einer schönen weifsen vorzieht, 
ist deswegen nicht zu tadeln, ja man könnte ihm beipflichten, 
wenn derselbe weniger durch das Gesicht als durch das 
Gefühl gereizt wird. Denn eine bräunliche Schönheit kann 
vielleicht eine sanftere Haut als eine weifse schöne Person zu 
haben scheinen, da die weifse Haut mehr Lichtstrahlen als eine 
bräunliche zurückschickt und also enger, dichter und folglich 
stärker als diese sein mufs. Ks würde daher eine bräunliche 
Haut durchsichtiger zu achten sein, weil diese Farbe, wenn sie 
natürlich ist, von dem Durchscheinen des Bluts verursacht wird, 
und aus eben diesem Grunde färbet sich eine bräunliche Haut 
in der Sonne eher, als eine weifse; ja eben daher ist die Haut 
der Mohren weit sanfter anzufühlen, als die uusrige.' 
(WW 4, 39 f.) 

Auf eine 'Bildhauerkunst fürs Gefühl' deutet aber Winckel- 
mann gewissermafsen schon voraus in den Briefen über die 
herkulanischen Entdeckungen, wo er bei Gelegenheit des Herkules- 
torso sagt: 'Künstler befühlen diesen Torso, lassen ihre Hand 
auf den schönen schlangenförmigen Windungen sanft 
hingleiten und rufen aus ,oh que cela est beau!' Ich habe 
aber noch von niemandem das Warum sagen hören.' (2, 277). 
Das Warum findet Winckelmann allerdings in der Tatsache, dal's 
dieser Körper blofs Geist zu sein scheine, von allem frei, was 
das Bedürfnis der menschlichen Schwachheit erfordert, ohne 



l ) Herder eignet sich diene Bemerkung an, wenn er von 'dem feinen 
Griff eines Albani' spricht (HW 4,73). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



149 



Adern und Arterien, unabhängig scheinbar von Nahrung, Ver- 
dauung und Absonderung des Blutes, 'da ein ätherischer und 
belebender Geist in denselben eingegossen ist, der, keiner Ver- 
änderung unterworfen, sich tiberall gleich verbreitet und eigentlich 
so zu sagen die Gestalt bildet, deren Umrifs blofs ein Gefäfs 
dieses Geistes zu sein scheint.' Wie aber Herder diese Be- 
obachtung in seiner Weise zu verwerten weifs, wird sich gleich 
zeigen. Wie eine Vorahnung der Herderschen Theorie gemahnt 
es vollends, wenn Winckelraann einmal bemerkt: 'Das wahre 
Gefühl des Schönen gleicht einem flüssigen Gipse, welcher 
über den Kopf des Apollo gegossen wird und denselben in allen 
Teilen berühret und umgibt' (2.391) oder: 'in Apollo, dem 
Bilde der schönsten Gottheit, sind die Muskeln gelinde und wie 
ein geschmolzen Glas in kaum sichtbare Wellen geblasen und 
werden mehr dem Gefühl als dem Gesichte offenbar.' 
(4, 106). 

Solche Stellen würden sich vermehren lassen, indessen hat 
uns Herder über den Zusammenhang seiner 'Bildhauerkunst 
fürs Gefühl' mit den Beschreibungen Winckelmanns selbst das 
sprechendste Zeugnis hinterlassen: 'Wenn seit Plato, wie Winckel- 
mann sagt, vom Schönen nicht mit der Empfindung desselben 
geschrieben worden, so sind die Schriften desselben nicht nach 
einem flüchtigen Übersehen, sondern gleichsam im lebendigen 
Händegefühl der Bildschönheiten verfafst worden' ') (H\V 4, 89). 
Unter diesem Gesichtspunkte sind durchaus die 'Bemerkungen 
bei Winckelmanns Gedanken u. s. w.' geschrieben, die aus Herders 
Rigaer Notatenheften in der Suphanschen Ausgabe (8, 105—108) 
mitgeteilt sind. 

Auf der Intuition des Gefühls baute sich ja Winckelmanns 
Kunstideal auf, und sein Gefühl in seiner anschmiegenden Liebes- 
wärme nahm sich bisweilen den Tastsinn gleichsam zum Organ, 
um die sanften Schwingungen der Modellierung des Nackten mit 
der Empfindung eines entzückten Liebhabers zu geniefsen, der 
die weichen Linien eines geliebten Körpers umtastet und in der 
wollüstigen Melodie der Konturen wie in einem süfsen Rausche 



•) Dazu sei erinnert an eine ähnliche Bemerkung von Sturz (Schriften, 
1786. 1,37) über Winckelraann: 'er untersucht oder nmtastet vielmehr 
irgend ein Kunstwerk mit dem Flammenblick, welcher in Apollos Nase Götter- 
verachtung und den Herkules im Torso fand.* 



Digitized by Google 



150 



Arnold E. Berger 



schwelgt, In dem Winckelmannschen Ideal, welches Herder im 
ersten kritischen Wäldchen mit dem Eigensinn eines dunklen, 
tiefen Gefühls gegen Lessing ausgespielt hatte, lag für den 
leidenschaftlichen Anhänger der genetischen Forschungsmethode 
eine Art von Nötigung, zu seinen psychologischen Voraussetzungen 
hinabzusteigen, um die Unabweislichkeit, mit der es sich seiner 
Stimmung bemächtigt hatte, aus seinem sinnlichen Ursprünge 
begreifen zu lernen. Es ist höchst anziehend zu sehen, wie ihm 
Winckelmann selbst bei dieser Ermittelung als Versuchsobjekt 
dient: 

'Bemerket jenen stillen, tiefsinnigen Betrachter am vatika- 
nischen Apollo: er scheint auf einem ewigen Punkte zu stehen, 
und nichts ist weniger; er nimmt sich eben so viel Gesichts- 
punkte als er kann, und verändert jeden in jedem Augenblick, 
um sich gleichsam durchaus keine scharfe, bestimmte Fläche zu 
geben. Zu diesem Zweck gleitet er nur in der Umfläche des 
Körpers sanft umhin, verändert seine Stellung, geht und kommt 
wieder; er folgt der in sich selbst umherlaufenden Linie, die 
einen Körper und die hier mit ihren sanften Abfällen das Schöne 
des Körpers bildet Er gibt sich alle Mühe, jeden Absatz, jeden 
Bruch, jedes Flächenartige zu zerstören und so viel als möglich 
das viel winkelichte körperliche Polygon, das ihm sein Auge so 
zerstückte, in die schöne Ellipse wiederherzustellen, die als solche 
nur für sein Gefühl gleichsam hervorgeblasen >) war. 
Wie? hatte er nicht also jeden Augenblick nötig, die Beschaffen- 
heit des Gegenstandes gleichsam zu zerstören, die eben das 
Wesen der Okularvorstellung ist, Fläche, Farbe, Winkel des 
Anscheins? und mufste er sich nicht mit dem Auge jeden Augen- 
blick einen Sinn geben, den dies nur sehr unvollkommen ersetzte, 
das Gefühl? und war also der Sinn, den er anwandte, anders 
als eine Verkürzung des ursprünglichen Sinnes, eine abbrevierte 
Formel der Operationen des Gefühls? Und so beweiset er selbst, 
indem er sie he t, dafs er, um den Effekt der Kunst zu erfahren, 
die blofs durch Körper wirket, nichts als fühlen wollte und 



>) Vgl. dazu die oben S. 149 angeführte Stelle WW 4, 106; ferner die 
Stelle Uber den jugendlichen Bacchus: 'Die Formen seiner Glieder sind sanft 
und flüssig, wie mit einem gelinden Hauche geblasen, fast ohne An- 
deutung der Knöchel und der Knorpel an den Knieen' (WW 4, 89; ähnlich 
5, 240). 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



151 



fühlte. Nun setzet, er habe diesen Effekt erfahren; setzet, dafs 
sein tausendfach verändertes Umherschauen und gleichsam sicht- 
liches Umfühlen der Bildsäule seine Einbildungskraft in den 
Stand gesetzt, das ganze Schöne in Form und Bildung sich 
innerlich so vollkommen körperlich zu gedenken, dafs das wenige 
blofs Flächenartige gleichsam verschwindet und sie das Polygon 
wirklich in der ganzen soliden Ellipse sich vorstelle; die Illusion 
ist geschehen: was blofs ein Kompositum kleiner gerader Flächen 
war, ist ein schöner fühlbarer Körper geworden — sehet, nun 
empöret sich die Phantasie und spricht, als ob sie nichts als 
fühlte. Sie spricht von sanfter Fülle, von jenem Weichen, das 
alter Griechen leichte Hand, von Grazien geführt, mit hartem 
Stein verband, von prächtiger Wölbung, von schöner Rotundität, 
von rundlicher Erhobenheit, von dem sich regenden und gleich- 
sam unter der fühlenden Hand belebten Marmor. Warum 
spricht sie lauter Gefühle? und warum sind diese Gefühle, wenn 
sie nicht übertrieben sind, keine Metaphern? Sie sind Erfah- 
rungen. Das Auge, das sie sammelte, war nicht Auge mehr, 
das Schilderung auf einer Fläche bekam; es ward Hand, der 
Sonnenstrahl ward Finger, die Einbildungskraft ward unmittel- 
bare Betastung: die bemerkten Eigenschaften sind lauter Ge- 
fühle' (4, 65 f.). 

So sucht sich Herder den psychologischen Vorgang zu 
erklären, aus dem die Beschreibungen Winckelmanns hervor- 
gewachsen sind, und mit diesem Vorgang zugleich die tiefe 
Wirkung jener durchaus ' gefühlten ' Beschreibungen. Seine Ent- 
deckung wurde höchst folgenreich für die Jugend der Genieepoche: 
Sehen ist der 'kälteste Sinn', er weifs nichts von Form und 
Gestalt; die Begriffe von diesen wurden zuerst ausschliefslich 
durch den Gefühlssinn erworben; in der Kunst wird aber 
jenes ursprüngliche Verhältnis wiederhergestellt, das 
Auge setzt sich an die Stelle des Gefühls und bemüht 
sich zu sehen, als ob man tastete und griffe. Wieder- 
hergestellt findet Herder dies ursprüngliche Verhältnis auch in 
den Beschreibungen Winckelmanns. Hören wir ihn weiter: 

'Und eben daher erkläre ich auch die Begeisterungen der 
Liebhaber, die in dieser Kunst gewifs die andern übertreffen. 
Wenn der Kenner der Malerei sein Gemälde beschreibt, so hat 
er Fläche vor sich: er setzt ihre Figuren in ihrer Anlage und 
Gegenwart auseinander, er schildert, was er vor sich siehet. 



Digitized by Google 



152 



Arnold E. Berger 



Lasset aber den Liebhaber des Apollo im Belvedere und des 
Torso und der Niobe beschreiben: er hat nicht Fläche, er hat 
Körper, den er fühlt, zu schildern oder vielmehr nicht zu schildern, 
sondern andern fühlbar zu machen'). Da tritt seine fühlende 
Einbildung in die Stelle des kältern, aus einander setzenden 
Auges, da fühlet sie den Herkules immer in seinem ganzen Körper 
und diesen Körper in allen seinen Taten. Sie fühlet 2 ) in den 
mächtigen Umrissen seines Leibes die Kraft des Riesenbezwingers, 
und in den sanften Zügen dieser Umrisse den leichten Kämpfer 
mit dem Achelous; sie fühlet die grofse prächtige Brust, die den 
Geryon erdrückte, und die starke, unwankbare Hüfte, die bis 
an die Grenzen der Welt gesehreitet, und die Araie, die den 
Löwen erwürget, und die unermüdbaren Beine und den ganzen 
Körper, der in den Annen der ewigen Jugend Unsterblichkeit 
genofs. Die fühlende Einbildungskraft hat hier kein Mals, keine 
Schranken. Sie hat sich gleichsam die Augen geblendet, um 
nicht blofs eine tote Fläche zu schildern; sie siehet nichts, was 
sie vor sich hat, sondern tastet wie in der Finsternis und 
wird begeistert von dem Körper, den sie tastet, und durchzeucht 
mit ihm Himmel und Hölle und die Enden der Erde und fühlet 
von neuem und spricht alles, dessen sie ihr Gefühl erinnert. 
Tote Maleraugen, verarget ihr nicht, dafs sie nicht biofs aus 
einander setzt und pinselt und klecket und, wie ihr, betrachtet 
Kennt ihr etwas unerschöpflichers und tieferes als Gefühl? etwas 
begeisternders als das Solidum seines schönen Gegenstandes? 
und etwas lebhafteres als die von ihm erfüllte Einbildungskraft? 
Wie die Fläche zum Körper, so verhält sich eure Schilderung zu 
solcher Beschreibung.' 

Feuriger und geistreicher ist das ganz neue und eigenartige 
der Winckelmannschen Beschreibungen nirgends gewürdigt und 
bis in seine feinsten psychischen Voraussetzungen verfolgt worden: 
diese Auslegung gehört zu den bezeichnendsten Urkunden der 
Genieepoche. 

Aus der totalen Verschiedenheit der sensualistischen Grund- 
lagen ergeben sich nun nach Herder durchgreifende Unterschiede 
zwischen Plastik und Malerei. Die Malerei arbeitet für einen 

•) Ähnlich Frau v. Stael über Winckelmann : 'sa description produit la 
m£rae Sensation que la statue. 

s ) Zum Folgenden vgl. Winckelmanns Beschreibung de« Herkulestorso 
(WW 1). 



Digitizetfby Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



153 



Gesichtspunkt, aus dem und für den sie alles erfindet, verteilt, 
zeichnet, färbt. Die Skulptur hat so viele Gesichtspunkte, für 
die sie arbeiten mufs, als es Radiuspunkte in dem Zirkel gibt, 
den ich um ihr Werk ziehe, und aus deren jedem ichs betrachten 
kann. Aus keinem übersehe ich das Werk ganz, jeder zeigt mir 
nur eine kleine Fläche und, wenn ich den ganzen Umkreis durch 
bin, noch nichts als ein Polygon von vielen kleinen Seiten und 
Winkeln. Daraus macht erst die Einbildungskraft ein Ganzes, 
und dies körperliche Ganze ist also nicht ein Geschöpf meines 
Auges, sondern meiner Seele. 'Es gibt also durchaus keine Bild- 
hauerei für das Auge, nicht physisch, nicht ästhetisch. Nicht 
physisch, weil das Auge keinen Körper als Körper sehen kann; 
nicht ästhetisch, weil, wenn dies körperliche Ganze in der Bild- 
hauerei verschwindet, alles Wesen ihrer Kunst und ihres eigen- 
tümlichen Effekts verschwindet ' (4, 64). Die schöne elliptische 
Linie, welche sich 4 mit Pracht und Schönheit um den Körper 
gleichsam umherwälzet und ihn mit ihrer beständigen Einheit 
in Mannigfaltigkeit, mit ihrem sanften Gufs mit einem schöpfe- 
rischen Hauche bildet,' diese Linie, welche Winckelmann ' so ent- 
zückend preist' [vgl. WW 1, 217. 4, 58 f.], kann nicht durch das 
Gesicht begriffen werden, weil das wandernde Auge immer nur 
winklige Flächen sieht> also die runde Schönheitslinie und damit 
das Wesen der Kunst zerstört (4, 64 f. vgl. 8, 125). 'Jede Figur 
der Malerei ist an sich nichts, sie ist alles aufs Ganze der Fläche 
des Auges; jeder Körper der Skulptur ist nur wenig aufs Ganze, 
er ist an sich selbst, für die fühlende Hand alles — welcher 
Unterschied! (68)'. Eine ganze Reihe grundsätzlicher Kunst- 
fragen: Komposition, Gliederung, Darstellung des Häfslichen, 
Statuenkolorit u. s. w. berührt Herder im Vorbeigehen und blickt 
'auf ein grofses Feld von Dingen, die sich aus diesem einzigen 
Prinzipium des schönen Gefühls bei der Bildhauerkunst erklären 
liefsen (71)'; alle ihre Gesetze folgen daraus, und alle Irrtümer 
und Ausschweifungen in Kunstübung oder Kunstkritik, sogar 
noch bei Winckelmann, stammen aus der Vermischung der 
Grenzen zwischen Skulptur und Malerei. Nun aber die Haupt- 
sache: das antike Ideal der Plastik, wie es uns Winckel- 
mann erschlossen hat, ruht ganz auf diesem Grund- 
gesetz. 'Die weise Einfalt der Alten und die selige Ruhe und 
der genaue Kontur und die nasse Draperie, die sie ihren Statuen 
gaben, erklärt sich offenbar aus diesem Gefühl, das gleichsam 



154 



Arnold E. Berger 



in der Dunkelheit tastet, um sich nicht vom Gesichte zerstreuen 
zu lassen, und hier sich aller Ergiefsung der Einbildungskraft 
überläfst' (72). Denn weder bei dem übertriebenen noch bei 
dem häfsliehen hat die Einbildungskraft, die blofs dem Gefühle 
folgen soll, freien Spielraum; die 'selige Ruhe* allein läfst 'der 
Schönheit Platz, die dem Gefühl ewig gefället und die Ein- 
bildungskraft in sanfte Traume wieget '.') Wenn ich eine 
häfsliche Bildsäule in Gedanken betaste, so komme ich, statt 
den schönen Umrifs zu finden, auf 'Brechungen des Körpers, die 
ein kaltes Zittern durch die Glieder jagen; ich fühle in dem 
Augenblick dieses verzerrenden Bruches eine disharmonische 
Schwingung meiner Gefühlsnerven und gleichsam eine Art inner- 
licher Zerstörung meiner Natur' (69). Ebenso bei der Draperie: 
wenn diese nicht nasse Draperie ist, wenn ich nur Gewand, 
drückendes Gewand fühle, so geht die schöne Form des Körpers, 
das Wesen der Kunst verloren (72). In der Bildhauerei wohnt 
eigentlich jene 'unsichtbare [nur fühlbare] Vollkommenheit', von 
der Winckelmann redet, 'die sich in der Materie offenbaret und 
von dieser nur so viel nahm, um sich fühlbar zu machen [vgl. 
oben S. 122]; da wohnet jenes Urbild von Bedeutung und sanftem 
Ausdruck und Wohlförmigkeit .' (75; vgl. 8, 151 f.). 

Wirkt aber die Bildhauerei unmittelbar nur fürs Gefühl — 
so fragt Herder weiter — welche Gewalt war es dann, die sie 
den feinen Werkzeugen des Gefühls entrifs und endlich per- 
spektivisch darstellte? Dieselbe Gewalt, antwortet er, die uns 
in unserer Erziehung das Auge an die Stelle des Gefühls setzen 
lehrte: also das Gesetz der Bequemlichkeit oder des kleinsten 
Kraftmafses. Diese Gewohnheit nahm die Bildsäule aus den 
Händen des sie hervortastenden Künstlers, des 'sie umher- 
fühlenden Liebhabers' und stellte sie für sein Auge, und damit 
war die Bahn zur Perspektive betreten, für die sich das Auge 
zuerst an der Baukunst, an architektonischen Profilen, Säulen- 
reihen, Laubengängen u. s. w. geübt hatte. Der Juppiter des 
Phidias sollte nun dem in die Feme fühlenden Auge dasselbe 
sein, was er ursprünglich dem Gefühl geworden wäre. Da aber 
das Gesicht nur den Eindruck von Bild und Fläche gibt, so 
mufste, um die gleiche Wirkung zu erreichen, die Masse verstärkt 

') Vgl. 'die Seele in einen »Ufsen Tranm der Entzückung versetzet 1 
(WW 4, 72). Ausführlicher hat Herder die gleiche Ansicht begründet 
HW 8, 155 f. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



155 



und die Bildhauerkunst kolossalisch werden. 'Der Juppiter des 
Phidias erklärt sich damit so innig aus dem Wesen der fort- 
gehenden Kunst wie aus seiner Parallele, die man gewöhnlich 
aus Homer ziehet; und das längere Mafs der Beine des Apollo, 
das nach Hogarths Bemerkung so sehr zu seiner Gröfse im Ein- 
drucke beiträgt, beweiset was ich sage im Kleinern (83)'. Da* 
Gefühl, welches Körper sehen lernt, ist Irrtümern über die 
Gröfse ausgesetzt, die ins Gigantische verlaufen. Dem Kinde, 
das sehen lernt, kleben erst alle Gestalten im Auge, sie ent- 
fernen sich und werden 'kolorierte Riesenbilder', daher bei 
Kindern die Neigung zum Wunderbaren und Fratzenhaften ; der 
blindgeborene Cheseldens lernte unterscheiden, die Bilder vom 
Auge trennen, und er sah — Riesengestalten (85). Auf diesem 
kindlichen Standpunkt blieb die ägyptische Kolossalplastik 
stehen, 1 ) während die Griechen von der plastischen Perspektive 
zur malerischen f ortschritten, die das Kolossalische nicht mehr 
verträgt. 'Ein Volk, das einmal den Weg gefunden, Statuen 
aufser der Proportion des Gefühls blofs fürs Auge zu machen, 
hatte die Bahn offen, sie auch für mancherlei Gesichtspunkte 
des Auges zu machen. Und da es in der architektonischen Ver- 
zierung der Schauplätze, wie wir wissen, so weit gekommen war, 
so sind wir eben damit unmittelbar am perspektivischen Relief 
und mit diesem an der eigentlichen Skulptur selbst, die sie, wie 
wir wissen, ebensowohl zur Verzierung anwandten (88).' 

Im Garten zu Versailles hing Herder solchen Gedanken 
weiter nach, wovon uns umfängliche Aufzeichnungen erhalten 
sind (HW 4, 443 ff., 479 ff.; 8, 88 ff.). Nichts ist dem Wesen der 
Kunst mehr zuwider als völlige Bekleidung. Die Griechen be- 
kleideten so wenig als möglich oder, wenn sie mufsten, auf eine 
Art, die das Gewand als Gewand vernichtete: durch Wasser- 
gewänder (vgl. Winckelmann oben S. 10(5). Die Malerei dagegen 
kann die schöne Oberfläche eines Körpers, welche ja nur Bild 
ist, durch schöne Draperie ersetzen; sie kann anderseits — fügt 
Herder paradox genug hinzu — keine Wassergewänder malen, 
weil sie Oberfläche ist Daran schliefsen sich Beobachtungen 

») Damit mufs man einen Brief Herders an Merck vom September 1770 
zusammenhalten: 'Ihr steht alle meiner Natur noch zu nahe, gute Kinder! 
Ihr tastet noch . . . und sehet nicht. Da wird der weichen, wannen, fühlenden, 
freundschaftlichen Hand alles gröfser, runder, kolossalischer — aber auch 
dunkler, und ihr habt noch kein Ganzes von Anblick!' (Lebensbild 3, 1, 116). 



Digitized by Google 



156 



Arnold E. Berget 



über das Kostüm überhaupt, über Bildung der Haare und Augen- 
brauen, Adern. Knorpel, Sehnen u.dgl., wo man überall den 
Schüler Winekelmanns sprechen hört, 1 ) Man hört ihn nicht 
minder sprechen in der Erweiterung, die seine Theorie jetzt auf 
das metaphysische Gebiet empfängt: 'Es ist nicht blofs genug, 
dafs sich alles unter unsern Händen erwärme; es mufs ein 
Geist in diesem Fühlbaren wohnen, der unmittelbar zu unserm 
Geiste spreche : durch eine Sympathie, durch eine Anziehung, die 
sich der Wollust nähert * (8,91). Ahnlich 8.159: 'Im Ganzen 
der Bildsäule herrscht bis auf die Regung jeder Muskel Kon- 
venienz mit der (Testalt ihres innern ZuStandes , und sie ist, 
wenn es nicht zu kühn klingt, eine sinnlich gemachte geistige 
Natur, die fühlbar gewordne Gestalt einer menschlichen Seele'. 
'So wie nun diese attraits — fährt Herder an der erstgenannten 
Stelle fort — in der Natur lebender Schönen schwer zu erklären 
und aufzuzählen sind, so selbst in toten, in der Skulptur. Zuerst 
ich mufs vergessen, dafs es Stein ist, und die Miene, den Seelen- 
zug, den der Körper auf dem Gesicht verewigt hat, gleichsam 
gegenwärtig fühlen. Setze einen blinden Gefühlvollen, lasse ihn 
tasten und sagen, was er fühle.' Herder nimmt hier voraus, 
was Lavater später das dunkle physiognomische Gefühl nannte. 

') Nur einzelne Beispiele brauche ich hier hervorzuheben: die Haare 
des Apullo 'fliegen um das Haupt, wie durch eine sanfte Luft bewegt, aber 
sind aufgebunden und machen nicht einen eignen Körper am Körper' 
(8, 89, 366); das geht zurück auf WW 6, 261. Zu den 'Adern, Knorpeln und 
Sehnen' (8,90. 140 ff.) vgl. oben 8. 122; über das griechische Profil (ebenda) 
redet Winckelmann an zahlreichen Stellen. Aus ihm stammt da« bei Herder 
(8, 90, 369) wiederklingende Wort von den 1 gepletsehten Nasen' (vgl. WW 3, 56. 
4, 40). Herders Bemerkungen über enge Taillen und Schnürbrüste (8, 90 f.) 
knüpfen au an die Winekelmanns über die 'heutige pressende und klemmende 
Kleidung' (WW 1, 11). 'Schönes Gefühl', das den Körper 'mit einem fühl- 
baren Gypse überzog' (8, 102. 40f>), beruht auf Winckelmann (vgl. oben S. 149). 
Die Polemik gegen Winckelmanns Auffassung der nassen Gewänder (WW 1, 30), 
am ausführlichsten 11 W 8, 137 f. Daselbst 8. 138 sind das 'Ooische Gewand' 
und der Vergleich der jugendlichen Brust mit der 'Traube' Nachklänge aus 
Winckelmann (vgl. WW 1, 26. 4. 226). Zu der Betrachtung des Laokoon 8, 139 
vgl. auch Herders Gedicht 'Laokoons Haupte' 1768 (HW 29, 303). Die beiden 
Winckelmannzitate auf S. 141 stammen aus dessen Beschreibung des bel- 
vederischen Apoll (WW 6, 260 f.). Dafs die Augenbrauen nicht 'abgetrennte 
Härchen", sondern nur 'einen feinen scharfen Faden' zeigen sollen (8, 142 
oben), stammt ebenso aus Winckelmann (WW 4, 204 f.) wie der Ausdruck 
'Augenbrauen der Gratien\ 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



157 



Herder ist von seinem anfangs sehr besonnenen Standpunkt 
gegenüber der Physiognomik zeitweilig durcli Lavater abgedrängt 
worden, um dann desto entschiedener zu ihm zurückzukehren. 
Schon in der Rede über die Schönheit hatte er an das viel- 
zitierte Beispiel von Sokrates erinnert, den ein Physiognomist — 
er meint ZopjTiis (vgl. Hamann, Roth 2, 24. 6, 231) — nach 
seiner 'Bildung' als den Lasterhaftesten ausschrie, worauf 
Sokrates nur entgegnete: 'Das alles wäre ich geworden, wenn 
mich nicht die Weisheit gebessert hätte'. An demselben 
Beispiel hat Herder in der Lemgoer Rezension von Lavaters 
zweitem Versuch seine Meinungsverschiedenheit entwickelt; im 
übrigen geht aus der überfliefsenden Panegyrik dieser Be- 
sprechungen ebenso wie aus einigen mit Lavater gewechselten 
Briefen nicht gerade der viel besonnenere Standpunkt Herders 
hervor. Mit Hamaunscher Färbung preist die 'Älteste Urkunde' 
den Menschen als Gleichnis und Ebenbild Gottes, als Inbegriff 
der Schöpfung, sein Antlitz als Einheit der Mannigfaltigkeit, 
seinen Körper als Hülle und Bild der Seele. Mit diesem 
Herderschen Hymnus auf die menschliche Wohlgestalt eröffnete 
Lavater sein Werk, der leicht erregte Autor selbst verfolgte 
diese Gedanken in einem Briefe an Lavater (Aus Herders 
Nachlafs 2, 102 f.) bis zu einer phantastischen Parallele des 
menschlichen Leibes mit dem Weltgebäude. Wenn aber seine 
Schwärmerei den Flug ins Übersinnliche richtet und als Ziel 
der Physiognomik hinstellt, 'das Bild Gottes im Menschen iu 
Stufen und Gängen und Graden der Vollkommenheit mit An- 
schauung zeigen', den Weg zu weisen, 'um in .Jesu Bildung ver- 
wandelt zu werden', so kliugen doch in demselben Briefe deutlich 
die Grundgedanken der 'Plastik' an. 'Die Griechen haben den 
äufserlichen Menschen so gekannt, wie wir ihn nie kennen 
können und werden.' Zu der Winekelniannschen Bemerkung, 
daXs Schönheit, Macht, Stille, Glückseligkeit, das Dasein des 
irdischen Menschen niemand besser gezeigt habe, als die 
Griechen, welche Bewegung. Trieb, Seele in jeder Stellung und 
Biegung jedes Gliedes zum Ganzen recht 'abgewogen' (vgl. zu 
diesem Ausdruck oben S. 135), fügt er hier noch hinzu: 'vom 
geistigen Menschen haben sie nichts gewulst'. Aber als er in 
der 'Plastik' von 1778 die Gedanken dieses Briefes wieder auf- 
nimmt, hat er alle solchen mystischen Beigaben entschieden ab- 
gestreift; die Feder in Winckelmannsche Begeisterung getaucht 



Digitized by Google 



158 



Arnold E. Berger 



ist er ganz zum Griechen geworden, er beklagt, wie Jener, dafs 
er 'nicht für Griechen' schreibe und entwickelt seine herrlichen 
physiognomischen Erkenntnisse durchweg an der rückhaltlos be- 
wunderten Plastik der Hellenen. An diesem Thema wird der 
durchgreifende Unterschied der Herderschen und der Lavaterschen 
Auslegungsweise deutlich: Herders Physiognomik will die 
Menschengestalt in ihrer zweckerfüllten Schönheit begreifen, 
und deshalb sieht er die physiognomische Einheit von Seele und 
körperlicher Erscheinung vorzugsweise mit Winckelmann und 
Mengs in der idealen Sphäre der Kunst verwirklicht, während 
Lavater die menschliche Gestalt bis in alle Einzelheiten nur 
deuten will und darum seine physiognomische Methode vor 
allem auf das Leben selbst anwendet, ohne zu bemerken, dafs 
sich mit dieser Übertragung der Methode auch ihre Voraus- 
setzungen verschieben müssen, dafs im zweiten Falle eine ganze 
Reihe von Faktoren in Rechnung zu bringen sind, die das 
Identitätsverhältnis von seelischem Motiv und organischer Dar- 
stellung durchkreuzen oder aufheben. Eine tiefere Begründung 
dieser beiden Richtungen der physiognomischen Forschung mufs 
ich mir für meine spätere Darstellung aufsparen, schon hier 
aber möchte ich darauf hinweisen, dafs in den Herderschen Vor- 
arbeiten zur ' Plastik ', die die symbolische Bedeutung der schönen 
Gestalt an Stirn, Nase, Mund, Kopf u. s.w. im Anschluls an 
Winckelmann und durchweg vom Standpunkt des 'Fühlenden' ent- 
wickeln, eine Reihe von glücklich charakterisierenden Wendungen, 
psychologischen Beobachtungen, Streiflichtern auf nationale" oder 
typische Unterschiede begegnen, die in Lavaters Hauptwerk 
nachklingen, was durch eine eigene Untersuchung aufgeklärt 
werden soll. Die feinen Beobachtungen Herders stützen sich 
zum Teil auf seine gründliche Anschauung der Pariser Bühne; 
er schliefst seine lehrreichen Aphorismen über mimischen Aus- 
druck: 'Das ist Geberdensprache, die aus Statuen zu lernen, 
mit Dichtern zu erläutern, aus der menschlichen Natur zu be- 
weisen, fürs Theater anzuwenden, aus ihr eine neue Oper zu 
schaffen ! ' (8, 94. 4, 479 ff.). Alle seine zerstreuten Beobachtungen 
schliefsen sich aber nun unter einem neuen und höchst frucht- 
baren Gedanken zusammen: 'alles was da ist, ist zu Zwecken, 
so auch der menschliche Körper; und nicht blofs zwischen den 
Geschlechtern gibts also ein Band des Notwendigen, des Guten 
und Bequemen. Jedes Glied ist da zu seinem Zweck, 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



ir,o 



von dem es auch seine Gestalt hernimmt: hats diese, so 
ists zu jenem gut, es ist was es sein soll, es ist also in 
seiner Gestalt angenehm, es ist ein fühlbarer Begriff 
der Vollkommenheit (8,94).' Liest man weiter, wie Herder 
zeigt, dafs jedes Monstrum von Gestalt häfslich sei, weil es ein 
fühlbarer Mangel der Vollkommenheit oder gar ein fühlbarer 
Begriff der Unvollkommenheit sei, so wird es wahrscheinlich, dafs 
diese Betrachtung einerseits an das erste Kapitel der Diderotschen 
' Essais sur la peinture anderseits an Piatons * Tunaus ' anknüpft, 
was hier noch nicht nachgewiesen werden kann; der Grund- 
gedanke selbst ist ihm jedenfalls in der Anschauung auf- 
gegangen : an den Beschreibungen Winckelmanns, vor den Skulp- 
turen in Paris und in Mannheim. Doch scheint sich eine 
Nachwirkung der Platonlektüre darin zu verraten, wie der 
Sensualismus sich jetzt mehr zur Metaphysik zurückbiegt. Wenn 
nämlich in der Zweckmäßigkeit der Gestalt jedes gesunde Glied 
ein fühlbarer Begriff der Vollkommenheit ist, jedes falsch oder 
ungesund entwickelte ein fühlbarer Mangel einer solchen, so 
ergibt sich, 'wie der Begriff des Schönen im Gefühl ans Wahre 
und Gute grenzt (8,94). Schönheit ist nicht tote Symmetrie, 
die Kunst gibt ja viel mehr Unebenmafs als Symmetrie: das 
Schöne ist Gefühl der Vollkommenheit, das um so stärker 
ist, je mehr es Sympathie erwecken kann, es wirkt demnach in 
der Darstellung des Menschen am stärksten. Und wieder erklärt 
sich Herder in seiner Weise einen Winckelmannschen Idealbegriff: 
die ewige Jugend der Götter und Helden. Da fühlen wir, hatte 
Winckelmann gesagt, die ganze Vollkommenheit des menschlichen 
Gliederbaus 'an dem Mangel der Sehnen und Nerven, die sich 
in der Blüte der Jahre wenig äufsern ' ( WW 4, 95). Herder 
fügt hinzu, dafs die Jugend 'die Aussicht auf eine lachende 
Welt und also den schönen Begriff der Hoffnung' gebe, und 
erläutert weiter: 'der Begriff der Vollkommenheit liegt 
zwischen Ruhe und Tätigkeit, dafs weder jene noch diese 
allein sei; die Seele nicht zu sehr beschäftigt, der Körper nicht 
zu sehr, beide nicht zu wenig. Da ist die edle Stille der 
Griechen.' Dagegen gemahnt die einförmige Symmetrie der 
ägyptischen Kunst an den Tod (8, 95). Herder verliert sich noch 
weiter in die lockenden Gänge der Spekulation : vom Gefühl 
mufs alles ausgehen und dahin zurückkommen. 'Welche vor- 
treffliche Unternehmung, alle Begriffe dahin zu reduzieren, zum 



Digitized by Google 



160 



Arnold E. Berger 



Gefühl und auf die Sinne!' Er fragt, wie wohl ein Blinder 
Sprache ersonnen hätte, wie er die Welt auffassen müsse; er 
untersucht, wie weit wir wohl kämen, wenn wir nichts als Gefühl 
besäfsen. 'Mit Gefühl alle Stellen aller Hagedorne und aller 
Winckelmanne, Webbe, Zanotte und Watelette durchgegangen, 
so lösen sie sich in das Gefühl der schönen, nackten, treuherzigen 
Natur auf, und mit welcher Wollust kann dies in der Bildhauerei 
der Natur des Marmors gleichsam hervorgefühlt werden. Da 
alle Lehrbücher weg ... da gewinnt alsdenn die ganze Lehre 
von der schönen Natur Einfalt, Reiz, Grazie ihren ersten wahren 
Eindruck (8,102)'.') 

Die sensual istische Grundlage der Ästhetik, welche das 
vierte kritische Wäldchen mit so entschlossener Konsequenz an- 
gestrebt hatte, hat Herder nicht weiter ausgebaut: schon die 
Schrift über den Ursprung der Sprache beginnt zurückzulenken. 
Nur die 'Bildhauerkunst fürs Gefühl' hat er nicht aufgegeben, 
nur sie hegte der Lobpreiser des Gefühls wie einen eifersüchtig 
gehüteten Lieblingsgedanken, und nach einer Reihe von Jahren 
noch liefs er ihn in einer seiner küstlichsten und jugendfrischesten 
Schriften Gestalt gewinnen: in der 'Plastik' von 1778 (HW 8, 1 ff. 
Der Entwurf von 1770: 8, llGff.). 

Sie gibt zunächst nur eine erweiterte Ausführung jenes 
sensuulistisehen Grundgedankens, aus dem die Grenzbestimmung 
von Malerei und Plastik entwickelt wird: die Kunst des Gesichts 
scliildcrt die grofse Tafel der Natur, das Nebeneinander; die 
Kunst des Gefühls stellt schöne Formen dar, das Ineinander. 
Bildnerei ist Wahrheit, Malerei Traum; jene ganz Darstellung, 
diese erzählender Zauber. Der zweite Abschnitt nimmt die 
Fragen der Bekleidung, der Färbung, der Schilderung des Häfs- 
lichen auf, deren leitenden Gesichtspunkt wir bereits aus den 
Vorarbeiten vou 1709 kennen. Die Bildnerei kann nicht be- 
kleiden, weil das Kleid nichts völliges, rundes, sondern nur Hülle 
ist, fremde, unwesentliche Last; vollends in Stein, Erz, Holz 

') Noch deutlicher als hier bezeichnet Herder den Zweck seiner Ober 
Winckelmanus metaphysische Schönheitslehre weit hinausführenden Unter- 
suchung so: 'er ist keine Lobrede aufs .Schöne in dem unbestimmten, 
begeisterten Tone, in dem wir seit Winckelmanu jauchzen; er ist 
keine üppige Beschreibung, um sinnliche Triebe zu erregen: er ist Theorie 
der Schönheit aus ihrem ursprünglichsten ^'inne, und da suche ich für 
jeden eigentlichen Begriff sein eigentliches Wort (HW 8, 131 f.)'. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



161 



gebildet wird es zum herabhangenden Klumpen. Deshalb war 
auch im Morgenlande, wo der Körper stets verhüllt erscheint, 
die Bildnerei unmöglich, im jüdischen Lande gar nicht erlaubt; 
bei der römischen Kunst war die Kleidung ein Hindernis, noch 
mehr im Mittelalter und vollends in der Neuzeit. Nur die 
Griechen stellten ihre Mannorbilder in schöner Nacktheit hin, 
und wer denkt jetzt bei dem Laokoon daran, dafs er eigentlich 
als Priester bei dem Opfer vor versammeltem Volke bekleidet 
gewesen? ! ) Wo aber die Griechen ihre Statuen bekleiden mufsten, 
da wählten sie nur durchscheinende und nasse Gewänder, nicht 
ein Kleid, sondern 'gleichsam ein Kleid, wie die Götter Homers 
gleichsam Blut haben' (8, 23; nach Winckelmann, vgl. WW 7, 84 f.). 
Dagegen kann die Malerei das Kleid bearbeiten als das edelste 
was es ist: gebrochenes Licht, Zauberduft fürs Auge, der alles 
erhöht, Nebel und schöne Farbe. Auch das Nackte hat in der 
Malerei eine völlig andere Bedeutung. Färbung nach der Natur 
wirkt auf der Bildsäule häfslich, weil Farbe nicht Form ist, 
dem tastenden Sinn nicht bemerkbar. Ebenso müssen Adern, 
Knöchel und Knorpel in die Fülle des Ganzen verflöfst werden, 
weil sie dem Gefühl widerstehen; die Haare müssen dem Gefühl 
nie Wald, sondern sanfte nachgebende Masse werden, die sich 
endlich selbst verliert; die Augenbrauen werden nur angedeutet, 
von dem darübergleitenden Sinn mehr geahnt als empfunden, 
ähnlich darf auch der Augapfel nur angedeutet werden. 2 ) Alles 
dies ist anders in der Malerei, die eben für das Auge arbeitet. 
Häfslichkeiten dürfen beide Künste nur bilden, soweit es ihr 
'Sinn' erlaubt. Die Formen der Skulptur sind ferner so ein- 
förmig und ewig wie die einfache, reine Menschennatur, während 
die Gestalten der Malerei abwechseln mit Geschichte, Menschenart 
und Zeiten. 

Wie die ganze Abhandlung Herders in stetem Hinblick auf 
die bildende Kunst ihrer Zeit geschrieben ist, das bedarf nach 
Adolf Schölls trefflichen Ausführungen (Gesammelte Aufsätze zur 
klassischen Literatur alter und neuerer Zeit. 1884. S. 172 ff.) 
keiner weiteren Begründung. Vor allem der dritte Abschnitt 

») Ähnlich bei Apollo, der vom Siege Pythons kommt (HW 8, 19 f., 135). 
Eine von der Winckelmannschen abweichende Auffassung des Apollo suchte 
Herder in seiner Denkschrift auf Winckelmann zu begründen (HW 8, 454 ff.). 

*) In diesen Bemerkungen ist, wie ich später zeigen werde, Herder von 
Diderot abhängig, beide aber von Winckelmann (z. B. WW 4, 199 ff.; 7, 121 ff.). 

11 



1G2 



Arnold E. Berger 



wendet sich gegen den toten Formalismus der damaligen Kunst. 
Die Hogarthsche Schönheitslinie mit allem, was daraus gemacht 
ist, sagt nichts, wenn sie nicht in Formen, also dem Gefühl 
erscheint. Den menschlichen Leib in der ganzen Ausdehnung 
seines Baues schildert Herder in seiner zweckvollen Schönheit, 
jedes einzelne Glied nach seiner Bedeutung und Vollkommenheit, 
und gelangt zu dem Satze, 'dafs jede Form der Erhabenheit 
und Schönheit am menschlichen Körper eigentlich nur Form der 
Gesundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlseins in jedem Gliede 
dieses kunstvollen Geschöpfes' sei, dafs die Wohlgestalt des 
Menschen kein Abstraktum, keine Komposition gelehrter Regeln 
oder willkürlicher Einverständnisse sei, vielmehr von jedem er- 
fafst und gefühlt werden könne. In der Bekämpfung des un- 
beseelten Formalismus der Schönheitslinie hatte Herder, wie ich 
nachweisen werde, einen Vorgänger an Diderot, auch das Gespräch 
zwischen Burke und Hogarth im Teutschen Merkur 1776, 1, 131 fL 
bewegt sich in ähnlicher Richtung. Aufserordentlich geistvoll 
aber ist es, wie Herder für seine These den praktischen Nach- 
weis erbringt, indem er die Eigenschönheit eines jeden Gliedes 
und seine besondere Stellung im Zusammenhange mit dem 
geistigen Inhalt der ganzen Gestalt und dem gewählten Motiv 
zu erfassen sucht. Je mehr ein Glied bedeutet, was es bedeuten 
soll, desto schöner ist es. Wo eine Form, ein Glied eine vor- 
zügliche Bedeutung hat, da beut es sich gleichsam selbst und 
zuerst der tastenden Hand dar: 'Lafst einen Apollo Zorn fühlen 
und schreiten, sofort treten die Teile seines Körpers hervor, die 
edles Selbstgefühl und Gang zu seinem Zwecke andeuten: die 
Nase weht lebenden Othem und macht Raum vor sich her; die 
Brust, ein schöner Panzer, wölbet sich edel; die mutigen, längern 
Schenkel 1 ) schreiten; die andern Glieder ziehn sich gleichsam 
bescheiden zurück, denn sie sind nicht in der Handlung' (8,57). 
So wird jede schöne Form von dem Lebensgeiste des Ganzen 
bestimmt, an dem sie teil hat; jedes Glied wird im höclisten 
Mafse 'individuell bedeutend'. Die Bildsäule mufs als Mensch, 
als ganz durchlebter Körper, als Tat zu uns sprechen 
und unser ganzes Wesen durchdringend das ganze Sai- 
tenspiel menschlicher Mitempfindung wecken (60). 

Man sieht, dafs die beiden Gesichtspunkte, welche in den 



l ) Vgl. dam die 'Bemerkung Hogarths', oben S. 165. 



Der junge Herder und Winckelmann. 



163 



Reiseskizzen zur 'Plastik' noch leidlich neben einander standen, 
hier vollends in einander überlaufen: der treue gründliche Tast- 
sinn, der den Körper 'begreifen' lehrt, verwandelt sich in der 
Lebhaftigkeit des Vortrags fast unmerklich in den inneren Ge- 
fühlssinn, in die 'innere Sympathie', er wird zum 'Finger des 
inneren Sinns', welcher 'nach der Gestalt des Geistes in der 
Form tappt'. Das ist der Klarheit der Auseinandersetzungen 
nicht gerade förderlich gewesen, aber gleichwohl führt die 
Herdersche Abhandlung einen bedeutsamen Schritt über Winckel- 
mann wie über Lessing hinaus. Sie enthält den ersten Versuch 
zu einer strengen Abgrenzung der bis dahin noch allzu unter- 
schiedslos behandelten Kunstgebiete Plastik und Malerei, zugleich 
den ersten kühnen Versuch, diese Abgrenzung an der Hand 
grundlegender Fragen der Erkenntnislehre und der vergleichenden 
Sinnesphysiologie vorzunehmen. In eine Kritik dieses Versuchs, 
zu der der genannte (bereits 1845 geschriebene) Aufsatz von 
Schöll bemerkenswerte Gesichtspunkte an die Hand gibt, kann 
an dieser Stelle ebenso wenig eingetreten werden wie in eine 
Geschichte der Fortführung dieser wertvollen Anregungen durch 
neuere Forscher. Hier genügt es, zu betonen, dafs mit der 
metaphysischen Herleitung des Schönheitsbegriffes, 
welche Winckelmann so viel unbelohnte Mühe gekostet hatte, 
jetzt endgültig gebrochen war. Das Ideal der Kunst aber, 
welches sich seiner genialen Anschauung erschlossen und in 
seiner stillen, seligen Gröfse Herders Nachdenken so lange 
beschäftigt hatte, das war hier endlich auf die feste Grundlage 
der sinnlichen Erfahrung gestellt; die Schönheit der Linie war 
aus einer Abstraktion zu einem lebendigen Ausdrucksmittel 
seelischer Bezüge geworden, die 'edle Einfalt und Ruhe' war 
auf ihre psychophysischen Voraussetzungen zurückgeführt, aus 
ihren Wirkungen auf den Gefühlssinn erklärt, eine synthetische 
Anschauung des 'wesentlichen Schönen' war gefunden: Schönheit 
war nicht mehr 'Unbezeichnung', wie Winckelmann gesagt hatte, 
sondern 'sinnlicher Ausdruck'. 'Bedeutung innerer Vollkommen- 
heit', sinnliche Sprache der Seele durch den Körper. 'Die ewigen 
Gesetze der menschlichen Schönheit sind metaphysisch und phy- 
sisch, moralisch und plastisch völlig dieselben' (8,66), immer 
findet sie statt in 'der schönen Mitte zweier Extreme.' 

Kein Zweifel, dafs jene leise Umwandlung, welche dem 
körperlichen Tastsinn allmählich den inneren Gefühlssinn unter- 

11* 



Arnold E. Berger 



schob, schliefslich in Winckelmanns Schriften ihre letzte Be- 
gründung hatte. In der Tat sind die Beschreibungen und physio- 
gnomischen Charakteristiken Herders gerade in der 'Plastik' 
ganz von Winckelmann inspiriert, vielfach klingen sie wörtlich 
an ihre Vorbilder an, wie überhaupt die ganze Abhandlung 
Winckelmannsches Stilgepräge trägt und Reminiscenzen aus 
dessen Schriften in solcher Fülle enthält, wie nur die Erstlings- 
arbeiten Herders. l ) Und mufste es dem begeisterten Leser 
Winckelmanns nicht immer von neuem auffallen, dafs diesem 
ein ungemein starker und zarter innerer Gefühlssinn Erkenntnisse 
vermittelte, hinter denen alles zurückblieb, was er auf dem Wege 
metaphysischen Grübelns über das Wesen der Schönheit mühsam 
festzustellen suchte? Was er vor seinen Statuen erlebt hatte, 
wog jedenfalls schwerer, als alles Theoret isieren. 'Jede Form 
der menschlichen Gestalt — sagt Herder — spricht zu uns, weil 
wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich 
in dieser Form offenbart. Wie wolltet ihr einem Kinde ein 
zorniges oder ein freundliches Gesicht begreiflich machen, d. i. 
ihm den Zorn oder die Freundlichkeit durch Unterricht bei- 
bringen, wenn es den Xaturausdruck dieser Affekte sym- oder 
antipathisch nicht in sich fühlte? Nicht anders fühlen wir den 
Gemütscharakter jedes echt gebildeten Werkes der Kunst, den 
Geist, der es bewohnt; schnell oder sanft geht er in uns über. 
Mein Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm, meine Brust 
schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird. 
Meine Gestalt schreitet mit Apollo oder lehnt sich mit ihm oder 
schaut begeistert empor. Laokoons und der Niobe Seufzer dringen 
nicht etwa in mein Ohr, sie heben meine Brust selbst mit 
stummem Schmerz. Das Angesicht jenes Genius, dieser Tochter 
blicken mich an und erfüllen mich dadurch selbst mit ihrer 
Liebe, mit ihrer Unschuld. Durch alle Teile des schön belebten 
Körpers ist diese Harmonie ergossen. Nicht etwa nur jener 
Rücken des Herkules ist bedeutend; diese Trümmer eines lieb- 
lichen Mundes, dieser gebrochne Juppitersschädel führen ihre 
ganze Bedeutsamkeit mit sich: über jenem schwebt noch die 
Teitho, unter diesem erzeugen sich noch Zeus' Gedanken. Der 

>) Die meisten dieser Reminiscenzen sind im 8. Bande der Suphanschen 
Ausgabe in den Anmerkungen (S. 659 ff.) nachgewiesen , andere sind im Ver- 
laufe unsrer Darstellung an den entsprechenden Stellen schon herangezogen 
worden. 



Digitized by Google 



Der junge Herder und Winckelmann. 



165 



Ausdruck der plastischen Kunst ist leibhaft, also auch mittels 
lebhafter Formen geisthaft, d. i. sympathetisch wirksam. Das 
war Plastik nach dem Begriff der Griechen' (vgl. dazu 
HW 8, 100 ff.). 

Und derselbe Gesichtspunkt gibt schliefslich den entschei- 
denden Aufschlufs über die Berechtigung der Allegorie in der 
bildenden Kunst, von der Winckelmann zu unbestimmt und zu 
allgemein gehandelt hatte (HW 8, 78 ff.): jede Kunst hat nämlich 
ihre eigene Art der Allegorie. Die Plastik, die Seele durch 
Körper bildet, ist eben darum eine beständige Allegorie, der 
bildende Künstler ' allegorisiert also durch alle Glieder', denn 
die Proportion ist ihm nur eine Bedingung seiner Kunst, nicht 
aber ihr Wesen. Je weniger ein Glied Anteil am Geist, au 
Bewegung und Leben hat, desto fester und unveränderlicher ist 
seine Proportion bestimmt, während die Glieder, die vorzugsweise 
Leben und Bewegung ausdrücken, am wenigsten einem festen 
Kanon der Proportion unterliegen dürfen, wie die längeren 
Schenkel des Apollo, der dickere Hals des Herkules u. a. beweisen. 
Um aber Allegorieen im engem Sinne auszudrücken, d. h. ' blofsen 
Witz, eine feine Beziehung zwischen zwei Begriffen oder das 
Abstraktum eines fliegenden Dufts', dazu ist die Statue 'zu wahr, 
zu ganz, zu sehr eins, zu heilig', 'die bildende Natur hasset 
Abstrakta'. Die Plastik bildet nicht Abstrakta, sondern Personen, 
nicht die abstrakte Liebe, sondern die Göttin der Liebe. Auch 
die Attribute der hellenischen Gottheiten waren nicht begriff- 
liche, sondern historische, individuelle Kennzeichen eines 
bestimmten Individuums. Allegorieen darf man in der antiken 
Kleinkunst suchen, auf Gemmen, Münzen, Urnen, Basreliefs, aber 
die plastische Monumentalkunst war zu grofs und zu bestimmt, 
als dafs 'Allegorie sie umflattern sollte ', allenfalls an Grabmälern 
wäre Allegorie zu ertragen. Gegen Winckelmann (WW 4, 32) 
richtet sich auch die Bemerkung Herders, dafs die Plastik 
eigentlich keine Gruppen bilden könne: Gruppieren ist nicht 
plastisch, sondern malerisch, 'jede Bildsäule ist eins und ein 
Ganzes, jede steht für sich allein da'; deshalb suchten die Griechen 
da, wo Gruppe sein mufste, diese selbst soviel wie möglich zu 
zerstören, was Herder an der Laokoon-, der Niobidengruppe u. a. 
zu erweisen sucht. Auf der flächenhaften Gemme oder Münze 
kann der malerische Gesichtspunkt walten, die grofsen Bilder 
der Wahrheit aber, die Götter- und Heldengestalten der Plastik, 



166 



Arnold E. Berger 



dulden weder die Allegorie noch malerische Gruppierungen, denn 
die Plastik ist ihrem Wesen nach 'Statik und Dynamik' der 
beseelten Gestalt. In der schönen, 1774 bereits gedruckten und 
1786 für die zweite Sammlung der 'Zerstreuten Blätter' über- 
arbeiteten Untersuchung 'Wie die Alten den Tod gebildet' legte 
Herder an einem von Lessing meisterlich behandelten Motive 
der antiken Kunst die Eigenart griechischer Symbolik dar und 
nahm für die Erklärung wiederum eine entwicklungsgeschicht- 
liche Erwägung, Einwirkung ägyptischer Tradition, zu Hilfe. 

Wir haben damit die Grenze, die wir unsrer Studie gezogen 
hatten, erreicht. Auf drei Wegen sahen wir den jungen Herder 
in der Auseinandersetzung mit Winckelmann entdeckungsfroh 
voranschreiten. Auf dem ersten, dessen leitender Faden der Be- 
griff der 'Nachahmung' war, welchen Winckelmanns Erstlings- 
schrift auf ihrem Titel trug, führte ihn das von Hamann 
empfangene Licht bis zur theoretischen Begründung jenes 
schöpferischen Lebens- und Zeitgefühls fort, das mit dem jungen 
Goethe und der Genieepoche dichterisch produktiv werden sollte 
und für den alten Begriff der Nachahmung einen ganz neuen 
Inhalt fand : Nachahmen ist nichts weniger als ein schülerhaftes 
Abschreiben der Form, sondern ein freies Bilden aus dem Gesetz 
der inneren Sympathie; nicht der Respekt vor der Regel, 
sondern die einfühlende Liebe leite die bildende Kraft, nicht 
die Autorität der Griechen, sondern ihre unvergleichliche Gabe, 
Leben in Kunst zu verwandeln. Der zweite Weg, auf dem 
wir Herder begleiteten, führte von der durch Winckelmann an- 
geregten Frage, wieweit eine Geschieh tsdarstellung zugleich 
Lehrgebäude sein könne, durch die Leibnizsche Philosophie hin- 
durch zur Entdeckung der historisch -genetischen Forschungs- 
methode und zur Begründung des wissenschaftlichen Programms, 
dessen Ausbau die Zukunft gehören sollte: Revision der gesamten 
Geschichte des menschlichen Geistes auf Grund des Entwicklungs- 
gedankens. Der dritte Weg, den wir mit Herder zurücklegten, 
stellte sich uns als eine Anwendung dieser neuen Methode auf 
das Gebiet der Ästhetik und der Kunstgeschichte dar: die 
metaphysische Ästhetik wird ersetzt einerseits durch eine 
beschreibende und vergleichende, die aus der ganzen Welt 
die Phänomene des Schönen sammelt, ordnet und erklärt nach 



Uigitized by Vj 



Der junge Herder und Winckelmann. 



167 



örtlichen und zeitlichen Kriterien, anderseits durch eine ge- 
netische, die sich aufbaut auf einer Physiologie der Sinne und 
auf Untersuchungen über Ursprung und Inhalt der primitiven 
ästhetischen Eindrücke wie der aus ihnen abgeleiteten ästhetischen 
Begriffe. Auf der Fortsetzung des mit der ' Plastik' eingeschlagenen 
Weges treffen wir Herder im ersten Teile der 'Ideen' wieder, wo 
er die Vernunft des Menschen, seine Kunst, seine Sprache, seine 
Freiheit, den Inbegriff der Humanität überhaupt aus der auf- 
rechten Gestalt ableitet und den Satz aufstellt : ' um die Pflichten 
des Menschen zu zeichnen, braucht man nur seine Gestalt zu 
zeichnen'. Schon in der 'Plastik' liegt eine Ahnung von der 
später in den "Gesprächen über Seelenwanderung' auf Grund 
einer vom Menschen her über das Ganze der Schöpfung •sich 
ausbreitenden Naturphilosophie gewonnenen Erkenntnis: 'Moral 
ist nur eine höhere Physik des Geistes', Aufsenwelt und Innen- 
welt stehen unter gemeinsamen Gesetzen. Die schönste und 
fruchtbarste Weiterbildung der in der 'Plastik' niedergelegten 
Gedanken besitzen wir aber in Herders Abhandlung über die 
'Nemesis' (1786) und in der dritten Sammlung seiner Humanitäts- 
briefe (1794); hier werden in dem Gestaltenkreis der griechischen 
Kunst die 'anschaulichen Kategorien der Menschheit' nach- 
gewiesen, und diese griechische Kunst selbst wird als eine Schule 
der Humanität gepriesen. Was uns in diesen seinen reifsten 
Schilderungen der klassischen Kunst entgegentritt, ist eine höchst 
bedeutsame Erweiterung und Vertiefung des Winckelmannschen 
Idealbegriffs, die nicht sein alleiniges Eigentum, sondern bereits 
durch Goethes Typenlehre beeinflufst ist. Aber die Stimmung 
Winckelmanns, seine Griechenandacht und seine Schönheits- 
anbetung durchströmen und beseelen hier noch einmal den Vor- 
trag Herders mit dem Zauber wehmütiger Sehnsucht, der uns 
deutlich verrät, dafs auch diesem grofsen Bildungskosmopoliten 
die Winckelmannsche Sentimentalität nicht fremd geblieben ist, 
die ihm in einer kunstfremden Zeit den Ruf entlockt hatte: 
'Griechische Spiele, griechische Tänze, griechische Feste, grie- 
chische Offenheit, Jugend und Freude, wo sind sie? wo können 
sie sein?' Und jene Antike, zu der Goethe und Schiller auf- 
schauten, die der Leitstern der aufstrebenden Altertumswissen- 
schaft wurde, war sie denn im letzten Grunde etwas andres als 
das Ideal Winckelmanns? trug das Bild der Humanität, wie es 
unsern Klassikern vor der Seele schwebte, nicht wesentlich die 



108 



Arnold E. Berger, Der junge Herder nnd Winckelmann. 



Züge, in denen es sich Winckelmann zuerst offenbart hatte? 
Wir glauben heute die Griechen besser zu kennen, das Ideal- 
bild jener Tage ist nicht mehr das unsrige, und die Worte, 
welche Herder 1781 schrieb: 'auch dein Traum, lieber Winckel- 
mann, von schönen Menschengestalten, von edler Jugendfreund- 
schaft und Erdenweisheit ist verlebt hienieden' gelten uns nicht 
blofs von dem Verfasser der Kunstgeschichte, sondern auch von 
dem idealen Griechentum, an das er und unsre Klassiker mit 
ihm so innig geglaubt haben: uns ist es heute ein 'verlebter 
Traum'. Um so besser werden wir gerüstet sein, die Geschichte 
dieses wundervollen Traumes zu erforschen und in ihren vielfach 
noch verborgenen Zusammenhängen zu beleuchten. Ihr soll denn 
auch das Hauptstück meines Winckelmannbuches gewidmet sein, 
dessen Veröffentlichung mir hoffentlich in nicht mehr ferner Zeit 
vergönnt ist. 



Digitized by Google 



Melodik 

und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



Von 

Franz Saran. 



Digitized by Google 



Literatur. 



Ed. Sievers, Zur Rhythmik und Melodik des nhd. Sprechverses. Ver- 
handle. 42. Philol. -Vers. (1894), S. 370— 82. Ders., Über Sprachmelodisches 
i. d. deutsch. Dichtung. Rektoratsrede. Leipzig 1901. Ders., Metrische 
Studien. I. Studien zur hebräischen Metrik. Erster Teil: Untersuchungen. 
Abh. d. sächs. Ges. d. Vviss. Bd. 21. Separat Leipzig, Teubner 1901. Ders., 
Grundzüge der Phonetik 5 . Leipzig, Breitkopf n. Härtel 1901 [§ «09— 691]. 
F. Sarau, Rhythmik, in: Holz-Saran-Bemoulli, Die Jenaer Liederhandschrift. 
Leipzig, Hirschfeld 1901. Bd. H, S. 91 — 151. Ders., Der Rhythmus des 
französischen Verses. Halle, Niemeyer. [Das Buch ist im Druck und erscheint 
demnächst. Die ersten Bogen davon sind gedruckt in den Forschungen z. 
roman. Phil., Festgabe f. H. Suchier. Halle, Niemeyer 1900, S. 539 — 579.] 

In einem auf der 42. Philologenversammlung gehaltenen 
Vortrage 'Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen 
Sprech verses ' tritt Sievers für eine Erweiterung des her- 
kömmlichen Begriffs der Metrik ein. Diese Wissenschaft solle 
alles in ihren Bereich ziehen, was dazu beiträgt, der Lautform 
der gebundenen Rede ihren Kunstcharakter zu verleihen, und 
jedes dieser Elemente auf seine Wirkung hin prüfen. 1 ) Ich 
möchte den Umfang des Begriffes nicht so sehr erweitern. Denn 
Metrik heifst nun einmal 'Wissenschaft vom VersmaXs'; der 
Begriff steht in ausschliefslicher Beziehung zum Rhythmus. Aber 
sagen wir statt 'Metrik' Verslehre, dann ist Sievers unbedingt 
beizupflichten. Denn ein Vers hat in der Tat nicht nur Rhythmus, 
sondern auch Melodie. 

Dafs im Verse nicht blofs der Rhythmus, sondern auch das 
Musikalische eine grofse Rolle spiele, war früher nicht unbekannt. 
Die Dichter, z. B. Goethe, Schiller und Hebbel, reden davon als 
einem wesentlichen Bestandteil des Ganzen. 5 ) Auch sonst findet 
man manche allgemeine Bemerkung über den 'melodischen Klang' 

•) S. 371. 

J ) Vgl. Sievers, Sprachmelodisches S. 19 f. 



Digitized by Google 



172 



Frau Saran 



Goethischer Verse u. dergl. Aber es blieb eben bei All- 
gemeinheiten. 

Erst Sievers hat in seinen Vorträgen und Schriften genaue 
Bestimmungen über die Sache gegeben: über die Art der Ton- 
bewegung, über die Tonlage poetischer Werke, über die Faktoren 
der Versmelodie liest man bei ihm wichtige und fördernde Hin- 
weise. Verbunden mit seinen Bemerkungen über die Zerlegung 
des Verses in kleinste Gruppen und über 'monopodische' bezw. 
'dipodische 1 Struktur') sind sie allerdings geeignet, die übliche 
Lehre vom Metrum bedeutsam zu erweitern, eine wirkliche Lehre 
vom Verse zu begründen. 

Bedeutet die Forderung von Sievers zweifellos eine Ver- 
tiefung der Verslehre, so schliefst sie zugleich eine ungemeine 
Erschwerung der Forschung ein. 

Das Metrum d. h. den Inbegriff der wesentlichsten rhyth- 
mischen Merkmale eines Verses zu bestimmen, ist nicht allzu- 
schwer. Dazu reicht die übliche, halb papierne Analyse aus. 
Wer sich dagegen auf den neuen Standpunkt stellt, mufs sich 
von der herkömmlichen Art der Betrachtung, die im Wesentlichen 
doch nur den gesehenen Vers zum Gegenstand nimmt, völlig 
frei machen. Er mufs stets des Grundsatzes jeder wahren Vers- 
lehre eingedenk sein: Gegenstand der Forschung ist allein 
der sinn- und stilgemäfs vorgetragene, lebendige Vers. 

Nicht das Auge, das Ohr ist das Instrument dessen, der die 
Kunstform des Verses erforschen will. Dem Ohre mufs er also 
die Gegenstände seiner Forschung zugänglich machen, sei es im 
Theater oder anderswo durch fremde Hilfe, sei es durch eigenen 
Vortrag zu Hause. Ist er auch selbst kein Künstler des Vortrags, 
so kann er doch lernen, durch Versenkung in den Sinn und die 
Stimmung der Dichtung immer deutlicher den Rhythmus und die 
Melodie herauszufühlen, die der Dichter seinem Werke eingeprägt 
hat und die demselben als wesentliche Eigenschaften unverlierbar 
anhängen. 2 ) Ebenso fest und unverlierbar, wie der Rhythmus 
und die Melodie einer Beethovenschen Symphonie anhaften. Und 
wie hier, so können beide auch im Verse durch die Interpretation 
mit überzeugender Kraft aus dem Papier zum Leben erweckt 
werden. 



') Besonders Metr. Stud. 8. 48 ff., Phon. S. 233 ff. 
*) Sievers, Sprachmelod. S. 18 ff., 22. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



173 



Sievers' Ausführungen bedürfen in manchen Punkten noch 
der Ergänzung. Seine Untersuchungen haben sich wesentlich 
auf das Allgemeine der Tonlage, Intervallgröfse und Tonführung 
gerichtet: das Besondere, die Ermittelung absoluter Verhältnisse, 
hat er nicht versucht. Offenbar werden seine Behauptungen 
überzeugender wirken, wenn es gelingt, in charakteristischen 
Beispielen die vorhandenen Töne und Intervalle — sei es auch 
nur für ein Individuum — absolut festzulegen. Andererseits ist 
bei der rhythmischen Analyse noch mancherlei zu beachten, was 
Sievers für seine Zwecke bei Seite lassen konnte, aber was bei 
dem Streben nach vollständiger Zergliederung nicht fehlen darf. 
Die Rhythmik in der Jenaer Liederhandschrift giebt darüber 
Auskunft. 

Ich will nun einmal versuchen, in einem nicht zu kleinen 
poetischen Werke, Goethes 'Zueignung', Melodie und Rhythmus 
möglichst genau zu fixieren. Möge das Beispiel häufig Nach- 
ahmung finden, damit sich allmählich die Bausteine zu einer 
deutschen Verslehre in dem von Sievers bestimmten Sinne zu- 
sammenfinden. ») 

§ 1. Notierung und Rhythmisierung: Allgemeines. 

Zunächst kommt es darauf an, sich klar zu machen, wie 
das Gedicht sinn- und stilgemäfs gelesen werden mufs. Ich ver- 
weise hier auf die Bemerkungen von Sievers, 5 ) die nach meinen 
Erfahrungen durchaus zutreffen. Insbesondere hüte man sich 
davor, 'etwas in das Gedicht hineinzulegen', zu pointieren, d. h. 
rhetorisch vorzutragen. Diese leider sehr beliebte Manier pafst 
für die Zueignung ganz und gar nicht. Auch nur die geringste 
Färbung in diesem Sinne vernichtet den Reiz des schönen Ge- 
dichtes völlig. Man gebe sich dem Eindruck der Verse ganz 
hin und reproduziere ohne Zwang. Wer sein Ohr durch die 
rhetorische, fortwährend charakterisierende und schattierende 
Vortragsart verdorben hat, dem wird die W eise des Gedichtes 
zuerst eintönig vorkommen. Allmählich wird sich ihm aber das 



') Wertvoll wäre z. B. eine Untersuchung Uber den dramatischen 'fünf- 
ftifcigen Iambus' der Iphigenie und des Tasso. Je 500 Verse würden genügen, 
die wesentlichen Eigenschaften dieser Versart erkennen zu lassen. 

») Sprachmelod. S. 18—26, besonders S. 22 u. 25. 



Digitized by Google 



174 



Franz Saran 



Verständnis und das Gefühl für den Stil solcher Verse ent- 
wickeln und vertiefen, wird er die Notwendigkeit, gerade so und 
nicht anders zu lesen, einsehen. 

Leider findet man gerade bei Recitatoren und besonders 
bei Schauspielern selten die Fähigkeit, Lyrik von starkem 
Stimmungsgehalte sinn- und stilgemäfs vorzutragen. Gerade das 
Bestreben, jede Nuance der Stimmung und des Affekts 'heraus- 
zubringen', d. h. im Grunde zu übertreiben, zerstört das spezifisch 
Lyrische. Lyrik muss anders gelesen werden als Erzählung 
(Epik) oder Drama. Einhalten der Versmelodie ist bei ihr 
aufserordentlich wichtig. Vielleicht wird gerade gegen diese 
Forderung am meisten gefehlt; vielleicht fliefst das Unerträgliche 
beim Anhören lyrischer Vorträge von Schauspielern besonders 
aus dieser Quelle. Es kommt freilich noch hinzu die Furcht 
vor dem Verse, das Prosaisieren der Rhythmen, sei es um dem 
Schreckgespenst des Skandierens zu entgehen, sei es um die 
'unnatürliche', weil metrisch gebundene Sprache zur 'Natur' 
zurückzubringen. 

Was für die Lyrik gilt, gilt mutatis mutandis auch fürs 
Drama und Verspoesie überhaupt. Es ist eben eine Tatsache, 
deren Erkenntnis sich die Bühne nicht mehr verschliefsen sollte, 
dafs es stilgemäfsen Vortrag von Versen nicht mehr giebt, 
wenige, leider zu wenige Künstler ausgenommen, dafs nirgends 
das gebildete Ohr mehr auszustehen hat, als im Theater, wenn 
man Versdramen der Klassiker aufführt. 

Es ist übrigens bei den Franzosen auch nicht anders, wie 
ich ausführlich im 'Rhythmus des frz. Verses' gezeigt habe. 
Man vergleiche die dort citierte Stelle über den Versvortrag 
Victor Hugos 1 ) und was ebenda über den richtigen Vortrag von 
Versen gesagt wird. 

Zweierlei bedingt den Vortrag der Zueignung: die Stimmungen 
und Affekte, die der Dichter unmittelbar bei dem Erlebnis selbst 
gehabt hat, die innere Erregung, die das Erleben solch wunder- 
barer Vision notwendig hervorbringt; dann der Umstand, dafs 
das Erlebnis bei der Abfassung des Gedichtes vergangen ist und 
nur erzählt wird. Das Gedicht entspringt nicht unmittelbar aus 
dem Erlebnis selbst, es erneuert nur den vergangenen Eindruck 
der Vision und teilt ihn den Freunden (V. 105) mit. Deshalb 



') Aus Lubarsch, Über Declam. u. Rhythm. d. fre. Verse, 1888 (8. 24 ff.). 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



175 



dürfen jene seelische Erregung, jene Stimmungen und Affekte 
nicht mit ihrer ersten Stärke und Fülle auftreten: die Ver- 
gangenheit, der Ton der Erzählung dämpft sie ab, läfst sie nur 
wie durch einen Schleier sehen. 

Jene Stimmungen und Affekte sind an sich auch nicht auf- 
geregt oder stürmisch: stille Freude an der schönen Natur nach 
erquickender Nachtruhe (V. 1—24), visionäres Staunen mit 
wachsender Erregung (25—32), Beruhigung (33—40), wieder 
etwas Erregung (41—56), Ruhe (57—64), lebhaftere Bewegung 
(65—72), zunehmende Ruhe (73—112). Der Grundton des Er- 
lebnisses ist Ruhe: nur hin und wieder zittert die innere Er- 
regung durch. 

Dieser Charakter des Erlebnisses, durch den Schleier der 
Vergangenheit und Erzählung noch mehr abgedämpft, fordert 
offenbar ruhiges Tempo, ziemlich gleichmässige Abfolge der 
Senkungen und Hebungen, 1 ) yerhältnismäfsig geringe Gewichts- 
unterschiede der Silben und damit Vermeiden zu deutlicher 
Unterordnung der Hebungen unter einander. Keine Überstürzung 
bei syntaktischen Einschnitten, ruhiges Verweilen bei starker 
Interpunktion. Vermeiden grofser Tonintervalle, die leicht auf- 
regend wirken, kein flackerndes Auf und Ab der Tonbewegung. 
In dieser Weise habe ich mich bemüht zu lesen. 

Zu meiner Notierung bemerke ich, dafs ich für meine 
Person die norddeutsche Intonation habe. Ferner, dafs ich zu 
affektloser Vortragsweise neige und deswegen auch bei meinem 
gewöhnlichen Sprechen verhältnismäfsig geringe Tonintervalle 
hervorbringe. Möglicherweise sind also die von mir für das 
Gedicht absolut notierten Tonschritte etwas kleiner, als sie andere 
brauchen und der Dichter selbst gewollt hat. Meine Notation 
soll überhaupt nichts anderes, als meine persönliche Tongebung 
fixieren. Sie soll keineswegs ein Muster von Vortrag sein. 

Es kommt mir dabei nur darauf an, einmal die Lehren von 
Sievers an einem Beispiel in concreto vorzuführen, damit ihre 
Einzelheiten greifbarer und auch dem minder Geübten zu- 
gänglicher werden. Die Mängel solch ersten Versuches möge 
man im Hinblick auf die Schwierigkeit der absoluten Ton- 
bestimmung entschuldigen. 



x ) Keine Prosabewegung! Der Vers mufs als Vers voll zur Geltung 
kommen. 



Digitized by Google 



176 



Franz Saran 



Zur Notation habe ich die üblichen fünf Notenlinien benutzt 
Freilich kommt man, wovon man sich schnell überzeugt, mit den 
Tonintervallen der temperierten Stimmung nicht entfernt aus. 
Die Melodie der Strophe schwebt meist blofs im Umfang eines 
Ganztons auf und nieder. Es handelt sich in unserem Falle 
bei dem Verhältnis der Hebungen zu einander oft nur um 
Achtel- bis Zehnteltöne. Senkungen entfernen sich nicht selten 
noch weniger von ihren Hebungen. Deshalb verwende ich 
folgenden Schlüssel. Die untere Notenlinie bezeichne das tem- 
perierte eis des Klaviere, 1 ) die dritte d, die fünfte dis. Dann 
steht auf der zweiten Linie eine Note, die die Mitte zwischen 
eis und d hält, in dem ersten Zwischenräume eine, die näher 
an eis, in dem zweiten eine, die näher an d liegt. Entsprechend 
auf der vierten Linie eine mittlere zwischen d und dis; in dem 
dritten Zwischenraum eine näher an d, im vierten eine näher 
an dis. So wird der Umfang des Ganztones eis — dis in 9 Teile, 
jeder also — V« Ton geteilt und nach diesen Werten die Ton- 
hohen des Gedichts bestimmt. Diese sind natürlich nur ungefähr 
richtig: sie schwanken immer noch im Umfang von V»— Vto Ton. 
Wo Noten auf derselben Linie oder in demselben Zwischenraum 
stehen, soll dennoch nicht immer völlige Identität der Töne 
behauptet werden: die Differenzen sind eben manchmal so klein, 
dafs sie selbst mit der Neuntelskala nicht genügend fixiert 
werden können. 

In manchen Strophen erhöht sich die Tonlage merklich. 
Dort wende ich einen dis- Schlüssel an, der nach demselben 
Princip wie der eis- Schlüssel gebaut ist 

Die Schlüssel sind also 

dis f--~_- 

d und « -■ 

et* di$ — 

Zur Bezeichnung der Töne selbst würde die Quadratnoten- 
schrift des römisch-katholischen Chorals vorzüglich geeignet sein. 
Sie kennt nur Tonhöhen, nicht aber Zeitwerte und besitzt in den 
sogenannten Ligaturen ein ausgezeichnetes Mittel, Mehrtönigkeit 
von Silben auszudrücken. Man vergleiche über sie den Magister 
choralis von X. HaberL Die Druckerei besitzt die Typen leider 



') Mein Instrument hat Pariser Stimmung. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 177 

nicht. Deshalb helfe ich mir so, dafs ich für die Senkung f f für 
die Hebung J anwende. Doch sollen diese Notenzeichen 
nur Tonhöhen ausdrücken. Jedes Quantitätsverhältnis 
denke man sich dabei völlig* weg. Die rhythmischen 
Quantitäten werden durch Striche verschiedener Länge 
und andere rhythmische Symbole besonders fixiert, die 
Gewichtsverhältnisse der Hebungen durch Punkte und Accente. 

Auch diese Bezeichnung der Silbenschwere und -dauer soll 
nur die wichtigsten Unterschiede festlegen. In Wirklichkeit sind 
die Schattierungen noch erheblich zahlreicher. 

Die Glieder der Reihen sind durch gröfsere Zwischenräume 
geschieden. Die Fuge wird stets, mag sie grofs oder klein sein, 
durch ; angedeutet. (;) bedeutet 'verdeckte Fuge' (unten § 13). 

Das Metrum der Strophe, ') das mit wenig Ausnahmen fest- 
gehalten wird, ist folgendes (mit den Fugen der Str. 1): 

I, 1. _ ^_JL_J__a | — L-_L; -JL„1 

— , ■ A | , 

11,3. _.' i 

Reimgebäude: 

a-b 

a — b. 

a - V~ 
c — c. 

Veränderungen finden sich nur in V. 57—72. Hier sind die 
Vorderreihen der Ketten 1—3 männlich (L 7 ), die Hinterreihen 
weiblich (I-t;). V- 71—72 sind beide Reihen der Kette 4 
stumpf (L 7;). Der Grund dieser Besonderheit wird in der Ent- 
stehungsgeschichte des Gedichtes zu suchen sein. 




§ 2. Der Text. 

Ich gebe die vollständige Notierung und Rhythmisierung 
des langen Gedichts, damit der Leser meinen Vortrag selbst 
kontrollieren kann und für eigene Versuche hinreichenden Stoff 
zur Einübung habe. 

') Vgl. über diesen Begriff oben S. 172. 

12 



178 



dis 

d 

eis 



1. 



Der Mor - gen kam; es scheuch-ten sei - ne Trit-te 



dis — 

ci* — - — 1 

den lei - 



m 



— \- 



0 



Schlaf, 



~ _ Ts 

lind um - fing, 



3. .._ 



» _ 



Dal's ich, 



erwacht, aus mei-ner 



stil-len 



m 1 



Hiit-te 



dia — K 

eis- 



ten Berg 



*> 



hi-nauf mit fri-scher See 



1 



ging; 



5. 



dt* 



# — »- 



ci*- v 



Ich freu - te 



mich 



bei ei-nem 



je 



deu Schrit-te 



dt d ; ' ^ / 

ci« 



6. _ 



der neu - en Bin - me die voll Tropfen 



hing; 



7. _ 

dis « T f — ß- 

CI* — - ■■ 



ß 0 



'• - A 



Der jun - ge Tag er - hob sich mit Ent - zük-ken, 



8. 

dis f-f- « 

d 0 ■ , 
eis / : 

und al - les war er - quiekt mich tu er - - quik-ken. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



179 



9. 

dis- 

d- 
cis — ✓ 



-0 — i- — 



Und wie ich 



stieg, 



:1t 



zog von dem Flufs 



der Wie 



10. _ 



d 
eis' 



ein Ne - bei 



sich 



] 



in Strei - fen sacht her - vor. 



11. 



dis 
ä 
eis- 



V 



Er wich und wech-sel 



mich zu um 



A 



12. 



dis 



d 
eis 



13. 



und wuchs ge- flu -gelt mir 



Haupt 



_ tili Ä" 



por: 



d 

cüs 



fr ~-=i 






-zf — ' — — j * —4- * — 

> -~:zzi^_=_ | | 









Des schö - nen Blicks sollt' ich nicht mehr ge - nie - fsen, 

^..(0 — ; — 



dis— 0 m 

d~ 



eis 



V- 



0- 0 

3=V 



0 



die Ge-gend deck-te 



mir ein 



trti - ber 



Flor, 



15. _ v _ 
dis 

eis — 



Bald sah ich mich von Wol - keil 



=-^^V*— 0^1 

>z==3---j=:.-^z j 



wie um 



gos - sen, 



16. 



V- 



^ _L. _ A 



und mit mir selbst 



in Dämm-rung ein 



- geschlos-sen. 
12* 



Digitized by Google 



180 



Franz Saran 




eis 



im Ne - bei 



Uefa sich 



ei - ne 



Klar - heit 



dis ■_- -V 
eis 



(;) 



p 



- 



s 



Hier sank er 



lei 



sich hin 



raaehwingea ; 



20. 



dis 



iL K 
X 



1§ 



-r 



cia- — i> 



hier teilt' er stei - gend sich um Wald und Höhn. 



21. 

<*w— - 

cw- 



0 0 



Wie hofft' ich 



ihr 



den er ■ sten Grufs zu brin-gen! 



22. 



dis - 
d 





t 























sie hofft' ich 



nach der 



Trü - be 



dop-pelt 



23. l_ 

dis — - — ß — #- 



d~ 0 



Der luft'-ge Kampf warlan-ge nicht voll-en - det, 



24. 
dis- 
d • 

eis — ✓ 



— - 



ein Glanz 



— i 



> / i 



um-gab mich und ich stand ge - Wen - det. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



181 



25. 



4. 



dis—- — 
eis — 1/ — l- 



m 



die Au 



gen 



Bald machte 



mich, 



auf - - zu-schla-gen, 



2G. 



dis- 

d- 
cis 



* 7\ 



ein inn - rer Trieb des Her - zens wie -der 



kühn, 



27. 



dis 
d 



Ich könnt* es nur 



-\ - 1- ' - - ✓ ■ 

mit 8chnel-len Blik-ken 



wa - gen, 



28. _ 



dis 
d 
eis 



±0 



denn al - les schien 



zu bren - nen 



und zu 



glühn. 



29. 



dis 

*: 

eis 



Da schwebte 



30. 

dis — 
d- 
eis~ 



(;) 



3 



mit den 



ein gött-lich Weib 



'■. ' a 



3 



Wol - ken 



-v — 0- 



0 

vor mei-nen 



her 



ge - tra-gen 



I 



Au - gen 



hin, 



31. 



dis 



eis 



Kein schö - ner 



Bild 



* 0 



sah ich in mei-nem Le-ben, 



32. 



dis~-±- 



L_ _ 7v 

ÖS 



—Nr 



sie sah mich 



und blieb ver - wei - lend sebwe-ben. 



Digitized by Google 



182 



Franz Saran 



33. 
f 



du 



• 



Kennst du mich nicht ? 



5. 



diu 



CtH 



■> : ' ' ' : 



0 ß »— I 



sprach sie mit ei - nem Mun - de, 



34. 



d 

ein 



(0 



ler Lieb' und 



Treu - e 



Ton 



fc^f*-g==r=$E=?^ ' - > i f | 



ent - Hofs: 



35. 



f 

e 

dis 



Erkeunst du 



mich, 



die ich in 



man -che 





0 — 


















mm = 











Wun-de 



3(5. 



dis 





J 

• 


-7 








— # 


s 




. - -; N - 


1 

# 11 



des Le-benB 



dir 



den rein - sten 



Sa 



sftin 



gofe? 



37. 



Du kennst mich wohl, 



an die, 



zu ew'-gem Bun-de, 



/- 



38. 

dein stre-bend 

39. 



Herz 



sich fest 



— s 




und fes 



ter 



schlofs. 



V: 



Sah ich dich 



nicht 



mit heil' - sen 



Her-zens - thrä-nen 



40. 



f: 

c 

düs 



T . 

• 



als Kna - be schon nach mir dich ei-frig seh-nen? 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



18:», 



6. 



41. 



V 



diu 

cm — 0- 



±A 



0^ 



Ja! 



rief ich 



aus, 



in -dem ich 



m 



se - lig nie-der 



42. 

dis- 



zur Er 



de 



> — 



sank, laug' hab' ich dich ge - fühlt; 



43. 



ci« — - — i — 



* 



Du gabst mir Ruh, wenn durch die jnn-gen Glie - der 



44. _ 

dis : * 

d \\ • 



< 



die Lei - den - schaft sich rast -los 



durch - ge- wühlt; 



45. _ jl 

■V* l * 



_(;) , 



Du hast mir wie mit 



himm - Ii - schein Ge - fie 



46. 



der 



dis 



eis 




am hei - Isen Tag 



die Stir - ne 



sanft 



ge- kühlt; 



47. _ 
dis — 0 • ß- 



d 
ein 



1^ 



JL _ * 



Up 



Du schenk -test mü- 



der Er - de bes - te Ga - ben, 



4a ._ 



dis 







- -ß ^-0 










✓ 7— 




— P=f=3 



et* 



und je - des 



Glück will ich durch dich nur 



ha - beu ! 



Digitized by Google 



184 



49. 
dis 



7. 



Dich nenn' ich nicht. Zwar hör' ich dich von vie - len 



50. 



dt* 

d 

eis- 



gar oft ge - nannt, und je - der heilst dich sein, 



51. 



dis 





a ß~ ß- 






- • ß f ri 


— p— 


* 









Ein je 



des 



52. 



An - ge glaubt auf dich zu sie - len, 



dis 
d 
eis 



t 



0 



ß^ß 



fast je - dem Au - ge wird dein Strahl zur Pein. 




Ach, da ich 



Ge - spie - len, 



54. 

dis- 0—0 

d — ßS — V- 



exs / 



da ich dich 



* 



<^ß~ 



ken-ne, 



bin ich 



fast al - 



lein; 



55. 



dis 

d 
eis 



— 



Ich mufs mein Glück nur mit mir 



selbst 



ge-nie-l'sen, 



56. 



dis 

d-^ß~ 
cis v 

dein hol - des 



I- / 



Liebt 



— i/ - 

ver - decken 



und ver - schlie-lsen. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 

8. 



185 



57. ± 



dia — 



Sie lä-chel - - te, 



sie sprach: du siehst, wie klug, 



58. 



- J"* 0 



5 



wie nö - thig war's, euch we - nig 



59. 



zu ent - hiil-len! 











— — — #— 

— ! ^ i- 





Kaum bist du 



si - eher vor dem gröb - sten Trug, 



60. 



f 
e 

dis 



-0 — 0- 



kaum bist du 



vom er - sten Kin-der - wil - len, 



61. 

f= 
di$^& 



— 



So glaubst du 



62. 



dich schon Ü - ber 



ge - nug, 



r. 







- ' ' - 













ver - säumst 



die Pflicht des Man-nes 



in er 



ful-len! 



63. 



f 

e 

di» 







_.|s — . — .~k 1 


■ — 






-f — 


-J=fL^z_:* * * 







Wie viel bist 



64. 



f 

t- 

dis- 



IT 



du 



an - dern 



un-ter - schie-den? 

_ 7\ 



er-ken-ne dich, leb' mit der 



Welt 



? 



Frie - den! 



Digitized by Google 



18G 



Franz Saran 



9. 




Ver-zeih mir, rief ich aus, ich meint' es gut; 



— X 


" -1 






— — 


• * 


*r |i 


0 * 








y^—l 


soll ich um - ■ 


sonst 


die Äu-gen 


of - fen 


h 


a-ben? 




Ein fro-her Wil - le lebt in mei-nem Blut, 











— ■ — t — - — \ — i 








: > 


i w -. 


, ■■- 


4—i — 


*> 






ich ken-ne 


ganz 


den Werth 


von dei-nen 


Ga-ben! 



69. _ JL.Ö- - -i- _ t; 

^=^^7— — — ^—7- v — ; 

di* =2 L Iz r ? * «g_2 ^=3L_J_^ 

Für an - dre wüchs't in mir das e - die Gut, 



70. t _ '•_(;) _ _ " 'j_ ' . 7\ 



f 

e 

diu 



i — J - 






-#— 












— y 




0 


-f — • 






V 















— 1*<- 




#— 




✓ — 




— — . — - — 

















ich kann und will das Pfund nicht mehr ver-gra-ben! 



71. 



f : 



V- 



• (;) 



N- 



m 



Wa - rum sucht' ich den Weg 



so sehn-suchts - voll, 



72. 


-•-0) 




/• 




fz=±z= 










jt* t V— 

wenn ich ihn 


nicht 


den Brü - dem 


zei - gen 


soll? 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



187 



10. 

Und wie ich sprach, sah mich das ho - he We - sen 



74. _ _ ~ — X 

dis- 
d~ 
eis 



mit ei-nem Blick mit-leid'-ger Nach -sieht an; 



75. 
diu — 

d'— 



eis * — — \/~ / *^ / 



Ich konn-te mich in ih-rem Au - ge le - sen, 



76. 



dia- 
d 
eis 



was ich ver - fehlt 



und was ich 



recht 



ge - tlian. 



77. _ j_ 



• ? 



- - 9 



Sie lach - el - 



da war ich schon gc - ne - sen, 



78. 



dis 



cw — 



Zu neu - en 



Freuden 



stieg mein Geist 



ß 

he - ran; 



' ' J 



79. 



dis- 
d 
eis- 



r+- -0- 



m 



Ich konn-te 



mit in - - ni - - gern Ver - - - trau - en 



80. 

dis 

d~~T 
eis — ✓ 



_'_ _ 7\ 



mich zu ihr 



L-_ 

nahn 



✓ 



-y— — i- 



ih - re 



Nä - he 



schau - en. 



188 



Franz Saran 



81. 



dis 
d 
eis 



Da reck-te 



11. 



sie die 



Hand aus in die 



Strei - fen 



82. 



dis 
d 



der leich - ten 



3Y 



Wul • 



-.1=3: 



und des Dufts 



83. 



_ i 



CM 



— v 



#i 



V- 



Wie sie ihn 



fafs-te, 



lieft 



sich er - - grei - fen, 



84. 



dt« 

d 
eis 



er liefs sich 



ziehn, 



es war kein 



Ne-bel 



85. 



dis- 
d 
cis- 



s 



Au - ge könnt' im 



Tha-le 



— s— 




wie -der Schwei -fen, 



86. _ _ 
<iw — .-£—0- 



eis 



* 0 



gen Him-mel blickt' ich, 



er war 



hell 



und hehr. 



87. 



dis 



eis 



Nur sah ich 



den rein - sten Schlei-er hal - ten, 




er flofs um 



sie 



und schwoll in 



tau - send Fal - ten. 



Digitized by Google 



Melodik and Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 

12. 



189 



89. 



Ich ken - ne dich, ich ken-ne 



dei 



90. 



- i 



Schwä-chen, 



dus — ✓ . 

ich weifs was Gu - tes 



in dir 



lebt 



und glimmt! 



91. __ _* 
dis— ~-ß- . 



— So sag-te 

92. _ 



sie, ich hör' sie 



wig spre-chen, — 



— > 



/■ 








d i* 







em - pfan - ge 



hier 



ich dir 



lau»;" 



be- stimmt, 



93. 

f— 



e 

dis- 



Dem Glück-Ii - chen kann es au 

94. ' ^ r : 



nichts ge - bre - chen, 



e- 
dis 













* 











der diel's 



Ge- schenk mit stil - 1er See - le nimmt: 



95. 



Aus Mor - gen - duft ge - webt und Son - nen - klar - heit, 



!Mi. 



rftt== 



' ! '• Ä 



der Dich-tung Schlei -er aus der Hand der Wahr- heit. 



Digitized by Google 



190 



Fran« Sarau 



97. 



13. 



dir 



und dei- 



len Freun - den schwtt - le 



98. 



am Mit -tag 



wird, 



so wirf ihn 



in die 



Luft! 



99. 



_ i 



— a 



:: - : 
JLJL 



So - gleich um - säu - seit A - bend - win - de» - ktih - le, 



100. 



(0 ^ 



nm - haucht euch Blum - en - - Wttra - - ge - ruch und Duft. 



101. 

f ^ 



0) 



I , — . .. ,-- _ ^ 

Es schweigt das We-hen ban-ger 



-0- 



Erd - - ge-füh - le, 



102. 

f — 



X. _» 



zum Wol - ken - - bet - te 



wan-delt 



sich die 



Gruft, 



103. 

f- 



— > 



JL _ X 



Le-bens - wel - le, 



«— IE 



0 

-. V — 



-v- 



Be - sauf - ti - get wird je - 



0 

de 



104. 



_j_ » 



der Tag wird lieb - lieh und die Nacht wird hei - le. 



uiyiiizeo 



by Google 



Melodik und Rhythmik der ' Zueignung ' Goethes. 

14. 



191 



105. 



dis 

CM- / 



— / 



So kommt denn, Freun - de, wenn auf ou - ren We - gen 



106. _, 
dis- V— 

CM- 



I 



3 



des Le-bens 



Kur 



schwer und schwe - rer drückt, 



107. 
dis 



f. 



CM— — 



Wenn eu 



re 



Bahn 



ein frisch - er -neu - ter 



Se 



gen 



loa 

dis — 



3=$ 



eis 



mit Bin 



ziert, 



mit gol - dnen Früchten schmückt, 



109. 



dis 



CM— ^ 



Wir gehn ver-eint dem näch-sten Tag ent - ge - gen! 



110. 



dis 



CM 

III. 
et* 



5 



so le • ben 



wir, 



so wan - dein wir 



be - glückt 



Und dann auch 



soll, 



-kel 



um uns 



112. _ . _ _JL_ 



eis 



w r — 



trau - ern, 



0 

-tr- 



ih - rer Lust noch un - sre 



Lie-be 



1 

dau - ern. 



192 



Frans Sarau 



Die Melodie. 

§ 3. Bemerkungen zur Melodie der Zueignung. 

Eine Versmelodik im vollen Sinne des Wortes aufzubauen, 
ist noch nicht möglich. Dazu bedarf es eines reichen Materiales 
von Aufzeichnungen einzelner Gedichtsmelodien. Der Forscher 
wird bei dieser Arbeit mechanischer Hilfsmittel zur mathe- 
matisch genauen Bestimmung der Intervalle dauernd nicht ent- 
raten können. Denn fehlt auch dem Vers eine Melodie, die auf 
eine Tonika bezw. Skala irgend welcher Art bezogen und an 
ihr gemessen werden könnte, so sind die Intervalle als solche 
wohl nicht gleichgilt ig. Ebenso wenig wie für den Rhythmus 
die Verwantschaft der Fufsproportion mit V — 1:1,2:1 oder 
3:2, obwohl dem Versrhythmus doch auch die Beziehung auf 
eine Masszeit irgend welcher Art abgeht. Sollte es für die 
Versmelodie nicht Ähnliches geben, wie die verschiedene Wirkung 
der Dominant- und Tonikaschlüsse in der Musik? Derartige 
Fragen lassen sich aber nur beantworten, wenn man die Ton- 
schritte der Versmelodie absolut genau kennt und nicht blofs 
angenäherte, wie ich sie allein bieten kann, zur Verfügung hat 
Hier mögen einige erläuternde Bemerkungen zu der vorstehenden 
Notation Platz finden. 

Die Melodie der Zueignung liegt für meine Stimme ziemlich 
hoch, wie überhaupt alle Gedichte Goethes. Dies ist offenbar 
einmal dadurch bedingt, dafs Goethe, dessen Frankfurter In- 
tonation die norddeutsche ») war, in Hochlage dichtete. Es kommt 
aber hinzu die Stimmung des Gedichtes. Bei meinem ersten 
Versuch, die absoluten Töne des Gedichtes zu bestimmen, notierte 
ich mit einem //-Schlüssel, also im Durchschnitt einen Ganzton 
tiefer. Diese Differenz ist nicht unbedeutend, weil es sich beim 
Sprachmelos, grol'se Erregung ausgenommen, meist nur um kleine 
Intervalle handelt. Aber ich hatte mich zuerst im Ethos ver- 
griffen und las mehr mit logischem als Stiinmungsaccent. Offen- 
bar war die Stimmung durch die Selbstbeobachtung zerstört 
worden und hatte sich ein Lehrton untergeschoben. 

Diese erste Intonation erwies sich auch sonst bei fort- 
schreitender Beobachtung als widerspruchsvoll und falsch. Ich 
kam unwillkürlich in eine andere, der jetzigen mehr ähnliche 



») Sievern, Sprachmelod. S. 24. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«. 



193 



Weise hinein, die sich mehr und mehr als die stilgemäfse offen- 
barte. 

Zur Kontrolle liefs ich meinen Kollegen Bremer (aus 
Stralsund) lesen, dessen natürliche Sprechweise zudem ungleich 
melischer ist als die meinige. Es ergab sich ohne weiteres die 
Tonführung, welche oben verzeichnet ist. Ich mufste sie nach 
verschiedenen Proben als die richtige anerkennen. Bei ihr ver- 
schwanden eine ganze Zahl von Besonderheiten mancher Verse: 
die Melodie des Gedichtes wurde auf einmal sehr einheitlich. 

Dasselbe Ergebnis hatten häufige Leseproben mit meiner 
Frau (aus Stettin), die ebenfalls ungleich melischer spricht als 
ich selbst. 

Beweisend für die Richtigkeit der oben mitgeteilten No- 
tation war mir vor allen Dingen die Vortragsweise meines 
Kollegen Sommerlad. Derselbe ist Frankfurter und hat, wie ich 
beim Nachlesen meines vor dem Versuch fertig gemachten Noten- 
textes völlig sicher feststellte, die Zueignung fast bis ins Einzelne 
der Tonführung hinein so gelesen, wie ich selbst. Einige Stellen, 
die in meinem Text von der sonst durchgehenden Melodiekurve 
abweichen, zeigten bei ihm dieselbe Intonation. Ein Beweis 
dafür, dafs der Accent der Stellen dazu Anlafs bietet. Auch ist 
mir nicht aufgefallen, dafs seine Intervalle hinsichtlich der 
Gröfse von den meinigen verschieden gewesen wären. 

Diese neue, stimmungsvollere Intonation liegt, wie gesagt, 
etwa einen Ganzton höher als die erste, mehr logische. Offen- 
bar hat die Stimmung die Töne höher getrieben, d. h. die 
für stimmungsvolles Aushalten der Stimmtöne nötige gröfsere 
Spannung der Stimmbänder bedingte eine Verschiebung. 

Die allgemeine Tonlage erleidet im Gedicht selbst noch 
Verschiebungen. Die Wahrheit spricht höher als der Dichter 
(dis- Schlüssel): sie wird als Weib offenbar durch höheres Register 
charakterisiert (Str. 5, 8, 12, 13). 

Aber auch die Intonation des Dichters ist in Str. 9 so hoch 
hinauf gestiegen, dafs ich in dieser Strophe ebenfalls den dis- 
Schlüssel anwenden mufste. Grund ist, dafs an dieser Stelle die 
Erregung des Dichters auf den Gipfel gelangt. Auch Strophe 10 
liegt noch verhältnismäfsig hoch: sie macht den Übergang zur 
Beruhigung. 

Eine Höhenveränderung geringerer Art findet sich in 
Strophe 14: die ruhigere Aufforderung V. 105/6 setzt tief ein. 

13 



194 



Franz Saran 



Je dringlicher und begeisterter der Dichter redet, um so höher 
steigt die Kurve, um so grüTser werden die Intervalle. 

Die melodische Bewegung der Hebungen folgt dem 
Schema • . • . • d. h. sie setzt fallend ein und schliefst steigend, 
und zwar in jedem Vers. Ob Vorderreihe oder Hinterreihe, macht 
keinen Unterschied. Man bemerkt die Verwantschaft dieser 
Melodieform mit dem Märchenton, dem Ton der stimmungsvollen 
Erzählung. In der Tat erzählt ja auch der Dichter ein Märchen, 
eine wunderbare Vision, die er gehabt hat. 

Meine erste Notierung (logischer Ton) hatte dagegen, 
wenigstens im Anfang, so lange das Gefühl für die Stimmung 

des Gedichtes noch nicht rein entwickelt war, die Form 
in den Vorderreihen, in den Hinterreihen also der Auf- 

stieg und Abfall der Aussage. 

Einige Ausnahmen von der normalen Bewegung giebt es. 

V. 33, 35, 36 und 39 ist der Frageton an dem Steigintervall 
schuld. V. 37 könnte man auch Fallschritt ansetzen: mir kam 
die notierte Melodie zunächst über die Lippen. V. 53 und 59 
klingen mir so, wie ich notiere, am natürlichsten. Auch Sommerlad 
las wiederholt so und erklärte, er halte es nach seinem Gefühl 
für das Richtige. Bei V. 59 habe ich aber hin und wieder mit 
Fallschritt gelesen. Möglich ist es auch. 

Am Ende der Reihe fällt der Ton V. 40, wohl um den 
Schlufs der Rede der Wahrheit zu bezeichnen. Vgl. V. 48. 

Frühere und gegenwärtige Notierung unterscheiden sich 
ferner in der Gröfse der Intervalle. Beim ersten Versuch waren 
diese sehr klein; sehr häufig schritt die Melodie in Neuntel- 
bezw. Zehnteltönen vorwärts. Jetzt zeigt sich lebhaftere Be- 
wegung. 

Auch die mehrtönigen Silben vermehrten sich bei der neuen 
Vortragsweise. Es sind Silben, die nicht auf einem Stimmton 
ruhen, sondern deren mehrere durchlaufen. Es kommen haupt- 
sächlich in Betracht der oder die Stimmtöne des Sonanten. Aber 
oft wirken noch Stimmtöne der Konsonanz mit Deutlich aller- 
dings nur die der Konsonanz hinter den Sonanten, z. B. in 
Wo-l-(ken), Be-r-{g) u. s. w., und zwar der Vokale, Liquidae, 
Nasale. Deshalb bezeichne ich auch blofs die Töne auf Sonant 
und folgendem Konsonant. Die Stimmtöne von Konsonanten, 
welche vor den Sonanten stehen, bezeichne ich nicht Sie sind 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



195 



zu kurz und undeutlich, z. ß. in W-(olkcn). Selbstverständlich 
wirken aber auch sie an ihrem Teile bei der Herstellung der 
Versmelodie mit. Ich gebe alle mehrtönigen Silben an, welche 
ich sicher erkannt habe. Eine scharfe Grenze zwischen mehr- 
und eintönigen Silben läfst sich kaum ziehen. Meine Notation 
ist in diesem Punkte nur relativ. 

Was das melodische Verhältnis der Senkungen zu 
den Hebungen betrifft, so bemerke ich: alle Reihen beginnen 
mit Steigschritt von der ersten Senkung zur ersten Hebung und 
schliefsen von der letzten Hebung zur nachfolgenden Senkung 
fallend oder eben. Einige Ausnahmen giebt es. 

V. 36 ist der Frageton schuld. V. 53 und 59 liegt der 
Grund in den Worten selbst. 

V. 40 schliefst der Vers steigend der Frage wegen. Eben- 
so V. 66. 

Ferner gilt im Versinnern die Regel: je enger sich eine 
Senkung mit einer Hebung verbindet, um so näher steht sie ihr 
in der Tonhöhe; merklicher Tonschritt trennt, kleiner verbindet 
Senkung und Hebung. Pausen, überhaupt tiefere Einschnitte, 
können natürlich der verbindenden Wirkung der Melodie ent- 
gegen arbeiten. Im besondern ist die Kleinheit der Intervalle 
zwischen Hebung und Senkung ein wichtiges Mittel, die pho- 
netische Bindung der Silben im Gegensatz zur historisch-etymo- 
logischen zu bewirken. Auch die Senkungen sind oft mehrtönig, 
doch nicht in so charakteristischer Weise wie die Hebungen. 
Ich bezeichne deshalb keine von ihnen als gleitend. 

Aus alledem ergiebt sich die Tatsache, dafs das Gedicht 
eine Art, fester Melodie hat. Die Tonbewegung ist im all- 
gemeinen für alle Verse dieselbe: allerdings die absolute 
Gröfse der Intervalle und die absoluten Höhen der einzelnen 
Töne sind verschieden. Die Zueignung gehört also zu den 
Gedichten mit gebundener Tonführung. ') 

Anhangsweise bemerke ich, dafs die Vergleichung meiner 
ersten und der jetzigen Notation einigen Stoff bietet, eine 
logische (didaktische) Versmelodie gegenüber der einer stimmungs- 
vollen (lyrischen) Erzählung zu charakterisieren. Dort die 

Hebungskurve . • . • ' | kleine Intervalle, weniger mehr- 

tönige Silben und etwas tiefere Tonlage; hier die durchgehende 

') Sievers, Spr&chmel. 27. 

18* 



Digitized by Google 



196 



Franz Saran 



Hebungskurve gröfsere Intervalle, viele deutlich mehr- 

tönige Silben und höhere Tonlage. Ähnliche Unterschiede wird 
auch das Melos der verschiedenen ethischen Accentuierungen 
aufweisen. 

Der Rhythmus. 

§ 4. Die Rhythmusart des Gedichtes. 

Das Gedicht hat 'gemischten' Rhythmus. 1 ) Es vereinigen 
sich darin orchestischer und sprachlicher. Rein orchestisch kann 
der Rhythmus der Zueignung nicht sein T da es sich bei ihr nicht 
um einen Text handelt, der wie der Kinderspruch zur Körper- 
bewegung gesagt wird. Ebenso wenig rein sprachlich. Denn 
das Gedicht ist versmäfsig, metrisch, und nicht rhythmische 
Prosa. Melischer Rhythmus kommt natürlich überhaupt nicht 
in Frage. 

In der Skala der Unterarten des gemischten Rhythmus 
steht das Werk auf der Stufe derjenigen, die dem reinen 
orchestisehen Rhythmus mit seinen strengen Verhältnissen und 
Formen nahe bleiben. 2 ) Das folgt sehon aus dem, was im 
Anfang über den Vortrag des Gedichtes im allgemeinen und 
besondern festgestellt worden ist und wird sich im einzelnen 
noch bestätigen. Es gilt also von diesem Gedicht Ähnliches wie 
das, was ich Jen. Hs. II. S. 110 ff. über die Lieder lehrhaften 
Stiles in der Jenaer Handschrift gesagt habe. Nur mufs man 
dabei bedenken, dafs sich reine Sprechpoesie immer verhältnis- 
mässig weiter vom orchestisehen Rhythmus zu entfernen liebt 
als das Lied. 

Der Rhythmus eines Gedichtes, d. h. dessen Gliederung, hat 
vier Bestandteile: eine ganz bestimmte Beschaffenheit und Ab- 
stufung der Silben hinsichtlich ihrer Schwere (Jen. Hs. II, S. 101 
und 108 f.) und ihrer Dauer; eine ganz bestimmte Zusammen- 
fassung der Silben und Silbengruppen, eine ganz bestimmte 
Beziehung der Silben und Silbengruppen nach dem Grundsatz 
der Wiederholung und Entsprechung. 

Nach diesen vier Merkmalen des Begriffes ist auch die vor- 
stehende Schematisierung vorgenommen. Sie drückt die rhyth- 
mische Gliederung des Gedichtes aus, indem durch Accente 

•) Vgl. über diesen Begriff die Erörterungen meiner Rhythmik § 8. 
«) Vgl. Jen. Hb. H, S. 107. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



197 



und Punkte die Schwere, durch Quantitätszeichen die Dauer, durch 
Zwischenräume, Klammern, Interpunktion und Bezifferung die Art 
der Zusammenfassung und zugleich der Entsprechung angedeutet 
wird. 1 ) Diese Art der Schematisierung unterscheidet sich also 
von allen früheren dadurch, dafs sie zum ersten Male sämtliche 
Merkmale des Rhythmus gleichzeitig berücksichtigt und die 
Gliederung durchweg bis ins Einzelne hinein verfolgt. 

Es ist nun die Aufgabe, die Ergebnisse der oben mit- 
geteilten Übertragung zusammen zu stellen. 

Ich mufs mich dabei der von mir aufgestellten Termino- 
logie bedienen, die ich zuerst in der Rhythmik der Jenaer Hand- 
schrift vorgelegt habe. Sie ist der Niederschlag langjähriger 
Forschung und Überlegung; ich habe sie, ehe ich sie mitteilte, 
lange und oft erprobt und als zweckmäfsig befunden. Man möge 
sie deshalb ihrer Neuheit und Reichhaltigkeit wegen nicht ohne 
weiteres bei Seite schieben. Der Ehrgeiz neue Termini einzu- 
führen, liegt mir sehr fern. Ich bin im Gegenteil nur allmählich, 
durch vertiefte systematische und historische Forschung ge- 
zwungen, von der üblichen metrischen Nomenklatur abgekommen. 
Denn diese Nomenklatur ist so gut wie in allen Punkten schief, 
in den meisten falsch. Sie wird von unsern Metrikern ganz 
willkürlich verwendet, ohne dafs sie sich um ihren eigentlichen 
Sinn, ihre wahre Bedeutung im geringsten bekümmerten. Ich 
meine aber, wenn man alte Termini verwendet, mufs man sich 
vor allem klar machen, was sie denn eigentlich besagen und 
nicht das hineinlegen, was man sich selbst darunter denkt oder 
derjenige, dessen Autorität man gerade folgt. Ich vermeide in 
dieser Darstellung die Ausdrücke Thesis, Arsis, Dipodie, Cäsur, 
Takt etc. absichtlich, weil ich ihren eigentlichen Sinn erkannt 
zu haben glaube, weil ich weifs, dafs sie mit dem, was der 
Metriker heutzutage darunter versteht, sehr wenig zu tun haben, 
und weil ich es für verderblich halte, diese ursprünglich klaren, 
jetzt aber ganz schillernden und verbrauchten Ausdrücke weiter 
zu schleppen. Sie dienen heute nicht mehr zur Aufhellung, 
sondern zur Verdunkelung der Tatsachen. 

Die folgende systematische Darstellung hat überall die 
Rhythmik der Jenaer Handschrift und mein Buch über den 



') Die Ziffern der Gruppen höherer Ordnung hahe ich nur im Metrum 
S. 177 hinzugefügt. Sie verstehen sich daraus in der Analyse von seihst. 



Digitized by Google 



108 



Franz Saran 



Rhythmus des französischen Verses zur Voraussetzung. Letzteres 
ist im Manuskript abgeschlossen und im Druck. Es wird, sehr 
bald erscheinen. In der Rhythmik und diesem Buche findet man 
die allgemeinen Erörterungen, auf die hier vielfach nur hin- 
gewiesen wird. Es wäre überflüssig, sie bei dieser Gelegenheit 
noch einmal ausführlich zu geben. Ich verweise namentlich auf 
die Untersuchung der Begriffe Thesis, Arsis, Takt, accentuierend, 
quantitierend, alternierend, monopodisch, dipodisch, welche sich 
in dem letztgenannten Buche finden. 

# 5. Das rhythmische Element. 

Das Element der ganzen Dichtung ist natürlich die Silbe 
und zwar nicht die grammatische, sondern die Silbe, insofern sie 
ganz bestimmte rhythmische Eigenschaften hat, also die rhyth- 
mische Silbe. 

Die Reihe der rhythmischen Silben unseres Gedichtes zerlegt, 
sich nun ohne weiteres in 2 Schichten: die der schlechthin schweren 
(Hebungen) und schlechthin leichten (Senkungen). Das sog. 
accentuierende Princip des deutschen Verses, welches seit Opitz 
ja wieder in der deutschen Verskunst allein mafsgebend ist, 
lehrt diese Scheidung ohne weiteres vollziehen. 

Die Silben jeder der beiden Schichten sind auch unter ein- 
ander verschieden. 

1. An Gewicht. Es finden sich relativ leichte Hebungen, 
z. B. (wechselte V. 11, (lächetyte 57 und dann mit zunehmender 
Schwere: sei-(ne) 1, ich 3, ei-(nem) 5, mich 15; die 6, war 8, 
von 9, wie 15; (hin)-auf 4, mehr 13, schien 17; (einge-)schlos-(scn) 
16, (durc}i£ii-)drin-(gcn) 17, stand 24; scheuch-(ten) 1, je-(dcn) 
5, lci-(sen) Schlaf (ge-)lind (um-)fing 2; {Ent)zük-{ken) 7, Ne~(beT) 
10, gött-(lich) Weib 30. Die wichtigsten Unterschiede werden 
durch die Zeichen •_ 1 - L ' angedeutet. Ebenso verschieden 
ist die Schwere der Senkungen. Man findet die Skala: (sei-)nc 
(Trit-)tc, (Mor-)gcn (scheuch-)ten 1; ge-(lind) 2. er-(wacht) 3; 
sich 7, icJt 5, Entzücken) 7, hin-(auß 4; mir {Dämmerung 16, 
(Klar-)heit 18; voll 6. bald 15. Die schwersten Senkungen sind 
immer die, welche durch sog. 'schwebende Betonung'') aus 
grammatisch -accentuellen Hebungen hervorgehen. Also z. B. 



») Vgl. unten § 16. 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



199 



zog 9, Kennst spracfi 33, Sah 39, Ja! 41, lang' 42, Ach 53, 
leb' 64, suchf 71, »m7- 74. Umgekehrt sind auch die Hebungen 
immer besonders leicht, die durch denselben Vorgang aus 
accentuellen Senkungen entstehen. Vgl. Rh. d. frz. V. § 14. Die 
Senkungsschwere konnte in unserem Falle nicht mit symbolisiert 
werden. Sie geht im wesentlichen mit der Senkungsdauer parallel. 

Man pflegt die Schwereunterschiede der Senkungen nicht 
durchweg zu berücksichtigen, höchstens besonders gewichtige 
Silben (' Nebentöne ' etc.) zu beachten. Das ist jedoch unrichtig. 
Die Mannigfaltigkeit der Senkungsgewichte trägt in gleicher 
Weise wie die der Hebungsschwere zum Rhythmus bei. 

2. In der Dauer. Gewöhnlich läfst man im germanischen 
und deutschen Sprechvers diesen Bestandteil des poetischen 
Rhythmus ganz aufser Betracht, weil man glaubt, in 'accen- 
tuierenden' Versen spiele die Quantität keine Rolle. Dafs dies 
nur ein Misverständnis der bekannten Ausdrücke ' accentuierend ' 
und 4 quantitierend ' sei, habe ich anderswo gezeigt. 1 ) Die Dauer, 
als wesentlicher Bestandteil des Rhythmus, mufs in allen Fällen 
ebenso beobachtet werden wie die Schwere. 

In unserem Gedicht scheiden sich die rhythmischen Quanti- 
täten im allgemeinen so, dafs die Hebungen etwas länger sind 
als die Senkungen. Jedoch ist das Verhältnis einer Silbe zur 
benachbarten nicht derart, dafs es sich nach der iambischen 
oder trochäischen Formel 1:2 (._,_) bezw. 2:1 (_^) richtete. 
Vielmehr hält es sich in der Mitte zwischen dieser und der 
spondeischen (_ _ 1:1) Proportion. Hebung verhält sich zu 
Senkung etwa wie ltyi : 1 — 8 : 2. 

Selbstverständlich soll die Formel 3 : 2 nur den all- 
gemeinen Eindruck festlegen. Denn diese Proportion wird 
nicht selten stark verschoben (V. 6 die voll = 2:3; 16 mit mir 
= 1:1), und aufserdem kann sie in der Stilart des Gedichtes 
gar nicht mathematisch genau eingehalten werden. 2 ) Es Ist ja 
gerade das Wesen aller, selbst der rhythmisch am meisten ge- 
bundenen, reinen Sprechpoesie, dafs ihre Silbenzeiten auf keine 
Mafszeit bezogen werden können, dafs in ihr jeder XQ<> V0 $ 
jrpwrow, mensura oder Taktzeit fehlt. 3 ) Man darf nur behaupten, 



») Rh. d. frz. Vers. § 15. 
») Vgl. Rh. § 27. 

') Frz. Vers. § 15. Sieyers, Metr. St. S. 43. Rh. § 8, S. 107. 



Digitized by Google 



200 



Franz Saran 



dafs die Zeitverhältnisse jenen mathematischen bis zu einer 
gewissen Grenze, die zu überschreiten vom Übel ist, angenähert 
werden, damit das Ebenmäfsige und Schwebende, das Ruhige 
und doch innerlich Bewegte des Gedichtes zum Ausdruck komme. 
Man vergleiche Goethes Gedicht 'Der Musensohn' W. A. I, S. 23: 
es ist wesentlich spondeisch, dazu geht es in viel schnellerem 
Tempo. 

Man beachte wohl, dafs es sich hier, wo von 'Silbendauer' 
gesprochen wird, durchaus nicht um die grammatische 
Quantität der Silben handelt, sondern wie in aller Metrik, 
allein um die rhythmische,') d. h. um diejenige, welche 
eine Sprachsilbe als Element einer Rhythmopöie und an einer 
bestimmten Stelle derselben hat. 

Ich unterscheide, um den Eindruck des Gedichtes besser 
beschreiben zu können, 3 Arten von rhythmischen Längen, 
die ich nach Analogie der grammatischen benenne: Länge, Über- 
länge, Halblänge. Mit der Syllaba anceps der Antike hat die 
Letztere aber nichts zu tun. ebenso wenig wie die andern Be- 
griffe mit _, - oder _ der Alten. Denn diese antiken Werte 
gelten nur in Beziehung auf einen *(>oroc xodrcog. 

Von diesen 'schlichten' Längen sind die zu unterscheiden, 
welche durch Zusammenziehung 2 ) der Zeit einer Hebung und 
folgenden Senkung entstehen; Symbol sei L, wobei man nicht 
an 4 *(>oro<, sondern lediglich an eine Dauer = Hebung 
+ Senkung denke. Ev. auch solche, welche der nächsten 
Senkung nur einen Teil ihres Wertes nehmen, d. h. 'punktierte' 2 ) 
Längen (- vgl. J.). 

Beispiele für Hebungslängen. Überlänge: kam 1, Schlaf 2, 
stieg 9; sie steht oft vor scharfer 'Cäsur'. (ge-)flä-(gelt) 12, 
Klar-{heit) 18, sehnsuchtsvoll) 71. Oft findet sie sich auf der 
vorletzten Silbe weiblicher Verse: seh-(nen) 40, vic-{lcn) 49. 

Länge: sclwu-{chten) 1, ich 3, fri-(schei') 4, je-(den) 5, (er-) 
hob 7, wech{-selte) 11. 

Halblänge: Trit-(tc) 1,3) Uüt-(tc) 3, et-(ncm) 5, mit 7. 

' Zusammenziehung ' fast immer an den Schlüssen der 'männ- 
lichen ' Verse. Darüber unten § 14. 

l ) Vgl. Frz. Vera § 15. Rh. § 23, S. 134. 
a ) Vgl. § 14. 

») Ich gebe dem t 'schwach geschnittenen Accent' und halte das t ein 
wenig ans. I - scheint mir unschön. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 201 



'Punktierung' ist nicht selten: -mensch ge- (1J) 61, recht 
ge- (L ^) 76, selbst ge- 55, lang' be- 92 u. ö. Vgl. ebda. 

Für die Senkungen kommen in dem Gedicht nur die 
schlichten Längen in Betracht. Überlänge: mich 8, Kennst 33, 
Ja! 41, lang' 42, Ach 53, (sehn-)suchts-(voll) 72. Es sind Fälle 
schwebender Betonung oder solche, wo stark nebentonige Silben 
in Senkung stehen. 

Länge: Dafs 3, voll 6, sollf 13, Bald 15. 

Halblänge ist in der Senkung weitaus am häufigsten. 

3. In der Fülle. Diese beruht LW. auf dem Zusammen- 
wirken von Schwere, Dauer und Artikulation (legato). Eine 
Silbe kann ' schwer* und dabei mager, z.B. Trit-(te) 1, Senkung 
und dabei relativ voll (Kennst 33) sein. Ebenso kann sie relativ 
lang und mager (schon 61) sein. 

Besonders voll sind schwere, überlange Hebungen, z. B. 
Sclüaf 2, Weib 30. Besonders mager leichte und kurze Senkungen 
wie (sei-)ne, (scheuchten 1. Zwischen beiden Extremen liegt 
eine ganze Skala von Unterschieden. 

§ 6. Das Glied. 

Glieder sind diejenigen Stücke einer Rhythmopöie, die sich 
bei der Zergliederung als rhythmische Teile erster Ordnung 
ergeben. Sie enthalten mindestens und andererseits nie mehr 
als eine Hebung. Sie sind je nach der Zahl der hinzutretenden 
Senkungen einsilbig oder mehrsilbig. Dafs man sie lediglich 
nach dem Ohr und nicht nach den etymologischen Wortgrenzen 
ansetzen müsse, hat Sievers nachgewiesen. >) Vgl. Rh. § 20. 

1. Die Glieder unterscheiden sich in ihrer Form. Folgende 
Gliedformen giebt es in unserm Gedicht: 

a) die einzelne gehobene Silbe L 

b) das steigende Glied -L 

c) das fallende Glied JL_ 

d) das steigend -fallende Glied 

Beispiele brauche ich nicht anzuführen. L bildet überwiegend 
das zweite Versglied (vor dem Verseinschnitt). Es findet sich 
oft auch in den Bünden der Form 3 + 1 + 3 oder 2 + 1 + 2. 



») Phon. § 623 ff. Metr. Stud. § 33 ff. 



Digitized by Google 



2u2 



Franr Saran 



2. Durch die Schwere ihrer Hebungen. Nr. a) findet sich 
als (lüchel-)te 57, 1 dich 64, 1 nicht 23, L kam 1, ' nicht 49. 
Nr. b) entsprechend als an die 37, _1 sprach sie 33, 

du siehst 57, _ ' sie sjn-ach 57. Nr. c) _ deine 89, - _ unter 
63, JL_ um uns 111, L_ eifrig 40, ^_ Balsam 36. Nr. d) 
mi* einem 33, wenn eure 107, _ 1 wur mit* mir 55, _1 _ 

au/" einmal 17, rfie Sonne 17. 

3. Durch ihre Gesamt dauer. Denn sie sind verschieden 
lang, je nachdem sie aus Längen, Halblängen, Überlängen oder 
verschiedenen Mischungen daraus bestehen. 

Nr. a) - {lächel)te 57, — wir 110, ganz 68, wohl 37. 

Nr. b) sie sprach 57, sprach sie 33, nicht mehr 

70, verein* 109, ein /"mc/i- 107. Nr. c) -- *w enf- 58, 

deine 89, die voll 6, /lei/itf dien 50, - manche 35, 

— Klarheit 18. Nr. d) mit einem 33, du 

kennst mich 37, - - für andre 69, so sehnsuchts- 71. 

Besondere Wirkungen macht die Punktierung einer Hebung 
nebst entsprechender Verkürzung der nächsten Senkung. Z. B. 
_, ^ (Uber-)mensch ge-(nug) 61, san/*< ge-(kühlt) 46, recM <jre-(fan) 
76, /an^ beistimmt) 92, nichts ge-(brechen) 93, seW>s* ge-(niefsen) 
55, durchge-(wühlt) 44, dicÄ ge-(fühlt) 42 u. ö. Dieser Eindruck 
entsteht besonders, wenn die ganz kurze Partikel <7e- hinter 
langer und überlanger Hebung steht. 

4. Durch ihre Fülle. 

Mager ist z. B. ein Glied wie (lächel)-te 77, voller schon 
mich 5, ihr 21 und besonders kam 1, Schlaf 2, sftey 9, Weit 30. 
Entsprechend: dafs ich 3, und wmcäs 12, gar oft 50, ein Glans 
24; 6ei einen» 5, und wie ich 9, erÄoft sicJi 7, geflügelt 12, in 
Dämmrung 16, mitleidger 74; in die 98, deine 89, SeeZe 94, 
schauen 80, Nachsicht 74. 

5. Durch die Art des Zusammenhangs ihrer Elemente, d. h. 
durch Enge und Weite. Vgl. unten § 12. 

Alle diese Unterschiede der Glieder dienen natürlich dem 
Rhythmus: die Schwere stuft Hebungen gegen einander ab, die 
Fülle fördert das Gleichgewicht entsprechender Teile, Weite 
sondert die Bünde und markiert die Reihenanfänge u. s. w. Aber 
zugleich dienen sie auch dem Ethos der Verse und Versstellen. 
Das Kennst du mich (nicht) V. 33 mit seiner leichten Hebung, 
schweren und überlangen ersteu Senkung und Gliederweite drückt 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



20.t 



den ebenen Accent der freundlichen, verwunderten Frage aus. 1 ) 
Das zog von dem V. 9 mit seinen nivellierten Gewichtsverhältnissen 
malt das Ziehen des Nebels, und so wird man fast durch- 
gehends finden, wie der Rhythmus mit dem Ethos aufs engste 
zusammenhängt, wie sich Schwere, Dauer, Verbindungsart aus 
dem Ethos der betreffenden Stellen erklären. 

Von dem Begriff des * Gliedes' ist der des 'Fusses' streng 
zu scheiden. Ich habe beide in der Jenaer Handschrift immer 
noch nicht genug auseinander gehalten. Wenn man im Verse 
von jeder Gruppenbildung absieht und die Silbenreihe lediglich 
auf ihren Gewichts- und Quantitätswechsel hin betrachtet, so 
stellt sich dieselbe i. A. als ein fortgesetztes Leicht -kürzer, 
Schwer-länger, Leicht-kürzer, Schwer-länger, Leicht-kürzer u. s. w. 
dar, d. Ii. als eine Periode (im physikalischen Sinne), deren 
Element aus Leicht -kürzer + Schwer -länger besteht. Greift 
man nun beim Skandieren diese Verbindung Leicht -kürzer -f 
Schwer -länger heraus und orientiert sich an ihr über den 
Lauf der Periode, so hat man den Fufs. Schematisch aus- 
gedrückt: 

i t i t 

— ■ i — — — — — - • • • • — • 

Dies Periodenelement _ ' ist der Fufs in dem Sinne, den das 
Wort in der modernen Metrik hat. Bei den Alten fehlte in 
dem Begriff der Bestandteil der Schwere. Fufs ist also kein 
Teil der Rhy thmopöie, sondern ein — aus praktischen 
Gründen ausgesonderter — jener Periode. Er wird nur beim 
Skandieren als etwas besonderes herausgehoben. Für den unbe- 
fangenen Hörer existiert er überhaupt nicht. 

§ 7. Das Bund. 

Über den Gliedern, in der nächst höheren, zweiten Ordnung 
stehen die Bünde. Es sind diejenigen rhythmischen Gruppen, 
welche sich unmittelbar aus Gliedern zusammensetzen oder 
welche gleich solchen Gliedern sind, die im rhythmischen 
System derartigen Gliederverbindungen entsprechen (Glieder in 
der Funktion von Bünden). 

Es giebt 2 Arten Bünde: Haupt- und Nebenbünde. 
Ihr Unterschied folgt aus ihrem Verhältnis zur Reihe, die in 

l ) Wer nach dem grammatischen Accent Kennst du mich nicht? liest, 
«erstört das Ethos der SteUe. 



Digitized by Google 



204 



Franz Saran 



unserem Gedicht zugleich Vers ist. Der eigentliche Grund der 
Scheidung liegt in der Formenbildung des orchestischen Rhythmus, 
der ja historisch einen wesentlichen Bestandteil der Gliederung 
aller Verspoesie ausmacht. 

Im orchestischen Rhythmus giebt es 3 Arten von Reihen: 
1. den Vierer und Dreier, 2. den Zweier und Einer, 3. den 
Sechser und Fünfer. Der Zweier zerfällt lediglich in Glieder, 
der Einer ist mit einem solchen identisch. Die Reihen der 
Klasse 1 teilen sich im allgemeinen nur in Hauptbünde, nach 
dem Schema 2 + 2 oder 2 + 1 bezw. 1+2 Hebungen. Die der 
Klasse 3 dagegen gliedern sich normaler Weise in 2 + 4 bezw. 

4 + 2 und 2 + 3 bezw. 3 + 2 Hebungen, d. h. in einen langen 
und einen kurzen Teil. Der kurze Teil ist wie die Reihen in 
Klasse 2 zu behandeln. Der lange dagegen wie die in Klasse 1, 
d. h. er hat oder kann haben noch eine besondere Gliederung in 
2 + 2 oder 2 + 1 bezw. 1 + 2 Hebungen. Eben diese Unterteile 
der langen Stücke sind die Nebenbünde. 

Im orchestisch-sprachliehen, also dem gemischten Rhythmus 
liegen die Dinge ganz ähnlich. Der Vierer kann hier aufser in 
2 + 2 oft auch in 1 + 3 oder 3 + 1 geteilt werden. Dann lassen 
sich wohl auch im Vierer, natürlich blofs in seinem langen Teil, 
Nebenbünde erkennen. 

Da die 'Zueignung' aus Versen besteht, in denen sich 

5 Hebungen deutlich ausprägen, kommen für sie sowohl Haupt- 
wie Nebenbünde in Betracht. 

Im Vierer und Dreier sind die Bünde entweder mehr oder 
minder scharf ausgeprägt^ z. B. Sah ein Knab ! ein Röslcin stehn, 
als ich noch ein i Knabe icar, da steh icJi nun \ ich armer Tor, 
den ich so manche i Mitternacht, an meinem Pult l Jierangewacht, 
oder sie fehlen ganz: so hold und schön und rein; wenn, in dem 
blauen Kaum verborgen,*) oder sie sind nur so angedeutet, dals 
sie den Eindruck der Reihe nicht wesentlich bestimmen. 

Die Mittel, diese Blindgliederung herzustellen, sind sehr 
mannigfaltig. Abstufung der Schwere und Dauer, melodische 
Bindung, scharfe syntaktische Gliederung u. s. w. werden in 
verschiedener Weise kombiniert. 

Wenn auch nicht selten Vierer und Dreier vorkommen, in 
denen man überhaupt keine Bünde unterscheiden kann, so giebt 

') Goethe, An die Entfernte, W. A. I, S. 60. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«. 



205 



es doch wohl kein Gedicht, keine Versart, die lediglich solche 
' bundlosen ' Reihen nmfafste. Man darf deshalb nur zwei rhyth- 
mische Stile des Dreiers und Vierers unterscheiden: 1. einen, 
in dem die Bundteilung beabsichtigt und für den Kindruck des 
Verses wesentlich ist, in dem sie sich daher dem Ohre aufdrängt 
('bundmäfsige' Verse), 2. einen, in dem sie zufällig ist und 
gegen die Gliederabfolge zurück tritt, sodafs sie nicht als etwas 
Besonderes bemerkt wird ('gliedmäfsige' Verse). Sievers 
bezeichnet den Unterschied mit 'dipodisch' und ' monopodisch ', 
Ausdrücke, die ich vermeide, weil sie der antiken *oi'c -Lehre 
entstammen und eigentlich etwas anderes bedeuten, als hier 
gemeint ist 

Zur Art der ' bundmäfsigen ' Rhythmen gehören unverkenn- 
bar die Reihen von ' Haideröslein ', 'Der neue Amadis', 'Stirbt 
der Fuchs', zu der der 'gliedmäfsigen' z. B. nach Sievers' Ansicht 
die betrachtenden Teile von Schillers 'Glocke'. 1 ) 

Beim Fünfer und Sechser liegt es etwas anders. Diese 
Verse sind so gut wie immer deutlich in 2 Hauptbünde ge- 
gliedert. Z. B. Der Morgen harn; l es scheuchten seine Tritte, 
beicundert viel und viel gescholten Helena. Offenbar verträgt 
die Länge dieser Verse eine Bildung nicht, bei der die Haupt- 
bünde fehlen. 

Demnach müfsten diese Reihen immer 'bundmäfsig' heilsen. 
Aber der besondere Eindruck, den 'bundmäfsige' Vierer oder 
Dreier machen, würde hier mit diesem Worte doch nicht be- 
zeichnet. Der lange Teil der Sechser und Fünfer ist gleich 
einem Vierer oder Dreier, und dieser lange Teil kann seinerseits 
jene eben hervorgehobenen Unterschiede der vier- bezw. drei- 
hebigen Verse aufweisen, d.h. 'bundmäfsig' (deutlich in Neben- 
bünde zerlegbar) oder 'gliedmäfsig' (mit vorherrschender Glieder- 
teilung) gebaut sein. Nun steht auch der kurze Teil jener 
langen Reihen, das zweihebige Hauptbund, zwar nicht in seiner 
rhythmischen Funktion, wohl aber an Umfang und Bau den 
zweigliedrigen Nebenbünden nahe. Ist der lange Teil also bund- 
mäfsig, so wird überhaupt der ganze Vers diesen Eindruck 
machen. Ist der lange Teil gliedmäfsig, so wird der kurze Teil 
dennoch den gliedmäfsigen Eindruck nicht ganz aufheben. Durch 
Ausgleichung der Hebungsschwere u. a. kann der Dichter im Gegen- 



*) Sieven, Metr. Stud. I, S. 60. 



206 



Franz Saran 



teil die gliedernde Wirkung dieses zweihebigen Bundes etwas 
abschwächen und den Gesamteindruck des Gliedmäfsigen fördern. 

Demnach rede ich nun schlechthin von ' bundmäfsigen ' oder 
'gliedmäfsigen' Fünfern und Sechsern, damit ihren durch den 
langen Teil bestimmten Charakter bezeichnend. Die Verse der 
Zueignung sind ' bundmäfsig (Sievers: dipodisch). Dagegen sind 
die Fünfer der Iphigenie und des Tasso gliedmäfsig. Sie haben 
auch eine ganz andere Melodie als die unseres Gedichtes, nämlich 
die Hebungskurve 

Vergleicht man die zweihebigen Bünde, d. h. die Neben- 
bünde und das kürzere Hauptbund, im Verse der Zueignung mit 
denen in Weltseele, im Haideröslein und Neuen Amadis, so fällt 
ein Unterschied ins Ohr. Diese sind im Verhältnis zu unseren 
von schnellerem Tempo und geringerer Fülle, vor allem — 
was freilich in die Melodik gehört — weniger melodisch; im 
allgemeinen werden sie leichter bemerkt, als die Bünde in 
der Zueignung. Sievers hat diesen Unterschied Metr. Stud. I, 
S. 60 f. erörtert. Er scheidet beide Arten von Dipodien als 
'rhythmische oder leichte* und 'melodische oder schwere'. Die 
Ausdrücke passen nicht völlig, weil natürlich beide Arten von 
'Dipodien' rhythmisch und melodisch sind, und weil es nicht 
sowohl auf die Schwere in dem Sinne, wie ich das Wort brauche, 
ankommt, sondern auf das was Fülle (Volumen) genannt 
werden mufs. 

Die zweihebigen Bünde der Zueignung gehören zur Art 
der 'vollen Bünde'. 

Nachdem der rhythmische Stil und die rhythmische Funktion 
der Bünde des vorliegenden Gedichts ermittelt ist, gilt es jetzt, 
die tatsächlich vorhandenen Formen derselben festzustellen und 
nach ihren wesentlichen Merkmalen zu beschreiben. Eine genaue 
Statistik bildet die Grundlage der Beschreibung. 

Dieselbe richtet sicli zunächst auf die Gruppierung der 
Silben in den Bünden: durch Ziffern und algebraische Symbole 
wird sie ausgedrückt. Dann auf die Abstufung der Hebungs- 
schwere. Hierbei sind zweigliedrige und dreigliedrige Bünde zu 
trennen. 

In zweigliedrigen Bünden giebt es nur drei Möglichkeiten 
der Hebungsabstufung: die erste Hebung ist schwerer als die 
zweite (. . L . . ! . . «), leichter als die zweite (. . 1.. L . . ß) oder 
ebenso schwer wie diese (. . L . . L . ./). 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 207 

In dreigliedrigen Bünden giebt es der Möglichkeiten ungleich 
mehr. Folgende Typen kommen hier in Betracht: 

. a 
. c 
. d 

. f (Hebungscrescendo) 0 
• 9-*) 

e . . L . . 1 . . 1 . . kommt im Gedicht nicht vor, ebenso wenig wie 
b weil beide Typen die dritte Hebung mit dem 

Keime zu sehr herabdrücken würden. Die Bezeichnung der 
Schweretypen a—c folgt der von Sievers für den Alliterations- 
vers eingeführten. Vgl. auch Jen. Hs. II, S. 141. Kleine 
lateinische Buchstaben wähle ich hier, weil es sich um Bünde, 
nicht wie dort um Reihen handelt. 

Durch diese typische Abstufung der Hebungen in bund- 
mäfsigen Versen entsteht der Unterschied von 'Haupt-' und 
4 Nebenhebungen '. Für gliedmäfsige Verse fällt er weg. Unter- 
arten der Typen a — e ergeben sich je nach dem Gewichts- 
verhältnis der Haupthebungen. Ich bezeichne sie durch Ex- 
ponenten zu den Buchstaben. Also . . ' . . 1 . .1 . ,a l d. h. erste 
Haupthebung schwerer als die zweite; . . — . . .1 a 2 ; . . L . . 
_l..JL..a 3 d.h. beide Haupthebungen gleich schwer. Verse, die 
wie z. B. die der Zueignung aus einem zweigliedrigen -f einem 
dreigliedrigen Bund bestehen, werden charakterisiert wie folgt: 

y c* ..L.. _L.. i 1.. 

a*ß ..1. I u.s. w. 

Silbengruppierung und typische Hebungsabstufung sind be- 
grifflich zu trennen. Wie mannigfaltige Bundformen durch ihre 
Verschlingung entstehen, zeigen die Tabellen. 

Die Versschlüsse und _1 stehen sich rhythmisch 

gleich, wie unten § 8 gezeigt wird. Ich rechne beide deshalb 
als dreisilbig. 

') Das Hebungsdecrescendo fällt hier mit d 1 zusammen. Es fragt sich, 
ob man es auch im vollständigen Vierer oder Sechser anerkennen darf; als 

oder ähnlich. Der Endreim ist diesem Typus an sich nicht 

sehr günBtig. 

*) Dieser 'ebene Typus' dürfte für den Stil der 'mageren' Bünde nicht 
passen. Er hat seinen Platx wohl nur im vollbündigen Versstil. Doch bleibt 
dies noch »u 



Digitized by Google 



208 Franz Saran 

Statistik der Bundformen. 

I. Die eingliedrigen Nebenbünde (Sa. 99 1 )). 

Dreisilbige (Sa. 51). 

a) im Versinnern: 

_1_ 31 

1_ 1 7 11 15 22 25 28 56 58 63 66 72 85 89 98 111 
-!L- 16 17 21 36 39 44 47 60 62 87. 

b) am Versschlufs: 

9 19 23 51 53 55 93 
24 49 64 96 

c) am Versschlufs: 

Z 76 

_1 2 34 61 82 86 90 92 
12 20 52 78 110. 

Zweisilbige (Sa. 47). 

a) im Versinnern: 

_■ 37 

_1 33, 71 
_1 38 57 68 70 95 
1- 105 
'-- 29 81 101. 

b) am Versschlufs: 

1_ 3 32 35 40 41 43 45 48 73 75 79 80 83 91 97 103 

104 112 
Ii- 27 99 107 109. 

c) am Versschlufs: 

L 6 14 18 30 59 74 84 102 108 
L 50 65 67 100. 

Einsilbige (1). 

L 8. 

II. Die zweigliedrigen Nebenbünde (Sa. 99). 

a) 1 + 3 (Sa. 7): a L 16 17 21 25 29 101 

_ < w ■ 44. 



>) = 112 Verse minus die 13 mit bundlosem langen Teil, nämlich V. 13 
27 69 77 (Vorderreihen); 4 10 26 42 46 54 88 94 106 (Hinterreihen). Diese 
eingliedrigen Nebenbünde sind «Glieder' in der Funktion yon 'Bünden'. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 209 

b) 2 + 1 (Sa. 14): a • 11 

ß ■ _. L 12 20 21 52 82 80 90 96 
_ L 19 

1_ 1 53 05 78, 1_ i: 51 

2 + 2 (Sa. 35): u») 1_ 39 47 60 GG 87 

_^ 1 72, .1 36 

£M) • _ 1 15 31 56 58 105, 1_ 1_ 7 62 89 

_1_ 63, ^_ 85 111 

• _ L 28, ■ _ i 98 
« 1_ 83, 1_ ^_ 102 

i_ ■ _ 45 67 

1- 100, 1_ '._ 99 

0 . _ L- 6 14 18 22 59 104 

_1 _Zl 70 

_1 57 

2 + 3 (Sa. 1): « -L -1- 107 

c) 3 + 1 (Sa. 13): « _1_ 49 110, _ 1 61, _ I_ 1 

23 95 

0 _ . _ i 2 9 64 93, L 76 92 

_1_ 1 55 
y _1_ 1 34 

3 + 2 (Sa. 29): aO! -1- -71 _1_ 138 

0i) _ • _ 1_ 33 68 

7 0 _1_ 1 37 

a - _ 8 79 81, _J._ I_ 50 

_1_ 1_ 109 

0 '__ 3 5 30 35 40 41 43 73 75 80, 

_ ■ _ iL- 48 

_1_ L- 97, _1_ 1_ 84, 1_ 32 

74, 91 103 

_1_ 108 

y 1_ 112. 

III. Die zweigliedrigen Hauptbünde (Sa. 112). ') 

a) 2 + 2 l ) (Sa. 3): ß 81. (' ') £3 26. 
2 + 2 (Sa. 6): a (' •) 71. ('• ') 62. 



>) Versschlufs. 

>) Kursiv = Versschlufs L. 

14 



Digitized by Google 



210 



ß (• ') 3. 0- ') 109. 
7 50 94. 
2 + 3 (Sa. 3): « w ('• ') 24 90. 
ß„ (' 12. 

b) 3 + 1 (Sa. 71): a (*■ ') 15 25 75 91. ( v *) 27 79. (' ') 5 10 
35 44 47 57 61 63 77 88 89 92 93 103 110. (' ') 
4 36 40 58 64 87 98. (' 17 21 28 85 111. ('■ ') 
42 69. 

ß (• % ) 39 72. (• ') 33 66 74 76. C ') 9 73 80 84 
97 107. (" ') 16 41 55 60. (' '•) 32 37 43 48 49 
56 68 70 112. 

7 1 2 7 13 23 30 31 34 38 46 108. 

3-f2«) (Sa. 4): a ('• ') 95. 

ß (• ') 8 11. ("•) 65. 
3 + 2 (Sa. 25): « w (' •) 45. (' •) 29. ('■ 102. ('• ') 14 
18 105. 

ß~ (•') 83. (• '•) 53 54. (* ') 59 99. ("•) 20 
51 100. 

7 ^ 6 19 52 67 78 82 86 96 101 104 100. 

IV. Die dreigliedrigen Hauptbünde (Sa. 112). 

a) (1 + 2) + 3 (Sa. 1): a 3 100. 

b) (2 + 1) + 3 (Sa. 12): c> 19 51. c* 12 20 24 52 96. 78. 

c 3 86* 90. 82. 53. 
2 + (1 + 3) (Sa. 2): d 3 29 101. 

(2 + 2) + 2 (Sa. 10): a* 83. 102. 07. a 3 45. 99. c< 6'. c 3 
14 18 59 104. 

2 + (2 + 2) (Sa. 1): a* 105. 

2 + 2 + 2 (Sa. 2): f 54. 
^ 106'. 

2 + (2 + 3) (Sa. 2): a* 57 70. 

2 + (3 + 2) (Sa. 6): a' 33. a 3 68 107. 

ci 71. c 3 37. 

d* 38. 
2 + 3 + 2: c 3 69. 



') Veraschlufe. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' (Joethes. 211 

c) (8 + 1) + 2*) (Sa. 1): a* 95. 

(8 + 1) + 3 (Sa. 12): a* 49. 110. 61. 23. 

c» 55 76 02. c* 64. c* 2 9 93. 
9 34. 

3 + (1 + 3) (Sa. 5): d* 25. d» 16 17 21 44. 

3 + 1 + 3 (Sa. 5): f 13 42 77. 
g 10 40. 

(3 + 2) + 2«) (Sa. 1): a*„ 81. 

(3 + 2) + 2 (Sa. 22): a* 50. a» 79. 27 109. 

c» 48 91. c3 3 30 35 40 41 43 73 75 80. 
97. 32 74. 112. 108. 

3 + (2 + 2)0 (Sa.1): rt 3 ^ 22. 

3 + (2 + 2) (Sa. 21): a* 31. 7 89 .08. a' 1 15 28 50 58. 03 
85 111. 62. 
d* 72 66. <*3 39 47 60 87. 103. 

3 + 2 + 2') (Sa. 1): f 26. 

3 + 2 + 2 (Sa. 4): f 5. 

g 4 88 04. 

(3 + 2) + 1«) (Sa. 1): a> 8. 

3 + (2 + 1)0 (Sa. 2): a' (15. 
d> 11. 

Aus dieser Übersicht ergeben sich folgende Eigenschaften 
der Bünde. 

Von den 99 eingliedrigen Nebenbünden sind dreisilbig 
51, zweisilbig 47, einsilbig nur L Von ihren Hebungen sind 95 
schwer, d. h. 1:, L oder v ; 4 leicht, d. h. 1 oder • . Da der 
lange Teil der Fünfer 7, seltener 6 Silben enthält, so darf in 
der Neigung, die Silbenzahl dieser eingliedrigen Nebenbünde 
möglichst grofs und die Hebungen schwer zu machen, ein 
Streben gesehen werden, die beiden Nebenbünde des langen 
Teiles tunlichst ins Gleichgewicht zu bringen. 

Die 99 zweigliedrigen Nebenbünde zeigen folgende 
Silbengruppierungen : 



») Vorderes Bund. 

14* 



Digitized by Google 



212 



Franz Saran 



2 + 2 35 Mal 

3 + 2 29 „ 

2 + 1 Ii „ 

3 + 1 13 „ 

1 + 3 7 „ 

2 + 3 1 „ 

Auch liier ist das Streben nach möglichst gleichmäfsiger Ver- 
teilung merklich: 3 + 1 und 1 + 3 d. h. die am meisten ungleich- 
mäfsigen Formen verhalten sich zu den andern wie 20 : 79. 
2 + 2 ist am beliebtesten. 

Von den Nebenhebungen dieser Bünde sind 50 leicht, 43 
schwer (==•- _'J oder ' ). Die grofse Zahl schwerer Nebenhebungen 
erklärt sich daraus, dafs die Zueignung 'volle' zweigliedrige 
Bünde hat. 

An Gewichtstypen giebt es 

a 34 
ß 02 
7 3 

d. h. die steigende Form ß ist stark in der Überzahl. 

Die 112 zweigliedrigen Hauptbünde (fast alle am 
Versanfang) zeigen: 

3 + 1 71 Mal 
3 + 2 29 „ 

2 + 2 9 „ 
2 + 3 3 „ 

Das Streben nach rhythmischem Gleichgewicht (möglichst grofser 
Entsprechung) streitet hier mit dem absteigenden Charakter der 
Gliederfolge (vgl. unten S. 220); relativ ebenmäfsige Formen ver- 
halten sich zu den andern daher wie 41 : 71. 

Von den Nebenhebungen sind 03 schwer, 49 leicht: d. h. 
der Anfang des Verses, der kurze Teil, wird schwer gemacht, 
offenbar um dem langen besser die Wage halten zu können. 
Bei den zweigliedrigen Nebenbünden verhielten sich schwere 
Nebenhebungen zu leichten = 43 : 50! 

An Schweretypen finden sich 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueiguung' Goethes. 



213 



« 46 
ß 42 
/ 24. 



Die zweigliedrigen Nebenbiinde hatten «34, ß 62, y 3. Man 
sieht daraus, insbesondere aus der grofsen Zahl von y bei den 
zweigliedrigen Hauptbünden, dafs diese weder entschieden steigen 
noch entschieden fallen. Da aufserdem ihre Nebenhebungen, wie 
oben festgestellt worden ist, vorwiegend schwer sind, so will sie 
der Dichter möglichst eben und schwer bilden, offenbar um das 
rhythmische Gleichgewicht der Reihe zu fördern. 

Von den 112 dreigliedrigen Hauptbünden, fast alle 
am Ende der Verse, sind 13 bundlos; bundmäfsig sind demnach 
nur 99. 

Formen der Gruppierung: 



3 + 4 


27 


Mal 


5 + 2 


22 




3 + 3 


15 


» 


4 + 3 


12 


n 


4 + 2 


11 


n 


2 + 5 


8 


•• 


2 + 4 


3 




5 + 1 


1 





Die Formen mit relativem Gleichgewicht sind etwas häufiger 
als die andern, --- 53 : 46. 

Die Haupthebungen beider Nebenbünde sind mit Ausnahme 
von 4 durchweg schwer. 

Häufigkeit der Schweretypen: 



o 38 Mal 
C 44 „ 
d 14 „ 

f 6 . 
9 7 „ 



Die Schweretypen sind im einzelnen 



nach den Typen 

a« 1 Mal 

a« 16 „ 



nach der Häufigkeit geordnet: 
c' 27 Mal 



« 3 21 „ 




214 



Franz Sarau 



nach den Typen 



nach der Häufigkeit geordnet: 



a* 21 Mal 



a 2 16 Mal 



d> 12 „ 
9 7 „ 
f 6 . 



c« 10 „ 

c 2 7 „ 

c> 27 „ 

d> 5 „ 



<* 3 12 B 

• ' 10 n 

9 7 „ 

7 „ 

<* 2 5 „ 

f 6 . 

ai 1 „ 



Charakteristisch ist, dafs der rein fallende Typus d l 
überhaupt fehlt, der wesentlich fallende a { (--!-) nur einmal 
vertreten ist. Bevorzugt werden die Typen, deren Schwerpunkt 
in der Mitte des Bundes liegt (c, d' 1 ), oder deren Haupthebungen 
gleich schwer sind (a 3 , d-\ g). 



In der dritten Ordnung des rhythmischen Systems stehen 
die Reihen. Sie sind in der Zueignung durch Reim und Ab- 
setzen im Druck äufserlich vollkommen gekennzeichnet. 

Der metrische Charakter der Reihe ist alternierend. 2 ) D. h. 
die Silben, Glieder. Bünde müssen sich so vereinigen, dafs Hebung 
und Senkung im Versinnern streng einsilbig bleiben und regel- 
mäfsig mit einander wechseln. 

Wie im Metrum des Verses Leicht -Schwer einander stetig 
ablösen, so ferner noch die Quantitäten Kürzer -Länger. Ihre 
Proportion ist ungefähr 2 : 3. Vgl. oben S. 199. Der Fufs der 
Reihe ist demnach _ ' . 

Die Verse haben jeder fünf deutlich ausgeprägte Hebungen 
und sind teils 'weiblich' teils 'männlich'. Aber mit 5 W und 5 
wären sie doch nur unvollkommen beschrieben. Hinter den 
meisten weiblichen und allen männlichen Reihen steht Inter- 



») Ebenso ja auch e. 

*) 'Alteruierender Rhythmus', 'alternierende Verse' sage ich, wie man 
auch von •alternierendem Fieber' spricht. Dieser Gebranch des Wortes ist 
freilich sekundär, aber kurz und bezeichnend. Einen besseren Ausdruck für 
Verse dieser Art habe ich bis jetzt noch nicht gefunden. 



§ 8. Die Reihe. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«. 



215 



punktion, hinter den männlichen fast immer sehr starke. Die 
Verse sind syntaktisch meist scharf von einander abgegrenzt. 
In der Tat mufs man beim Lesen beinahe hinter jeder Zeile eine 
merkliche Pause machen, um den sinn- und stilgemäfsen Eindruck 
des Ganzen hervorzubringen. Diese Pause gehört zum Rhythmus, 
ihr Wert wird mit als rhythmisch gefühlt. Sie ist also eine 
rhythmische Pause,«) und zwar beträgt dieselbe meist etwa so 
viel, wie die Zeit einer Hebung ausmacht (— x). 2 ) Doch ver- 
halten sich männliche und weibliche Reihen verschieden. 

Die weiblichen sind nämlich nicht selten mit der folgenden 
Zeile so eng verbunden, dafs für eine rhythmische Pause keine 
Zeit bleibt. Es wird nur eben abgesetzt, die Grenze zu markieren: 
die Endpause ist 4 tot'. 3 ) Manchmal ist die syntaktische Ver- 
bindung auch so, dafs nur für eine kurze rhythmische Pause, 
etwa = '/■> Hebung, Zeit bleibt (— a). Die Schlüsse der 
weiblichen Verse haben demnach die Formen _ L _ a und _ L _ A 
und 

Die männlichen Verse sind immer scharf abgegrenzt. Sie 
haben alle, mit einer Ausnahme, am Ende 7:. Aber aufserdem 
wird in ihnen durchweg die letzte Silbe, die fünfte Hebung, so 
weit gedehnt, dafs sie die Zeit einer Hebung + Senkung (= .1) 
beansprucht. Die Schlüsse der männlichen Reihen sind also 
_ L 7; bezw. _1. 

Diese Behandlung der Schlüsse macht tatsäcldich die Verse 
trotz ihrer verschiedenen Silbenzahl im allgemeinen gleich lang 
und trägt nicht wenig dazu bei, dem Gedicht den Charakter 
grofser Ruhe zu geben. 

Von den 68 weiblichen Versen haben 

a) den Schlufs -L „7-: 8 13 16 17 19 21 24 31 32 40 47 
48 51 53 55 56 58 60 62 63 64 66 68 70 75 77 80 83 85 87 
88 89 91 95 96 99 101 103 104 109 111 112 (Sa. 42) 

b) den Schlufs _ 1_ A : 7 11 15 23 25 27 29 37 39 45 93 
(Sa. 11) 

c) den Schlufs 1 3 5 9 33 35 41 43 49 73 79 81 
97 105 107 (Sa. 15). 



») Rh. § 25. 

*) Die Dauer der Pause ist wie die der Hebung je nach dem Zusammen- 
hang verschieden : hing, halblang, überlang (bo z. B. V. 63). Bei der Schema- 
tisierung konnten die Unterschiede im Druck nicht ausgedrückt werden. 

») Rh. § 9. 



Digitized by Google 



21G 



Franz Sarau 



Von den 44 männlichen haben 

a) den Schlufs -L 2 4 6 10 12 14 18 20 22 26 28 30 
34 3t> 38 42 44 46 50 52 54 50 61 65 67 69 71 72 74 76 78 
82 S4 86 90 92 94 98 100 102 106 108 110 (Sa. 43). 

b) den Schlufs 57 (Sa. 1). 

Demnach haben von den 112 Versen des Gedichts 85, fast 
2 /.n ? den Umfang eines vollen Sechsers. 11, d. h. 1 , 0 , sind um 
V 2 Pause ( A ), 16, d. h. um eine volle Pause (7-) kürzer. 

Wie hat man diese Verhältnisse rhythmisch zu deuten? 
Offenbar sind nicht gänzlich verschiedene Versformen in dem 
Gedicht vereinigt, sondern es handelt sich nur um Variationen 
ein- und derselben Grundform, des Sechsers. Die Formen auf 
_±_- sind die bekannten ' katalektischen ', die auf _ 1a die 
' brachykatalektischen \ Aber die andern? Man bedenke, dafs 
jeder 'Vers' zur Art des gemischten Rhythmus gehört, also Be- 
standteile der orchestisehen und sprachlichen Gliederung vereinigt. 
Verse der Art, wie sie die Zueignung enthält, sind ausgegangen 
von streng orchestischen Formen, von Reihen, die zum Tanz, 
Reigen oder Marsch gesungen wurden. Diese haben sich später 
von der Körperbewegung frei gemacht und sind, nach Abstreifung 
der Melodie, in die Klasse der poetischen Rhythmen eingetreten, 
welche ein rein orchestisches Gefüge durch Nachgiebigkeit gegen 
den sprachlichen Rhythmus verändert haben. *) Die Veränderung 
betrifft neben vielem andern besonders die Zeit Verhältnisse. Die 
Reihen können innerhalb gewisser Grenzen verkürzt und ver- 
längert werden, da ja der Wegfall der Körperbewegung erlaubt, 
die alte Form dem Sinn und Ethos zu Liebe zu modifizieren. 
Die Quantitäten werden aus verhältnismäfsig strengen, verhältnis- 
mäfsig freie, angenäherte, und vor allem fällt jede Beziehung 
auf eine Mafszeit weg. 

Eben darum erscheint in unserm Gedicht an denselben 
Stellen der Strophe bald der volle Sechser, bald der Fünfer mit 
überschiefsender Senkung bezw. überdehnter fünfter Hebung, bald 
eine in der Mitte zwischen beiden stehende Form. Eben deshalb 
wird auch die Fufsproportion 2 : 3 immer nur annähernd ein- 
gehalten. 2 ) 



•) Rh. § 8. 
') Rh. § 27. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



217 



Die Reihen des Gedichtes sind demnach als 'katalek tische' 
bezw. * brachykatalektische ' Sechser mit den Modifikationen des 
poetischen Rhythmus zu bezeichnen. 

Ihrer inneren Gliederung nach besteht jede Reihe aus 2, 
im allgemeinen sehr deutlich geschiedenen Hauptbünden. Das 
kürzere, zweihebige, steht fast immer voran (105 Mal), das längere 
schlierst den Vers. 

Die Fälle, in denen das längere Bund voranstellt, sind im 
Ganzen 7;>) sie sind also völlig in der Minderzahl. Ihre Er- 
klärung wird in dem § 15 noch gegeben werden. Hier genüge 
die Bemerkung, dafs diese Gliederung nicht aus der orchestischen 
Urform stammt, sondern eine ist, die sich erst nach dem Über- 
tritt in die Art des 'gemischten' Rhvthmus entwickelt haben 
kann. Sie wird offenbar dem Einflufs der sprachlichen Gliederung 
(Accent) verdankt. 

Folgende Reihenformen kommen vor. Ich scheide dabei 
gleich Yorderreihe und Hinterreihe der Kette. 



Die Formen der rhythmischen Reihe. 

Vorderreihe. 1 ) Hinterreihe. 9 ) 

a) 2 + 2 2 + (3 + 2) a c 1 : 71 a) 

2 + 2 (3 + 2) + 2 ßa*: 109 2 + 2 (3 + 2) + 2: 

pc*: 3 

yah 50 

2 + 2 3 + (2 + 2) ßü 3 : G2 
2 + 2 3 + 2 + 2 a g: i 
yg: 94 

2 + 3 (2 + l) + 3 a^ch Ü4 

a^ch 90 
ß^c*: 12 

b) 3 + 1 2 + (2 + 3) «a*: 57 b) 3 + 1 2 + (2 + 3) 

ßah 70 

3 + 1 (2 + 3) + 2 ß a*: 107 



') Abteiinns: c) der folgenden Tabelle. 

J ) Die kursiven Ziffern in der Rubrik der Vorderreihen bezeichnen die 
stumpfen Verse (L). 

s ) Die kursiven Ziffern in der Rubrik der Hiuterreihe bezeichnen die 
klingenden Verse ( L _ ). 



3 + 1 2 + (3 + 2) 

0 a 2 : 33 
ß c 3 : 37 
3 + 12 + 3 + 2ac s : 69 

3 + 1 (3 + l)-f-3a a\ 61 

a c 3 : 93 

ßah 49 
/Sc«: 55, 
0 c 3 : 9 
7 a 3 : 23 

3 + 1 8 + (l + 3) «d 2 : 25 

ad 3 : 17 21 

8 + 1 S + l + S aft 77 

7/-: 13 
3 + 1 (3 + 2) + 2 aa 3 : 79 

ac 1 : 91, 
ac 3 : 35 75 
ßch 41 43 73 97 



3 + 1 3 + (2 + 2) auT-. 89 
aa 3 : 15 63 85 111 
ad 3 : 47 87 103 
ßd*: 39 60 

7 a 2 : 7 31, 7 a 3 : 1 
3+1 3 + 2 + 2 «a 3 : 27 

af: 5 

3 + 2 (2+ l) + 3 0 w c': 51 

ß^c*: 53 
/uC 1 : 19 

3 + 2 2 + (1 + 3) a^<P: 29 

7^d 3 : 101 



3 + 1 2 + (3 + 2) 

0 a 3 : 68 

3+1 2+3+2 

7d 2 : 38 
3 + 1 (3 + 1) + 3 a a 2 : 110 

a ci : 92, 
a c 2 : 64 
0 c': 76 

/ c 3 : 2 

3 + 1 3 + (1 + 3) «>: 44 

ßd*: 16 
3 + 1 3 + 1+3 af: 42 
ag: 10 

7<7: 46 
3 + 1 (3 + 2) + 2 a c 3 : 40 



0 c': 48 84 
/9 c 3 3,2 74 80 112 
7 c 3 : 30 108 
3+1 3 + (2 + 2) aa 2 : 98 

aa 3 : 28 58 
ad 3 : 36 
ßa\ 56 
0d 2 : 66 72 

8 + 1 8 + 2 + 2 ag: 88 

3 + 2 (1 + 2) + 3 0^a 3 : 100 
3 + 2 (2 + l) + 3 ß^c>: 20 

7^c 2 : 52 78 06 
7^c 3 : 82 86 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



219 



3 + 2 (2 + 2)-f2 a^a?: 45 3 + 2 (2 + 2) + 2 «^a*: 102 

a^c 3 : 14 18 

ß^a*: 83, ß^a\ 99 
ß ^ c 3 : 59 

f^aT-: 67 y^c': 6, y^c 3 J04 

3 + 2 2 + (2 + 2) a^o 2 : 105 

3 + 2 2 + 2 + 2 ß^f: 54 
y^fir: IOC 

c) (3 + 1) + 2 3 + 2 a'a: 95 c) 

(3 + 2) + l 3 + 2 a*ß: 8 

3 + (2 + 1) 3 + 2 aiß: 65 

(Pß: 11 
(3 +2) + 2 2 + 2 a^ß: 81 

3 + (2 + 2) 2 + 2 a 3 w 7: 22 
3 + 2 + 2 2 + 2^0: 20. 



Die Reihen haben folgende Formen: 



4 + 3 + 4 


26 Mal 


4 + 5 + 2 


21 




5 + 3 + 3 


13 


•• 


4 + 4 + 3 


12 


« 


4 + 7 


12 


tJ 


5 + 4 + 2 


10 




4+2 + 5 


7 




5 + 2 + 4 


4 




3 + 3 + 5 


2 


- 


5 + 6 


2 


n 


5 + 1 + 5 


1 


» 


3 + 4 + 4 


1 


•• 


7 + 4 


1 





d. h. am seltensten sind die Gruppierungen, in denen das relativ 
längste oder doch ein sehr langes Nebenbund hinten steht: 
4 + 2 + 5, 3 + 3 + 5, 5 + 1 + 5, 3 + 4 + 4 (Sa. 11). Häutiger 
sind absteigende Schemata wie 5 + 3 + 3, 5 + 4 + 2, 4 + 4 + 3 
(Sa. 35). Die Mehrzahl machen Formen mit Wechsel von Länger 
und Kürzer: Sa. 51. Die zweibündigen Verse (15) stehen für sich. 

Ferner: wenn man im Verse die Bundteilung nicht beachtet, 
sondern allein die Folge der Glieder ins Auge fafst, so ergiebt 



220 



Franz Saran 



sich, dafs im Versinnern sehr viel öfter Hebung + Senkung als 
Senkung + Hebung gebunden wird. Die dreisilbigen Glieder 
_JL._ stehen deshalb meist so, dafs sie diese 'absteigende' Be- 
wegung fördern, d. h. am Anfang oder Schlufs des ersten, am 
Anfang des zweiten Bundes. 1 ) Diejenigen Gliederungsformen, 
deren Bau es zuläfst, Hebung mit folgender Senkung am 
häufigsten zu binden (3—4 Mal, weil die Schlufshebung hier 
nicht mit in Betracht kommt), sind deshalb in der Überzahl: 



.3 + 2 + 24-2 + 2 — 17 
3 + 1 + 3 + 2 + 2 = 42 
3 + 2 + 2 + 1+3 = 11 



■-= 70. 



Solche, in denen nur das Glied .'. im Versinnern vorkäme, gibt 
es überhaupt nicht. Das äufserste ist 3 -maliges Auftreten, 
nämlich 2 + 2 + 2 + 3 + 2 (1 Beispiel). 



§ 9. Die Kette. 

Uber der Ordnung der Reihen steht als nächst höhere die 
der Ketten. 2 ) In unserem Gedicht besteht jede Kette nur aus 
2 Reihen, die sich als Vorderreihe und Hinterreihe zur Einheit 
des Ganzen verbinden. Symbole für dieselben seien q — b. 

Den Ausdruck 'Vordersatz' und 'Nachsatz' möchte ich ver- 
mieden wissen. Er bezieht sich ursprünglich nur auf die Melodie- 
gliederung und ist rhythmisch nicht eindeutig. 

Das Gedicht enthält 5G Ketten: allemal 4 bilden eine 
Strophe. 

Die Ketten heben sich deutlich von einander ab: die Vorder- 
reihe hat die Schlüsse --- a, die Hinterreihe 
-Lt.. Die Reimordnuug ab ab ab cc folgt diesen Schlüssen. 

Nur in der Mitte des Gedichtes ändert sich der Bau der 
Ketten, von V. 57—72. In diesen Strophen hat die Vorderreihe 
jedesmal den Schlufs L 7 ,, die Hinterreihe _1_ x. V. 63/64 hat 
die Sehl urskette wie sonst den Ausgang ... .'. _ * , 71 72 dagegen 
- - A- Die Strophen sind wohl nachgedichtet, 



') Vgl. dazu noch § 12. Siehe auch Keitr. 23, 70. 
») Vgl. Rh. § 16. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



221 



Auch durch den Sinn schliefsen sich je 2 Reihen zur 
Einheit der Kette zusammen: hinter den Reihen von gerader 
Ziffer ist immer der stärkere, hinter denen von ungerader der 
schwächere Sinneseinschnitt. 

Im Bau der beiden vereinigten Reihen finden sich manche 
Unterschiede, die wohl mit ihrer verschiedenen Funktion als 
Vorder- oder Hinterreihe zusammenhängen. 1 ) 

Die Reihen haben folgende Formen: 

Es verhält sich die Zahl der Vorderreihen mit dem kurzen 
Hauptbund 



2 + 2 zur Zahl der Hinterreihen 

3 + 1 „ 

2 + 3 „ „ 

3 + 2 „ 



3 : 3 
39 : 32 
0:3 
11 : 14. 



Vorderreihe: 



Hinterreihe: 



4 + 3 + 4 

4 + 5 + 2 

4 + 4 + 3 

4 + 2 + 5 

5 + 4 + 2 

4 + 7 

5 + 2 + 4 
5 + 3 + 3 
3 + 3 + 5 



n 



IG Mal 
11 

6 
5 
5 
5 
4 
3 
2 



4 + 3 + 4 

4 + 5 + 2 

5 + 3 + 3 
4 + 7 

4 + 4 + 3 

5 + 4 + 2 

4 + 2 + 5 

5 + 2 + 4 
3 + 3 + 5 



10 Mal 

10 „ 

10 „ 

7 „ 

6 n 

5 n 

2 „ 



5 + 6 

5 + 1 + 5 

3 + 4 + 4 

7 + 4 



'1 
1 
1 
1 



Aus der Vergleichung der Gruppenformen ergiebt sich, dafs die 
mit wechselndem Bundumfang, z. B. 4 + 3 + 4 oder 4 + 2 + 5 in 
der hinteren Reihe seltener sind als in der vorderen: V: II — 38 : 22, 
während die mit absteigenden (5 + 4 + 2 u. a.) Umfangsziffeni 
daselbst häufiger vorkommen: V : II — 8 : 15. Die in der Mitte 
stehende Form 4 + 4 + 3 ist in beiden Reihen gleich häufig (6 Mal). 
Es ist offenbar in der Hinterreihe eine leise Tendenz da, das 
längste Nebenbund an den Anfang des langen Teiles zu bringen. 



•) Vgl. die Tabelle des § 8. 



222 



Franz Saran 



Ferner finden sich in der hinteren Reihe auch mehr Formen 
ohne Bundteilung im langen Teil: 4 4-7 in V: II — 5:7. 

Über die Verteilung der Hebungsschwere giebt 
folgende Tabelle Auskunft: 



1. Kurzer Teil vorn (Sa. 105). 



I Vonler- 
reihe 


Hinter- 
reibe 


Vortler- 
reihe 


Hinter- 
reibe 


a a 1 


— 


— ßd* 


— 


— 


a* 


3 


3 (P 


— 


2 


a 3 


8 


3 tf 3 


2 


1 


«c« 


2 


1 -f / 




i 
i 




— 


2 </ 






C 3 


4 


4 y a 1 






ad* 


— 




3 


1 


d* 


1 


— . a» 


2 


— 


(P 


5 


2 yc « 


1 


1 


*f 


2 


1 c* 




3 


9 




3 c 3 




6 


ßa* 




— yd« 






a* 


3 


1 d' 




1 


O 3 


3 


3 d* 


1 






2 


3 7f 


1 








2 9 




4 


c 3 


"S 


4 








2. 


Langer Teil vorn (Sa. 7). 




a 3 « 


1 






1 


a*ß 


1 


d*fi 


1 




a*ß 


1 


- 00 




1 


a*ß 




1 







Schliefsen wir die 7 Verse der Tabelle 2 von der Betrachtung 
aus, so ergiebt sich:') 



') 1 Vers ist mir verloren gegangen. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«. 



223 



Vorderreihen mit a : Hinterreihen mit a = 25 : 19 

ß : „ „ ß = 19 : 17 

/ : n „ / = 8 : 16, 



d. h. der kurze Teil hat in der Vorderreihe mehr charakteristische 
Bewegung: in der Hinterreihe ist er stärker ausgeglichen. 



Vorderreihen mit a 



r 



n * 
n f 
n 9 



Hinterreihen mit a 

c 
d 

f 



- 



y = 



22:11 
18 :2G 
9:0 
3:2 
0:7, 



d. h. in der hinteren Reihe werden die Typen häufiger, die den 
Schwerpunkt mehr nach dem Ende rücken (c). Die andern (a d) 
nehmen z. T. sehr deutlich ab. Vor allem nehmen zu die ebenen 
Formen, genau wie die y im kurzen Teil. 

Innerhalb der Typen a — d verhalten sich die 



1 

2 
3 



5:5 
10: 15 
34 



d. h. auch hier tritt die Neigung zu Tage, den Schwerpunkt der 
Hinterreihe ans Ende zu verlegen. Tendenz zur Ausgleichung 
mehr im langen Teil der Vorderreihe. 



Vereinigt man die §6—9 gewonnenen Merkmale der Kette 
und ihrer Teile zu einer Gesamtbeschreibung, so würde das 
Resultat sein: 

Das Metrum der Kette ist 

Die Kette zerfällt in Vorder- und Hinterreihe. Erstere ist 
4 weiblich ', diese ' männlich ', wenige Ausnahmen in der Mitte des 
Gedichtes abgerechnet. 

Ihrer Funktion entsprechend sind beide rhythmische Stücke 
verschieden gebaut. 



224 



Franz Saran 



Hinsichtlich der kurzen Bünde überwiegen in der Vorder- 
reihe (a) die silbenänneren, in b die silbenreicheren. Von den 
dreigliedrigen Bünden enthält a mehr die mit wechselnden, 
b mehr die mit absteigenden Ziffern: b ist also bestrebt, die 
silbenreichen Glieder möglichst in die Nähe des ersten, kürzeren 
Bundes zu setzen. Umgekehrt verlegen die b die schwerste 
Hebung lieber nach dem Ende des langen Bundes zu. 

Die kürzeren Hauptbünde von a haben lebhaftere Bewegung 
in der Abstufung der Hebungen als die von b; diese lieben mehr 
die ausgeglichenen Formen. Umgekehrt bevorzugen die längeren 
Bünde von a die Ausgleichung; die von b zeigen grosseren 
Wechsel der Hebungsgewichte. 

Jede Reihe zerfällt in 2 Hauptbünde. Das kürzere geht 
fast immer voran. 

Die Gruppierungen 3 -|- 1 und 3 + 2 überwiegen in. den kurzen 
Vorderbünden durchweg, weil es zum Stil des Gedichtes gehört, 
im Versinnern möglichst Hebung und folgende Senkung zu binden. 
Die Nebenhebungen dieser zweigliedrigen Hauptbünde sind öfter 
schwer als leicht: offenbar um dem langen Hauptbunde möglichst 
das Gegengewicht halten zu können. Bei der Anordnung der 
Hebungsgewichte wird weder a noch ß bevorzugt; y ist stark 
vertreten : also hier Streben nach Ausgleichung und Fülle, offenbar 
aus gleicher Absicht. 

Diesen i. A. sehr vollen kurzen Hauptbünden stehen ent- 
sprechend gegenüber die längeren dreigliedrigen. Die rhythmische 
Entsprechung ist natürlich nicht genau, weil eben ein zweihebiges 
und drei- (eigentl. vier-) hebiges Stück nicht völlig korrespondieren 
können. Doch sieht man das Bestreben der Gewichtsausgleichung 
in der Bildung der zweigliedrigen Nebenbünde: deren Neben- 
hebungen sind vorzugsweise leicht, während die der zweigliedrigen 
Hauptbünde vorzugsweise schwer sind. Ebenso in dem Zurück- 
treten der g (8 Mal); die y im kurzen Hauptbund 24 Mal! Es 
herrscht also im langen Teil mehr Abwechselung und Bewegung : 
er ist i. A. weniger voll. 

In der Gliederung nach Nebenbünden bevorzugen die drei- 
gliedrigen Bünde Formen, in denen möglichst Gleichgewicht 
herrscht (z.B. 3 + 4. 4 + 3, 3 + 3; Sa. 52 gegen 47 der Art 
5 + 2, 4 + 2 u. a.). 

Ferner meiden sie geradezu abfallende Schwere der Hebungen: 
Typ. e und d x (-LI) fehlen ganz; a 1 , das wesentlich fällt, ist 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«. 



nur 1 Mal vertreten. Sie bevorzugen eine Bewegung, bei der 
die schwerste Hebung in der Mitte des Bundes liegt (c, c? 2 ; Sa. 
50) oder eine hinsichtlich des Fallens oder Steigens indifferente 
Form wie a 3 , d 3 , g (Sa. 39). Mehr ansteigende Typen sind in 
der Minderzahl (a 2 , /; Sa. 22). 

Auch diese Hebungsverteilung drückt das Bestreben aus, 
so weit als es möglich ist die Massen auszugleichen, um eine 
wohlgefällige Entsprechung herzustellen. 

Noch deutlicher kommt das Bestreben nach Entsprechung 
zu Tage, wenn man die Nebenbünde, aus denen das lange Haupt- 
bund besteht, für sich betrachtet. 

Die Gliederung der zweigliedrigen Nebenbünde ist über- 
wiegend eine solche, dafs sich die Silbenzahl möglichst gleich 
verteilt: 2 + 2 herrscht vor (35 Mal), dazu 3 + 2 und 2 + 1. 
Sa. 79 gegen 20 andere Formen. Die Hebungstypen sind meist 
aufsteigend (ß), im Interesse der Bewegung des Hauptbundes. 

Man darf also zusammenfassend sagen : der Sechser, der im 
reinen orchestischen Rhythmus streng nach der Proportion 
4:8 = 1:2 gebaut ist 

t t . t t t t 

, 

wird hier im Sinne genauerer rhythmischer Entsprechung aus- 
gestaltet, ohne dafs eine absolute Gleichmäfsigkeit erreicht werden 
kann. Sie soll es aber auch nicht. Denn Mannigfaltigkeit ist 
ein Erfordernis rhythmischer Wohlgefälligkeit. 

§ 10. Das Gesätz. 

Je zwei Ketten vereinigen sich zum Gesätz. Deren giebt 
es also im Gedicht 28. Jede Strophe besteht aus zwei. Die 
Gesätze werden durch den Sinn deutlich getrennt: hinter dem 
vierten Verse jeder Strophe ist starke Interpunktion. Wo sie 
nicht steht, wie V. 92 oder 108, ist dennoch ein bedeutsamer 
Ruhepunkt vorhanden, der besser durch starke Interpunktion 
markiert wäre. Nur einmal, V. 60, steht echte schwache Inter- 
punktion. Darüber siehe § 15. 

$ 11. Die Strophe. 

Zwei Gesätze bilden eine Strophe. Deren giebt es 14. Sie 
sind dem Sinne nach und auch rhythmisch wohl von einauder 
geschieden. 

15 



Digitized by Google 



226 



Franz Saran 



§ 12. Die Einschnitte. 

Es ist bisher nur die rhythmische Beschaffenheit der 
Elemente (Silben) und ihrer Verbindungen zu Gruppen immer 
höherer Ordnungen besprochen worden. Es ist gezeigt, wie alle 
diese Teile der Rhythmopöie sozusagen innerlich, durch Verteilung 
der Silben, durch Abstufung der Hebungsschwere u. a., gebaut 
sind. Aber diese Teile schlief sen sich nicht nur in sich zusammen. 
Sie schlief sen sich auch von den Teilen, denen sie in derselben 
Ordnung entsprechen, ab. Zwischen Strophe und Strophe, Gesät z 
und Gesätz, Kette und Kette. Vorderreihe und Hinterreihe, Haupt- 
bund und Hauptbund, Nebenbund und Nebenbund, Glied und 
Glied, Silbe und Silbe liegen Grenzen, Einschnitte. 1 ) Auch diese 
sind für den Gesamteindruck von höchster Bedeutung. Die Lehre 
von den Einschnitten ist ein wichtiges Kapitel der Verslehre. 

Wie die rhythmischen Stücke, die sie begrenzen, sind auch 
die Einschnitte nicht von gleicher Funktion: sie stufen sich in 
denselben Ordnungen ab, wie die Teile der Rhythmopöie. Die 
Naht scheidet Silben, das Gelenk Glieder, die Binnenfuge 
Nebenbünde, die Fuge Hauptbünde, die Lanke Vorder- und 
Hinterreihe, die Kehre Ketten, der Absatz Gesätze, der 
Strophenschi ufs Strophen. Streng genommen giebt es also 
in der Zueignung Einschnitte in acht Ordnungen übereinander. 

Die Einschnitte zerfallen in drei Klassen, je nach der 
"Wirkung, die sie normaler Weise auf das Ohr des naiven — 
nicht analysierenden ! — Hörers machen. 1. Solche, denen es 
wesentlich ist, bemerkt zu werden, deren deutliche Ausprägung 
auch der blofs Geniefsende verlangt Es sind Lanke, Kehre und 
alle andern der höheren Ordnungen; 2. Einschnitte, denen 
es wesentlich ist, unbemerkt zu bleiben, weil eine deutliche 
Ausprägung die Rhythmopöie zerhacken würde: Binnenfuge, 
Gelenk, Naht. 3. Die Fuge, die je nach Versart und -stil bemerkt 
wird oder nicht. Bemerkt mufs sie i. A. werden in Versen von 
fünf und sechs Hebungen, kann sie werden im Vierer und Dreier 
stark bundmäfsiger Bauart. 

Es ist wichtig, die Wirkungen einer Rhythmopöie auf den 
naiven Hörer und den analysierenden Rhythmiker zu unterscheiden. 
Denn beim Analysieren, besonders bei fortschreitender Übung 
bemerkt man unendlich viel mehr als beim schlichten Zuhören. 

>) Rhythmik § 20. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



227 



Der naive Hörer und Ungeübte ist andererseits immer geneigt^ 
das was der geschulte Rhythmiker bemerkt, für nicht vorhanden 
oder unwesentlich zu erklären. 

Normaler Weise ist jeder Einschnitt höherer Ordnung schärfer 
als sämtliche der niederen Ordnungen. Vgl. Rhythm. § 20. 

Diese Rangordnung der Einschnitte wird in der Zueignung 
i. A. sehr gut gewahrt. 

Auch äufserlich macht sich dies Verhältnis bemerkbar. 
Am Strophenschlufs verlangt der Sinn lange zu pausieren. Der 
Absatz hat l, 1 ) dazu * und sehr bedeutenden Sinneseinschnitt, 
mit einer Ausnahme. Die Kehre meist % * und minder starken 

Sinneseinschnitt. Die Lanke 1_ nebst * oder a t seltener 

nur 1_: es fällt die hemmende Überdehnung weg. Auf 

der Fuge fehlt die rhythmische Pause, oft merklicher Sinnes- 
einschnitt. Doch steht immerhin sehr häufig Interpunktion da- 
selbst. Der Binnenfuge fehlt dann auch die Interpunktion, mit 
Ausnahme von V. 57 und 65. 

Man beachte wohl, dafs die Einschnitte der Rhythmopöie 
durchaus nicht immer Pausen sind. Allerdings ist die Pause, 
tote sowohl wie rhythmische,-) das beste Mittel Ende und Anfang 
entsprechender Teile auseinanderzuhalten. Die Einschnitte der 
höheren Ordnungen, besonders von der Lanke an aufwärts, haben 
sie meist deutlich ausgeprägt. Aber nicht immer — auch in den 
höheren Ordnungen nicht immer — wird eine rhythmische Grenze 
durch ein Aufhören der Artikulation oder auch nur eine deutliche 
Schallpause bezeichnet. Läfst man einen Flötenton rhythmisch 
schwellen und abschwellen, so giebt es nirgends eine Pause. 
Und doch gliedert sich das Ganze in Hebung und Senkung: wir 
empfinden hinter den Senkungen Einschnitte in der Rhythmo- 
pöie, wenn diese auch nicht völlig durchgeschnitten wird. Dem 
Eindruck der Gliederung in Hebung und Senkung, d. h. in zwei- 
teilige Glieder, geht die Empfindung der Grenze (Gelenk) ohne 
weiteres parallel: Stärkeabstufung ist hier der Faktor, der die 
Grenze macht. 

Vermeidet man Stärkeabstufung und bläst zwei verschiedene 
Töne in gleichem Wechsel, so ist Wechsel der Tonhöhe der für 
die Grenzen bestimmende Faktor; stuft man die Töne gleichzeitig 
durch Stärke ab: Stärke und Tonhöhe u. s. w. 



i) Autor V. 57 ff., 65 ff. 
") Ehythinik § 25. 



15* 



228 



Franz Saran 



Die Faktoren, die den Eindruck des Einschnitts erwecken f 
sind also neben dem der Pause noch sehr viele andere, eben- 
dieselben, die ich Rhythmik § 9 aufgezählt habe. 

Unter Einschnitt verstehe ich also eine mehr oder minder 
fest bestimmbare Stelle in der Rhythmopöie, die als Grenze 
zwischen entsprechenden Teilen derselben empfunden wird. Der 
Eindruck eines Einschnitts wird nicht allein durch Pause, sondern 
auch durch sehr mannigfaltiges Zusammenwirken der andern 
rhythmischen Faktoren erzeugt. 

Daraus folgt, dafs ein Einschnitt fürs Ohr vorhanden sein 
kann, wenn auch der Text vom Standpunkt des grammatischen 
Accents und der Syntax oder für das Auge keinen bietet. Eine 
Wendung der Melodie verbunden mit einer kleinen schattierenden 
Dehnung, einem leichten Staccato oder Portato genügt, die Grenze 
anzudeuten. Ja es kann der subjektive Faktor den Ausschlag 
geben, wenn der Hörer durch häufige entschiedene Grenze daran 
gewöhnt ist, nun auch im nächsten Vers an derselben Stelle eine 
solche zu erwarten. 

Es folgt weiter, dafs die Einschnitte gleichen Grades sehr 
verschieden tief und breit sein können. Tote oder rhythmische 
Pause wird ihre Stelle am unzweideutigsten angeben und ihre 
Wirkung am fühlbarsten machen: andere Faktoren lassen sie 
minder klar heraustreten, je weniger zusammenwirken oder je 
mehr von ihnen im entgegengesetzten Sinne arbeiten. 

Aus dieser Auffassung der Einschnitte als Einschnitte im 
Gesamteindruck einer Rhythmopöie, nicht allein als Einschnitte 
im Worttext folgt endlich, dafs man den herkömmlichen Namen 
'Cäsur' vermeiden mufs. Denn im Begriff 'Cäsur' liegt immer 
der eines Wortschlusses, einer accentuellen oder syntaktischen 
Pause. Der Begriff, aus der antiken Metrik stammend, ist nicht 
rein rli3ihmisch und fürs Ohr, sondern auch grammatisch und 
fürs Auge. Er ist gefunden am gesehenen Vers (ot^oc, versus). 
Aufserdem ist er rhythmisch mehrdeutig. Denn der Einschnitt 
in der Mitte des Alexandriners, Hexameters und Pentameters 
wird ebenso Cäsur benannt, wie der hinter dem zweiten Gliede 
des ' f ünff üfsigen Jambus' oder jambischen Trimeters. Rhythmisch 
ist er dort aber eine Lanke und scheidet Reihen, hier eine Fuge 
und scheidet Hauptbünde. Man hat beide Arten des rhythmischen 
Einschnittes in dem Begriff 'Cäsur' zusammengefafst, weil her- 
kömmlicher Weise Alexandriner, Hexameter, Pentameter, fünf- 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung 1 Goethes. 



229 



füfsiger Jambus und Trimeter einen orixog, versus d. h. eine 
Textzeile ausfüllen. Es ist aber die erste Pflicht des Rhyth- 
mikers, sich vom Gesichtsbild seiner Rhythmen frei zu machen 
und allein nach dem Kind ruck aufs Gehör zu entscheiden. 

Die Einschnitte derselben Ordnung können — unbeschadet 
ihrer Stellung in der Rangordnung der Einschnitte überhaupt — 
verschieden stark sein, sie können die Teile der Rhythmopöie, 
zwischen denen sie sich befinden, mehr oder weniger deutlich 
von einander sondern. Dadurch entsteht ein neuer Unterschied 
der rhythmischen Gruppen in der nächst höheren Ordnung. Solche 
Gruppen können durch ihren Einschnitt 'eng' oder 'weit' sein. 

Zwischen den Elementen der Rhythmopöie, in unserem Falle 
den Silben, liegen 'Nähte'. Dieselben werden vom naiven Hörer 
nicht bemerkt, weil die Silben im Gliede eng aneinander hängen: 
z. B. sei-ne 1, tim-finy 2, er-hoh-sich 7. Unterschiede der Nähte 
fallen deshalb gewöhnlicher weise nicht auf. Bei genauerer 
Prüfung sind jedoch die normalen Nähte nicht alle gleich 
schwach. So gehören Silben wie Sec-le, jc-detn näher zusammen 
als etwa bei -einem 5 oder mit- frischer 4. Immerhin können 
diese Unterschiede vernachlässigt werden. Glieder mit solch 
undeutlichen Nähten heifsen 'eng'. 

Sind dagegen eine oder beide Nähte im Glied sehr merklich, 
spürt der Beobachter ihre Wirkung als etwas besonderes, so 
lockert sich natürlich das Glied; es wird 'weit'. Eine oder beide 
Senkungen bekunden dann die Neigung, sich von der be- 
herrschenden Hebung loszulösen, eine Sonderstellung einzunehmen, 
ohne doch wirklich ans dem Verbände des Gliedes herauszutreten. 
Die betr. Senkungen sind in solchen Fällen sehr schwer, lang 
oder voll ; manchmal werden sie durch syntaktischen Bruch mehr 
selbständig. Besonders wirkt in dieser Weise auflösend die sogen, 
'schwebende Betonung'. Während z.B. sie sprach 57 ein 
enges Glied ist, empfindet der Rhythmiker sprach sie 33 als weit. 
Die Schwere und Länge von sprach verbunden mit der relativen 
Leichtigkeit und Kürze des sie löst die Phrase: beide Silben 
nähern sich rhythmischer Gleichwertigkeit, die Naht dazwischen 
tritt dem Rhythmiker klarer heraus. 

Solche Fälle finden sich nun vorzugsweise am Anfang der 
Reihen und Hauptbünde, den Einsatz kräftiger zu machen und 
andererseits die normale Bindung von Hebung und Senkung vor- 
zubereiten. Der naive Hörer spürt nur diese Wirkung. Das 



Digitized by Google 



230 



Franz Sarau 



Glied _ .1- ist beliebt. Im Versanfang z. B.: bald 15 25, 
denn 28, rfem 56, ici'c 63, kaum 59 60, /o^ 52; noch weiter: 
kein 31, wie 21 58, rf« 47, hier 19 20, <Z?cä 49; sa/» 39. Im 
Anfang des zweiten Hauptbundes: nur 55, scAon 61, wird 103, 
nocA 112, war 23. Weiter: wmcä 8, zog 9, rote/» 11, tri'W 48, 
leb" 64, saÄ 31 73, mit-(leidger) 74, ftann 93. Andere Fälle sind 

seltener _ der Tag wird 104. _ L sucht' ich 71, sprach 

sie 33. L\L t-oK 6, Nach- sieht 74. JiTjl tenns* du 
»ucÄ 33.') 

Fälle, in denen die Naht auch vom naiven Hörer als solche 
bemerkt wird, oder Fälle, in denen durch sie eine Senkung vom 
Gliede wirklich losgelöst wird und dem Reste ihres Gliedes selb- 
ständig gegenübertritt, werden unten besprochen. Dabei handelt 
es sich um 'Trennung' (§ 13) oder 'Brechung' (§ 15). 

Beispiele für Nebenbünde. 

Eng z. B. - _ 1 _ seine Tritte 1 , mit Entzücken 7 ; weit : 
offen haben 66, zeigen soll 72, ein- geschlossen 16. Weit sind 
die, welche schwere Nebenhebung haben. Sie sind etwas in der 
Minderzahl vgl. oben S. 212. 

Hauptbünde. 

1. Weit: doppelt schön 22, der Morgen kam, 1. der junge 
Tag 7. Eng: soll ich umsonst 66, wenn ich ihn nicht 72, auch 
ich kenne dich 89. Die weiten sind in der Überzahl. VgL 
S. 213. — 2. Weit: eine Klarheit sehn 18, lebt in meinem Blut 
67. Die dreigliedrigen sind fast alle weit Vgl. S. 213. 

Reihen. 2 ) 

Eng: 10 15 47 61 75 93 103; 17 21 27 79 87; 26 99 101 
102 106 ; 7 13 20 22 23 30 31 38 39 44 46 48 51 52 55 56 59 
60 63 67 74 78 94. Sa. 40. 

Weit: 4 8 11 12 16 25 36 40 58 66 68 80 81 82 88 98 
107 109 112; 12 3 6 9 24 32 33 35 37 41 42 43 49 50 53 54 

*) Im Innern der Reihen oder Bünde dienen solche Senkungen dazu, die 
Gliederung weniger scharf hervortreten zu lassen. Man weil« oft nicht, ob 
sie mehr nach rückwärts oder vorwärts zu beziehen seien. Sie haben den 
Charakter von ' C'hergangsseukungen '. Rh. § U (S. 11(5). 

a ) Es kommen nur 94 in Betracht. Vgl. unten § 13 und § 15. 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



IM 



64 65 73 76 77 83 84 86 89 91 92 95 96 104 105 108 110 111. 
Sa. 54. 

Enge und Weite hält sich die Wage, wenn man die hier 
ausgeschlossenen Verse mit in Rechnung zieht. Hier wird der 
Unterschied auch vom naiven Hörer bemerkt. 

Ketten. 

Weit sind die Ketten, in denen die Lanke eine volle 
rhythmische Pause enthält, also . . . , 1 „ * oder ... „ L a . Eng 
diejenigen, wo überhaupt keine rhythmische Pause vorhanden ist, 
sondern sich an das _1_ des Schlusses der Vorderreihe die 
Hinterreihe unmittelbar anhängt; im Ganzen 15 Fälle. Vgl. oben 
S. 215. Die Fälle mit _L_ ,-, vor der Lanke stehen in der 
Mitte. Den Fall V. 57 mit _ L (ohne Pause) ziehe ich wegen 
der Überdehnung zu den weiten Ketten. Weite herrscht also 
bei den Ketten vor. 

Gesätze 

sind nur weit, weil überall mindestens ^ in den Kehren steht. 
Meist dazu L und starker Sinneseinschnitt. 

Strophen 

sind weit, weil die Absätze überall ä, dazu vorher meist L 
und starken Sinnesschlufs haben. Über den Fall V. 60 vgl. § 15. 

Im allgemeinen sind also in dem Gedicht die rhythmischen 
Einschnitte aller Ordnungen, die erste ausgenommen, weit: alle 
Gruppen des Gedichtes, sogar die Glieder, sondern sich für den 
prüfenden Beobachter deutlich. Dadurch bekommt das Ganze 
auch mit die ruhige, strenge Bewegung, den ebenen Gang. 

§ 13. Ter Schleifung (Einschnitts verdeckung) und 
Trennung (Einschnittsvertiefung). 

Nach § 12 bemerkt zwar der analysierende Rhythmiker 
alle Einschnitte einer Rhythmopöie, nicht aber der unbefangene 
Hörer. Im allgemeinen bleiben diesem Naht, Gelenk und Binnen- 
fuge verborgen, offenbaren sich nur Lanke, Kehre und die höheren 
Ordnungen. Je nach Umständen auch die Fuge. 

Nun kann der Dichter besondere Wirkungen hervorbringen 
dadurch, dafs er die für gewöhnlich merklichen Einschnitte 



232 



Franz Saran 



verdeckt, sodafs sie unmerklich werden oder dadurch, dafs er für 
gewöhnlich unmerkliche Einschnitte dem naiven Hörer merklich 
macht. Im ersten Falle findet Verdeckung der Einschnitte, 
dabei natürlich eine Verschleif ung, d.h. enge Verbindung der 
sonst getrennten rhythmischen Gruppen statt. Im andern Ver- 
tiefung der Einschnitte, und zugleich Trennung des für ge- 
wöhnlich eng verbundenen. 1 ) 

In der 'Zueignung' gehört auch die Fuge zu den merk- 
lichen Einschnitten. Verdeckung kann also schon bei ihr statt- 
finden. Sie findet sich tatsächlich nur bei ihr. Vertiefung bei 
Binuenfuge, Gelenk und Naht blofs in wenigen Fällen. 

Bundverschleifung (Fugenverdeckung) ist selten; die 
Grenze zwischen enger Bindung und Verschleifung ist nicht 
immer scharf zu ziehen, weil Wortschlufs und damit ein kleiner 
Einschnitt so gut wie immer an der Grenzstelle vorhanden ist. 
Folgende Fälle nehme ich an: 14 deckte (;) mir, 28 schien (;) zu, 
34 Lieb'{\) und, 70 will(\) das, 12nicht{;) den, 85 J:onnt'(;) im, 100 
Blumen- (;) Würzgeruch. Dazu 18 19 29 45 57 62 69 71 97, die 
unten § 15 noch besprochen werden sollen. 

Ganz evident ist der Fall V. 100, wo das Kompositum die 
Fuge überbrückt. In allen diesen Versen geht die rhythmische 
Bewegung ungehemmt vorwärts: man empfindet die Zeilen als 
' cäsurlos '. 

Andere Arten der Verschleifung kommen nicht vor. Die 
rhythmischen Grenzen sind im allgemeinen sehr deutlich. 

Noch seltener ist Vertiefung. Sie würde, häufig ver- 
wendet, den Vers zerhacken. Angemessen ist sie überhaupt 
weniger dem lyrischen als dramatischen Stil. 

Gelenkvertiefung: 3 dafs ich, erwacht, 105 so kommt 
denn, freunde. 

Vertiefung der Binnenfuge: 37 an die zu ewgem 
Bunde, 97 Freunden schwüle, 65 verzeih' mir, rief ich aus. 

Andere Fälle gehören nur zum Teil hierher und werden 
§ 15 behandelt, nämlich die Fälle von Vertiefung der Naht: 
41 Ja!, 42 lang', 53 Ach!; des Gelenks: 18 Nebel, 19 er, 29 
schwebte, 45 mir, 62 versäumst, 69 andre, 90 weifs; der Binnen- 
fuge: 57 sprach, 71 weg. 

') In der Rh. ist sie fälschlich mit Brechung zusammen behandelt (§ 30). 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der ; Zueignung 1 Goethes. 



233 



§ 14. Zusammenziehnng. 
Punktierung. Rhythmische Pause. 

Zusammenziehung, d. h. Ausfall der Senknngssilbe und 
Übertragung ihrer Dauer auf die vorausgehende Hebung (Symbol 
1 = -!_"L) findet sich in der Zueignung lediglich am Schlufs, meist 
zur Markierung der Kettenschlüsse, zur Verschärfung der Kehren. 
Nur V. 57 59 61 65 67 69 71 braucht sie der Dichter vor der 
Lanke, d. h. am Reihenschlufs. 

Punktierung, d. h. Verkürzung einer Senkung und Über- 
tragung der Zeit auf die vorausgehende Hebung (Symbol L^L) 
hat des öftern statt, wenn die sehr kurzen und schwachen Vor- 
silben be- und ge- in Senkung stehen. Ge-: 16 24 42 44 46 55 
61 76 77 93 95 100 101; be-: 92; auch he-(ran) 78; zu- 17 19 
21 25. Sa.: 19 Mal. 

Rhythmische Pause, d.h. eine Pause, die an Stelle 
eines rhythmischen Wertes steht, findet sich fast tiberall am 
Schlufs der Reihen. Meist ist sie = - , d. h. gleich der Zeit 
einer vollen Hebung, selten — a. Vgl. oben § 8. 

§ 15. Brechung. 

Die Nachwirkung des orchestischen Rhythmus in der Form 
der Zueignung tut sich u. a. auch darin kund, dafs die alte 
orchestische Regel über das Rangverhältnis der Einschnitte sehr 
streng eingehalten wird. Strophenschlufs ist deutlicher als der 
Absatz, dieser als die Kehre, diese als die Lanke, diese als die 
Fuge, diese als die Binnenfuge, diese als das Gelenk, dieses als 
die Naht, Dadurch wird eine sehr klare systematische Gliederung 
des Ganzen gewährleistet, Die rhythmischen Abschnitte der 
gleichen Ordnung entsprechen einander sehr deutlich und da- 
durch bekommt das Gedicht grofses Ebenmafs, grofse Ruhe. 

Gelegentlich wird nun aber das Ebenmafs unterbrochen, 
die Ruhe etwas gestört, offenbar um die innere Erregung und 
Bewegung gewisser Stellen auszudrücken. Das geschieht durch 
'Brechung' der rhythmischen Gruppen oder, was dasselbe be- 
deutet, Umkelirung des normalen Rangverhältnisses von Ein- 
schnitten. 

Wenn z. B. in einer Kette die Lanke deutlicher ist als die 
Fuge, dann stehen sich Vorder- und Hinterreihe wohl abgegrenzt 



Digitized by Google 



234 Franz Sarau 

gegenüber. Wird aber die Fuge der Vorderreihe tiefer als die 
Lanke, so zerfällt die Vorderreihe, sie wird ' gebrochen': ihr 
zweites Bund schliefst sich mehr an die Hinterreihe an und 
die genaue Entsprechung in der Ordnung der Reihen wird ver- 
dunkelt. Also im Schema: 



und 



— j - 

- 1 



i t i 
i i > 



* i 

_ * : 



Brechung kann in allen Ordnungen der Rhythmopöie vor- 
kommen: von den Metrikern ist sie in vollem Umfang noch nicht 
gewürdigt. Brechung der Ketten, d. h. Vertiefung der Lanke 
auf Kosten der Kehre, war im Mittelalter schon den höfischen 
Romaudiehtern bekannt: sie nannten die Technik rime brechen, 
d. h. Auseinanderreif sen der Reim verspaare. Die französische 
Verslehre hat den Ausdruck Enjambement geprägt, begreift aber 
darunter verschiedene Arten des Vorgangs. 

Die Wirkung der Brechung wird unterstützt, wenn der 
Einschnitt, über welchen sich der abnorm vertiefte im Range 
erhebt, 'verdeckt' wird (nach § 13). 'Brechung' und 'Ver- 
schleifung' gehen gern Hand in Hand. 

Folgende Fälle der Brechung enthält die Zueignung: 

1. des Gliedes. 

41 Ja! | rief ich aus, \- - L. Hier ist die Gliednaht 
hinter Ja! nicht blofs vertieft (nach § 13), sondern so tief und 
breit dafs das Ja ! von dem dreisilbigen Gliede völlig losgerissen 
wird. Aufserdem ist das Gelenk hinter ich weniger deutlich als 
die Naht hinter Ja!. Ja! steht dem übrigen Teil des Bundes 

selbständig gegenüber; man empfindet Ja! \ rief ich aus. Die 
normale Rangordnung Gelenk > Naht ist in die sekundäre 
Gelenk < Naht verkehrt, das Anfangsglied ist gebrochen. 

Ähnlich V.42 lang' \ hob ich dich — | JL_ 1, 53 Ach, | 
da ich irrte. 

2. des Bundes. 

18 im Nebel | liefs sich (;) eine Klarheit sehn. Die Fuge 
hinter sich ist minder deutlich als das vertiefte Gelenk hinter 
Nebel, weil sie verdeckt ist. Ebenso 19 hier sank er \ leise (;) 
sich hinab -cm schwingen, 20 da schwebte \ mit den (0 Wolken 
hergetragen, 45 du hast mir \ wie mit (;) himmlischem Gefieder, 



Digitized by Google 



I 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 235 

62 versäumst \ die Pflicht (0 des Mannes zu erfüllen. 09 für 
andre \ wäcJist in (;) mir das edle Gut. 

Brechung des langen Hauptbundes ohne Verdeckung der 
Fuge: 57 sie lächelte,; sie sprach: \ du siehst, wicMug. Hier ist 
die vertiefte Binnenfuge tiefer als die Fuge. Dasselbe im 
kurzen Hauptbund ich weifs | was Gutes 90. Mit Verdeckung 
der Fuge 71 warum sucht' ich (;) den Weg \ so sehnsuchtsvoll. 

In den Fällen der Bundbrechung wird die Fuge zwischen 
zweiter und dritter Hebung nur verdeckt, nicht aufgehoben. 
Z. B. wird das liefs sich, leise u. a. schattierend gedehnt und 
beschwert ; aufserdem charakterisiert es der absteigende Gleit t on 
als Ende des Vorderbundes. Durch diese Faktoren wird die 
auflösende Wirkung der Brechung bis zu einem gewissen Grade 
gehemmt und verhindert, dafs der Hörer die durch | angedeuteten 
Bruchstellen als Fugen (' Hauptcäsuren ' der Verse) statt als 
Binnenfugen empfindet. 

Freilich kann in historischer Entwicklung oft der Fall ein- 
treten, dafs die ursprünglich blofs verdeckte Fuge für das Ohr 
ganz w r egfällt. Dann wird jene Bruchstelle wirklich Fuge; der 
Vers bekommt eine neue, historisch sekundäre 'Cäsur'. 

Hierher gehören alle die Verse des Gedichtes, in denen der 
lange Teil voransteht, das Vorderbund ausmacht. Vgl. oben § 8, 
S. 219. Diese sekundären Fugen sind dadurch zu erklären, dafs 
die alte orchestische Teilung des Sechsers in 

, ^_ 

unter dem Einflufs des eindringenden sprachlichen Rhythmus 
verändert wird und allmählich einer andern weicht. Dadurch 
bekommt der Sprechvers natürlich gröfsere Abwechselung. Man 
mufs deshalb zwischen primären und sekundären Fugen (ent- 
sprechend auch Lanken) 1 ) unterscheiden. 

3. der Reihe. 

Vorderreihe: 1 Der Morgen kam; \ es scheuchten seine 
Tritte den leism Schlaf. 
Lanke < Fuge. Die Lanke ist hier abgeschwächt durch den 
übergehenden Schlufs Ebenso V. 9 33 35 37 41 43 49 

73 105. Kombiniert mit Brechung des langen Hauptbuudes 

') Eine solche ist wohl die Hephthemimeres des antiken Hexameters. 
Oder liegt dabei doch nur Brechung der Hiuterreihe nebst Verdeckung der 
Lanke (' Hauptcäsur ') vor? 



2ao 



Franz Saran 



57 Sie lächelte, sie sprach: | du siehst, wie klug, 

wie nötig wars . . . 
Man beachte, dafs hinter klug {L) die Pause fehlt, die Lanke 
also sehr reduciert ist. 

Hinterreihe: sie wird nur 1 Mal gebrochen: 

98 Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle 

am Mittag wird, \ so wirf ihn in die Luft. 

4. der Kette. 

Hierher vielleicht V. 91/92. Denn V. 91 hängt wohl mehr 
mit 90 als 92 zusammen. 

5. des Gesätzes. 

Nur Gesätz V. 01 — 04. Der Absatz hinter Vers 00 ist 
weniger scharf als die Kehre hinter V. 02. Infolgedessen schliefst 
sich der erste Teil des Gesätzes mehr an V. 57— 00 an, Gesätz 
2 wird also gebrochen. 

§ 16. Schwebende Betonung. 

Man kann den Ehythmus jedes Gedichtes als einen Kom- 
promifs zwischen Metrum und Prosarhythmus auffassen. Das 
Metrum, für die Poesie etwa dasselbe, wie der Takt für die 
Melodie, Ist unverbrüchlich und darf nicht dem Accent zuliebe 
umgebogen werden. Vgl. darüber die ausführlichen Erörterungen 
im Eh. d. frz. Vers. § 14, Litbl. 1902, S. 258 f. 

Sogenannte Widersprüche zwischen Accent und Metrum, 
genauer zwischen dem grammatischen Accent und Metrum, sind 
deshalb nie durch Veränderung des Metrums zu beseitigen. Im 
Gegenteil. Sie erklären sich, wenn man bedenkt, dafs jedes 
Gedicht seinen ethischen Accent hat, der von dem grammatischen 
nicht selten abweicht') und sich oft gerade im Widerspruch zu 
ihm offenbart, Widersprüche zwischen (grammatischem) Accent 
und Metrum sind also keine Härten oder gar Fehler, sondern 
vielmehr Hinweise des Dichters auf ein besonderes Ethos der 



') Rh. § 20 und Litbl. brauche ich die Ausdrücke ' reiner ' und ' per- 
sönlicher' Accent. Ich wähle jetzt die Formel 'grammatisch -ethisch' (von 
weil sie mir noch treffender scheint. Pen Begriff 'persönlich' spare 
ich auf znr Bezeichnung eines andern Gegensatzes, der sich im Sprachaccent 
offenbart uud deu ich bisher mit dem andern 'grammatisch-ethisch' fälschlich 
vermengt habe. Vgl. ßhvthni. d. frz. Vers. § 14. 



Digitized by Google 



Melodik and Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



237 



betreffenden Stelle, Winke für den richtigen Vortrag. Man nennt 
den Vortrag solcher Stellen 'schwebende Betonung'. 

Auch in der Zueignung finden sich solche Fälle: 8 mich 
zu erquicken, 33 kennst du mich nicht? ebd. sprach sie, 39 Sah 
ich dich nicht, 41 Ja! rief ich aus, 42 lang' hdb' ich dich 
gefühlt, 53 Ach, da ich irrte, 64 leb' mit, 71 sucht' ich, 74 
mitleidger. Es sind sichtlich alles Stellen, wo sich die Stimmung 
oder der Affekt verstärkt und den gleichmäfsigen Flufs der 
Rede bewegter macht. Vgl. oben S. 202 f. Nur V. 8 dient die 
Drückung des mich dazu, einen Gegensatz anzudeuten. 

Wird eine accentuelle Hebung in die metrische Senkung 
gedrückt, dann wird diese natürlich sehr schwer, lang und voll 
und droht gelegentlich die benachbarte Hebung zu übersteigen. 
Sie unterbricht dadurch den gleichmäfsigen Flufs der Hebungen 
und Senkungen, erzeugt eine Hemmung. 

Infolgedessen ist natürlich diese 'schwebende Betonung' 
ein vortreffliches Mittel, charakteristische Stellen der Rhythmo- 
pöie anzuzeigen. Sie findet sich in der Zueignung denn auch 
immer im Anfang der Reihen oder des zweiten Hauptbundes, 
deren Einsätze voller zu machen und die vorausgehenden Ein- 
schnitte zu unterstützen. 



Nachtrag zu § 1 und 3. 

Auf ein wertvolles Zeugnis über Goethes Art zu rezitieren 
werde ich von befreundeter Seite aufmerksam gemacht. 

Es findet sich bei Ewald, Fantasien auf einer Reise u. s. w. 
Hannover 1799, S. 165. Abgedruckt von Loeper, Anm. zu 
Dichtung und Wahrheit B. XI, Nr. 400. 'Es war fast Goethes 
Deklamation, der mit wenigen, in der Musik sogenannten ganzen 
Tönen ehemals Alles ausdrückte, was er wollte. Diese Art von 
Deklamation hat äufserst kleine Tonintervalle. Der Gang, die 
Melodie, der Übergang in eine andere und der Rückgang in die 
vorige Tonart: Alles ist dieser Deklamation eigen; und nur 
dadurch wird jener einzige Ausdruck möglich, der blofs Ton 
der Wahrheit zu sein scheint und so wenig Aufwand von 
Stimme und Tönen erfordert.' Man vergleiche dazu, was Goethe 



Digitized by Google 



238 



Franz Saran 



über Herders Vortrag DW. B. X. (Loeper S. 195) sagt. 'Seine Art 
zu lesen war ganz eigen; wer ihn predigen gehört hat, wird 
sich davon einen Begriff machen können. Er trug Alles und so 
auch diesen Roman [Landprediger von WakefieldJ ernst und 
schlicht vor; völlig entfernt von aller dramatischen -mimischen 
Darstellung, vermied er sogar jene Mannigfaltigkeit, die bei einem 
epischen Vortrag nicht allein erlaubt ist, sondern wohl gefordert 
wird: eine geringe Abwechslung des Tons, wenn verschiedene 
Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt, heraus- 
gehoben und der Handelnde von dem Erzählenden abgesondert 
wird. Ohne monoton zu sein, Hefa Herder Alles in einem Ton 
hinter einander folgen, eben als wenn nichts gegenwärtig, sondern 
Alles nur historisch wäre, als wenn die Schatten dieser poetischen 
Wesen nicht lebhaft vor ihm wirkten, sondern nur sanft vorüber- 
gleiteten. Doch hatte diese Art des Vortrags aus seinem Munde 
einen unendlichen Reiz ; denn weil er Alles aufs Tiefste empfand 
und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werkes hochzuschätzen 
wufste, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und 
um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene 
Einzelnheiten gestört und aus der Empfindung gerissen wurde, 
welche das Ganze gewähren sollte.' 

Ich füge gleich hinzu den Bericht, den E. 0. Lubarsch, 
über Deklamation und Rhythmus der französichen Verse 1888, 
S. 24 f. über den Vortrag des französischen Dichters Th. de Banville 
und Victor Hugos giebt. ' Der Dichter [Banville] setzte in seinem 
Vortrag alle Verssilben sehr bestimmt und gleichmäfsig von 
einander ab; die Tonsilben [Wortaccente] traten deutlich, doch 
ohne Schärfe, ohne stärkere Satzaccente erkennen zu lassen, 
derart hervor, dafs zwischen ihnen und den unbetonten Silben 
der Rhythmus vernehmlich auf- und abwogte. Oratorische Accente 
kamen gar nicht vor, und überhaupt wirkte der Inhalt des Ge- 
dichtes auf den Ausdruck im Vortrag verhältnismäfsig wenig ein 
[d.h. B. pointierte nicht]. Hinter jedem Verse trat eine 
leichte Pause ein, sodafs das Gedicht [Les Stalactites, in 
Alexandrinern] für das Ohr deutlich in gleich lange Silbenreihen 
zerfiel und die Cäsur machte sich ohne Pause durch die 
in der Versmitte wiederkehrende Betonung bemerkbar, 
ohne dafs deswegen diese Betonung im Vortrag besonders ver- 
stärkt wurde. Durch alles dies erhielt die Bewegung 
des Verses ein einschmeichelndes und musikalisches 



Digitized by Google 



Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 



239 



Element. Die ganze Vortragsweise erfolgte in leiden- 
schaftslosem und langsamem Tempo. So, sagte mir Banville, 
habe auch Victor Hugo gelesen, und sie beide seien darüber 
einig gewesen, dafs es so sein müsse. Es sei dies eigentlich eine 
sehr einfache Weise, Verse zu lesen. Die Schauspieler hätten 
zwar gesagt, Victor Hugo läse schlecht, sie beide aber — und 
hier ging ein feines Lächeln über Banvilles Gesicht — wären der 
Ansicht gewesen, die Schauspieler verständen nichts davon. Man 
müsse nicht so lesen, wie die Schauspieler ; diese läsen nur nach 
dem Sinn und der Interpunktion und vernichteten dadurch den 
Rhythmus. ... Ich hatte den Eindruck, dafs Banvilles und also 
auch Victor Hugos Vortragsweise der französischen Verse den 
denkbar stärksten Gegensatz gegen die Vortragsweise der Prosa 
bildete.' 



Digitized by Google 



Prack von Ehrhardt Karras, Halle a. S. 



Digitized by Google 



V — - - - . , 

\ i 



Digitized by Google 



Wring von Max Niemeyer in Halle a. d. S. 



Borinski. Karl. Balthasar dacian und die Hoflitteratnr in Deutsch- 
land. 1891. 8. Jt 3.60 

Bruinier. Joh. W.. Fau-st vor Goethe. Fnteisiichungen. I. Da? 
Fnirclschc Volkssehauspiel Docfor Johann Faust als Fälschung 
crw iesen. 1891. irr. H, Jl 2,80 

Diede, Charlotte, die Freundin von W. von Humboldt. Lebens- 
beschreibung und Briete. herausgegeben von A. Piderit und 
"D. Hartwig. 1881. kl. 8. Ji 4, — 

Ehrmann. Eugen, Die bardische Lyrik im achtzehnten .lahrliundert. 
181*2. 8. 2.40 

Elster. Ernst, Zur Entstehungsgeschichte des Don Carlos. 1889. 

8. 2. — 

Ettlinger. J.. Christian llnfman von llofiuanswaldau. Hin Beitrag 
zur Literaturgeschichte des XVII. Jahrhunderts. 18Ü1. 8. Jl 2.80 

Forsters. Georg, Briete und Tagebücher von seiner Heise am Nieder- 
rhein. in Kurland und Frankreich im Frühjahr 1 790. Heraus- 
<rt'<ri'heri von Albert Ecit/maun. 1893. 8. Ji 6, — 

Fürst. Rudolf. Die Vorläufer der modernen Novelle im achtzehnten 
Jahrhundert. Fin Beitrag zur vergleichenden Litteraturireschiehte. 
1SÜ7. 8. Ji 6.— 

Gerhard, Ferdinand. ,l»di. Beter de MemeN lustige Gesellschaft 
ii< B>t einer Febersicht über die Schu ank - Eitteratur des 

XVII. Jahrhunderts, lsü.}. s. Ji 2,80 

Langguth. A., Goethe als Pädagog. 1-88-7. 8. Jl 4,—. geb. Jl 5.-- 
— Goethes Pädagogik historisch - kritisch dargestellt. 1886. 8. 

Jl 6,— 

Leitzmann, Alb.. Georg Forster. ein Bild aus dem Geistesleben des 

XVIII. Jahrhunderts. Akademische Antrittsvorlesung, gehalten in 
der Aula der l iiiversitat zu Jena am 27. April 1891. 1893. 
kl. 8. Jl O.60 

Müller -Fraureuth. Carl, Die deutschen Irgend iehtn'ngen bis auf 
Münchhausen dargestellt. 1881. 8. Ji 3, — 

■ — Die Bitter- und Bäuberromane. Bin Beitrag zur Bildungs- 
geschichte des deutschen Volkes. 1 S!»4. 8. Jl 2,60 

Waser. Hedwig. I lrich liegner. Ein schweizer Kultur- und 
Charakterbild. 1901. 8. Jl 8 — 

WechSSler, Eduard, Die Sage vom heiligen Gral in ihrer Ent- 
wicklung bis auf Bichard Wagners Barsifal. 1898. kl. 8. Jl 3, — 

Weissenfels, Richard, Goethe in Sturm und Drang. Bd. I. 1894. 
gr. 8. Jl 10,— 



Driic» v. n Kiirlmrdt Karr»*, lliillu n. d. S. 



Digitized by Google 




Digitized by GooqI